1 Der Vergiftungsunfall
F. Martens
1.1 Notfallsituation
In 5–10% seiner Einsätze muss sich ein Notarzt mit Vergiftungen auseinandersetzen. Überwiegend handelt es sich um Erwachsene, die einen Suizidversuch unternehmen und dazu sedierende Medikamente, oft in Kombination mit Ethanol, oral aufnehmen. Andere Pharmaka, Drogen und chemische Erzeugnisse gehören zu den selteneren Vergiftungsursachen. Nach einer raschen Basisuntersuchung der vitalen Funktionen und etwaigen Erstmaßnahmen erfolgt die sorgfältige Inspektion der Einsatzstelle, eine gründliche Anamnese bzw. Fremdanamnese vor Ort, die körperliche Untersuchung des (entkleideten) Patienten und die Sicherstellung verdächtiger Substanzen (Asservate). Die Therapiemaßnahmen sind an der tatsächlichen bzw. erwarteten Schwere der Vergiftung auszurichten. In der Mehrzahl der Fälle werden die Sicherung der Vitalfunktionen, ggf. durch Intubation, Beatmung sowie durch Gabe von Volumen und/oder kreislaufwirksamen Katecholaminen ausreichend sein.
Nur bei wenigen Giftursachen stehen Antidote zur Verfügung. Deren Gabe ist z.T. mit erheblichen Nebenwirkungen behaftet, so dass sie nur bei entsprechend schweren Vergiftungen und bei hinreichender Sicherheit der Diagnose gegeben werden sollten.
Da die Mehrzahl der Patienten die Giftstoffe schlucken, sind Überlegungen zur primären Giftentfernung aus dem Magen anzustellen. Die Indikation für induziertes Erbrechen oder Magenspülung hat zu Gunsten der Gabe von Medizinalkohle einen Wandel erfahren, der auch in der präklinischen Notfallmedizin umgesetzt werden sollte.
1.2 Art der Giftzufuhr
1.2.1 Giftzufuhr über den Magen-Darm-Kanal
Die Mehrzahl aller Vergifteten schluckt die jeweiligen Giftstoffe. Damit stellt sich die Frage, ob die Entleerung des Magens die Schwere der Vergiftung verringert, oder ob die erforderlichen Maßnahmen den Patienten eher zusätzlich gefährden. Je länger die Gifteinnahme zurückliegt, umso weniger Giftstoff lässt sich aus dem Magen entfernen ▶ [9]. Entsprechende Untersuchungen deuten darauf hin, dass der Nutzen der Magenentleerung später als eine Stunde nach Ingestion nicht mehr nachweisbar ist (▶ [4], ▶ [5], ▶ [6], ▶ [7]). Berücksichtigt man die besonderen präklinischen Bedingungen an der Einsatzstelle (Räumlichkeit, Qualifikation des Personals) wird die Indikation zum induzierten Erbrechen oder zur Magenspülung vor Ort nur noch außerordentlich selten zu stellen sein. Die Gabe großer Dosen von Aktivkohle sollte hingegen bereits an der Einsatzstelle erfolgen, um einer weiteren Giftresorption vorzubeugen (▶ [8], ▶ [10]).
1.2.2 Giftzufuhr über die Haut
Vergiftungen durch dermale Exposition entstehen meist infolge Fahrlässigkeit oder Unachtsamkeit. Lediglich hochlipophile Substanzen können die intakte Haut penetrieren und so eine systemische Vergiftung verursachen (z.B. Alkylphosphate). Verschmutzungen der Haut werden durch Abwaschen mit Wasser und Seife unter Beachtung des Eigenschutzes (Handschuhe) entfernt. Sichtbare Hautschädigungen wie Rötungen oder Blasenbildungen werden anschließend nach den Regeln der chirurgischen Wundversorgung behandelt; am Notfallort genügt die sterile Abdeckung offener Hautwunden.
1.2.3 Giftzufuhr über die Atmung
Patienten, die Gifte eingeatmet haben, werden in saubere Luft verbracht. Danach kann über evtl. spezifische Maßnahmen entschieden werden. Hier ist vor allem zu klären, ob Gase bzw. Dämpfe mit erstickender Wirkung (z.B. CO, Zyanide, Schwefelwasserstoff) oder solche mit lokal schädigenden Effekten am Atemtrakt vom Sofort- oder vom Latenztyp inhaliert wurden. Art und Konzentration inhalierter Noxen sind am Notfallort kaum zu bestimmen; besser ist oft die Dauer der Einwirkung zu eruieren. Während nach Einwirkung volatiler Gifte vom Soforttyp Husten, Atemnot, Bronchospasmus und Schmerzen beim Atmen im Vordergrund stehen, kann sich nach Einatmung von Substanzen mit Latenzwirkung ein toxisches Lungenödem entwickeln. Die dadurch induzierte Lungenfibrose ist später therapeutisch kaum zu beeinflussen. Deshalb kommt der Prophylaxe eine große Bedeutung zu. Inhalativ verabreichte Kortikosteroide haben in unterschiedlichen Untersuchungen Wirkungen in dieser Hinsicht gezeigt; ob neuere Kortikosteroide, die in der Asthmatherapie verwendet werden, länger bekannte Substanzen wie Dexamethasonisonikotinat an Wirkung übertreffen, ist nicht eindeutig geklärt.
1.3 Diagnose der Vergiftung
Bei jedem Patienten mit einer akuten Erkrankung muss auch an eine Vergiftung als Ursache gedacht werden.
Die Gefährdung des Patienten wird von Art und Menge des Giftes, der Dauer der Einwirkung und gleichzeitig vorliegenden Begleiterkrankungen bestimmt. Akute Vergiftungen erfordern rasches, zielgerichtetes Handeln bei der Diagnostik und der adäquaten Therapie.
Es sollte umgehend geklärt werden, ob
der Zustand lebensbedrohlich ist,
das Gift bedrohliche Effekte entfalten kann oder
das Gift vergleichsweise harmlos ist.
Da sich über 80% der Erwachsenen in suizidaler Absicht vergiften und dazu bevorzugt bewusstseinstrübende Stoffe einnehmen, bleibt die Eigenanamnese hinsichtlich Art und Menge des Giftes sowie der Latenz seit dessen Ingestion oft lückenhaft. Durch fremdanamnestische Angaben sollte vor allem bei Bewusstlosen der mutmaßliche Vergiftungszeitpunkt näher eingegrenzt werden (z.B. wann wurde der Patient zuletzt in wachem Zustand gesehen, wer hat mit ihm gesprochen, bestanden Suizidabsichten?). Hilfreich können auch ein Blick in den Briefkasten (aktuelle Zeitung herausgenommen) oder der Zustand der Wohnung (z.B. Bett benutzt, Hinweise auf stattgefundene Mahlzeiten, Eintrocknungszustand von Erbrochenem u.ä.) sein.
Einzelsymptome und Befunde bei der körperlichen Untersuchung von Patienten sind hinsichtlich der Krankheitsursache meist wenig hilfreich. Erst Symptommuster (sog. Syndrome) können wegweisend für die Diagnose einer Vergiftung sein.
Klinisch auffällig ist das cholinerge Syndrom (Erbrechen, Stuhl- und Urinabgang, Bauchschmerzen, verstärkte Bronchialsekretion, Tränen- und Speichelfluss sowie Bradykardie) welches oft durch Organophosphate, aber auch durch einige Pilzspezies verursacht wird. Therapeutisch sollte u.a. Atropin versucht werden.
Ähnlich charakteristisch zeigt sich das anticholinerge Syndrom mit geröteter, trockener, heißer Haut, Tachykardie, weiten Pupillen, Halluzinationen, oft Krampfanfällen und Bewusstseinsveränderungen bis hin zum tiefen Koma. Ursächlich dafür sind Wirkstoffe wie Atropin, Skopolamin oder Hyoscyamin aus Pflanzen bzw. TCA und als rezeptfreie Schlafmittel erhältliche Antihistaminika.
Insbesondere bei ungeklärten Fällen und bei lebensbedrohlicher Symptomatik sollte der Nachweis des ursächlichen Giftes durch toxikologisch-chemische Analytik versucht werden. Deshalb sollten frühzeitig Blut, Urin und andere Körperflüssigkeiten entnommen und zusammen mit am Einsatzort gefundenen Behältern suspekten Inhaltes, Erbrochenem oder ggf. Raumluftproben in die Klinik mitgenommen und von dort zur Analyse eingeschickt werden.
Bei exotischen Giftstoffen oder unerwarteten Verläufen kann die telefonische Konsultation einer Giftinformationszentrale (▶ Tab. 1.1) hilfreich sein, da dort oftmals Informationen über die Zusammensetzung von Publikumsprodukten (z.B. Nagellackentferner, Bodenpflegemittel, Waschmittel o.ä.) vorliegen.
Tab. 1.1 Giftinformationszentralen in Deutschland und einigen Nachbarländern (Stand November 2014). Links zu weiteren Giftinformationszentralen aktuell unter
www.eapcct.org.
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