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E-Book

Transithandel

Geld- und Warenströme im globalen Kapitalismus

AutorLea Haller
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl400 Seiten
ISBN9783518762028
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR

Kaffee, Baumwolle, Kautschuk: kaum eine Ware, die nicht quer über die Weltmeere verschifft wird. Treibende Kraft dabei sind nicht die Abnehmer, sondern Zwischenhändler. Lea Haller legt nun erstmals eine detaillierte Geschichte des Transithandels vor, der einen gewaltigen Teil der globalen Wirtschaft ausmacht. Am Beispiel der Schweiz, über die heute ein Fünftel des weltweiten Rohstoffhandels abgewickelt wird, zeigt Haller, wie sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts zentrale Techniken und Institutionen der Globalisierung herausbildeten: von Terminbörsen über internationale Schiedsgerichte bis hin zu Steuerprivilegien für multinationale Konzerne. Das Ergebnis ist nichts Geringeres als eine Geschichte der Entstehung des Weltmarktes.



<p>Lea Haller, geboren 1977, ist Historikerin. Nach Stationen in Zürich, Paris, Cambridge (Harvard) und Genf arbeitet sie seit 2018 als Redaktorin für NZZ Geschichte.</p>

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Leseprobe

71. Wohin die Reise führt


Der Handel mit Massengütern ist bis heute ein äußerst wichtiger Teil des Welthandels und des internationalen Wirtschaftssystems, und dieser Warenhandel im großen Maßstab bleibt vielleicht der zentrale Schauplatz, an dem die Widersprüche des globalen Kapitalismus beobachtet werden können.

Arjun Appadurai1

Dieses Buch beleuchtet den Aufstieg des Welthandels. Es untersucht den Wandel des Geschäfts im Zuge technologischer Entwicklungen und politischer Krisen. Und es erzählt die Geschichte einer kapitalistischen Wirtschaft, in der Verkäufer und Käufer nicht auf wundersame Weise im wertfreien Raum eines sich selbst regulierenden Marktes zueinanderfinden, sondern erst durch Vermittlung überhaupt in Erscheinung treten. Zwischenhändler organisieren die globale Warenwirtschaft. Sie kaufen Waren, bezahlen sie, versichern sie, verschiffen sie, verkaufen sie wieder und schlagen daraus Profit. Haben sie ihren Firmensitz in einem Drittstaat, handelt es sich um einen chronisch unterbelichteten Bereich der globalen Wirtschaft: Transithandel.

Schätzungsweise ein Fünftel bis ein Viertel des gesamten weltweiten Rohstoffhandels wird heute über die Schweiz abgewickelt. Eine im Auftrag des Bundesamts für Umwelt durchgeführte Pilotstudie berechnete für das Jahr 2017 für 15 Rohstoffe gar einen Anteil von 42 Prozent.2 Bereits im 19. Jahrhundert hatte der Kleinstaat einen gigantischen Transithandel; er übertraf den Import und Export der Schweiz um ein Vielfaches. Als Vermittler zwischen Produzenten und Abnehmern in verschiedenen Weltregionen organisierten die Schweizer 8Handelsfirmen den Warenhandel völlig unabhängig von ihrem Domizilland. Sie lieferten japanische Seide, indische Baumwolle, westafrikanischen Kakao und zahlreiche andere Rohstoffe in alle Welt – nach Europa, Russland, Amerika und Asien. Hier lässt sich also über einen langen Zeitraum beobachten, was im ausgehenden 20. Jahrhundert allgemeine Praxis geworden ist: dass Unternehmen ihren Firmensitz und ihr Geschäft trennen.

Auf den ersten Blick scheint eine solche Trennung von Nachteil zu sein. Wenn das Management und der rechtliche Sitz einer Firma weit entfernt vom Einkauf und Verkauf der gehandelten Waren liegen, vervielfachen sich die Kontroll- und Übersetzungsprobleme. Man braucht Personal und Lagerhäuser im Ausland. Die Währungsrisiken und Zahlungsmodalitäten, ja die ganze Logistik werden komplizierter. Die multinationalen Unternehmensstrukturen hatten aber auch Vorteile. Unter sich verändernden rechtlichen, technologischen und geopolitischen Bedingungen entstanden gerade im stark mit der Weltwirtschaft verflochtenen Kleinstaat immer wieder ideale Bedingungen für ein kapitalintensives Geschäft im Weltmaßstab. Die Schweiz war nicht nur eine Globalisierungsgewinnerin im Kräftespiel der Großmächte. Sie war ein Motor der weltwirtschaftlichen Expansion. Und sie ist ein Paradebeispiel dafür, dass die Geld- und Warenströme dieser Welt nicht parallel verlaufen.

Auch beim von nationalstaatlichen Interessen völlig losgelösten globalen Warenhandel waren die wirtschaftlichen Verhältnisse immer politisch bedingt. Um einen vorteilhaften Rechtsrahmen zu schaffen, scheuten Regierung, Diplomaten, Kaufleute und Juristen weder Kosten noch Mühen. Als am 20. Dezember 1862 in Marseille der britische Dampfer Euxine in See stach, befand sich unter den 45 Passagieren auch eine Schweizer Delegation mit Reiseziel Yokohama. Ai9mé Humbert, der für die Mission verantwortliche Gesandte, hatte von der Regierung den Auftrag gefasst, für die Schweiz einen Freundschafts- und Handelsvertrag mit dem japanischen Kaiserreich abzuschließen – als siebtes Land nach einer Reihe von Großmächten.3 Die Japanmission müsse »mit namhaften Geschenken ausgerüstet auftreten«, hieß es vorab in einem Kreisschreiben an die Kantone. Für Bücher, Karten, Waffen, Kleider, Häuser- und Schiffsmodelle, Naturalien und Erzeugnisse »des schweizerischen Gewerbsfleißes« rechnete man mit einem Aufwand von 40 ‌000 Schweizer Franken, die Kosten für die ganze diplomatische Mission wurden mit 100 ‌000 Franken veranschlagt (teuerungsbereinigt wären das heute etwa 1,3 Millionen Franken oder 1,1 Millionen Euro).4 Drei plombierte Kisten wurden direkt nach Singapur verschifft. Den für den Kaiser bestimmten Chronomètre de marine hatten die Reisenden im Handgepäck dabei.5

Als Sekretär mit an Bord war der junge Kaufmann Caspar Brennwald; er gründete später in Yokohama mit einem Compagnon die Handelsfirma Siber & Brennwald. Der Delegierte Aimé Humbert, der mit diplomatischer Unterstützung Hollands die fast ein Jahr dauernden Verhandlungen mit dem Taikun und den japanischen Honoratioren führen würde, war seinerseits Sohn eines Uhrmachers aus La Chaux-de-Fonds und Mitglied der staatsgesinnten Radikalen Partei, er saß im Ständerat (der kleinen Kammer des Parlaments) und war Präsident des Uhren-Exportverbands Union Horlogère. Humbert war überzeugt, dass man die staatlichen Institutionen den wirtschaftlichen Interessen anpassen müsse und nicht umgekehrt. Die Bestimmungen in Artikel 41 der Schweizer Bundesverfassung, die festlegten, dass bei Abschluss von Verträgen mit nichtchristlichen Staaten den Vertragspartnern nicht volles Gegenrecht in Bezug auf die Niederlassung eingeräumt 10werden könne (eine Einschränkung, an der ein Handelsvertrag mit Persien gescheitert war), seien obsolet und gehörten abgeschafft. In Bezug auf Japan seien sie ohnehin »gänzlich ohne praktische Bedeutung, da voraussichtlich niemals Japanesen sich in der Schweiz niederlassen werden«.6

Japan, das seine Grenzen nach Jahrhunderten der Isolation auf militärischen Druck der USA zögerlich öffnete, erlaubte seinen Vertragspartnern die Eröffnung von Handels-Comptoirs in den Hafenstädten. Alle anderen blieben vom japanischen Markt ausgeschlossen oder mussten ihre Interessen von einer akkreditierten Firma vertreten lassen. Es war die Zeit der »ungleichen Verträge«, wie sie später genannt wurden, da die Beamten des Shōgunats den westlichen Großmächten mit Blick auf die drohende Kulisse amerikanischer Kriegsschiffe in der Bucht von Edo (dem heutigen Tokio) eine Reihe von Sonderrechten einräumten. So unterstanden die Ausländer nicht japanischem Recht, sondern der Gerichtsbarkeit ihrer Konsulate, sie profitieren von niedrigen Importzöllen, und sie erhielten das Recht, in Japan zu missionieren, ohne dass entsprechende Gegenrechte eingeräumt worden wären.

Humbert, der die große Bedeutung der japanischen Handelskonzessionen erkannte, hatte deshalb an einer beratenden Sitzung im Dezember 1860 für ein Engagement des jungen Schweizer Bundesstaates in Fernost plädiert. »Japan ist nämlich ein an einer Menge werthvoller Produkte sehr reiches Land«, hatte er argumentiert. »Edle und unedle Metalle (namentlich Silber und Kupfer), Steinkohlen, Thee, Seide, Häute, etc. etc. bilden seine hauptsächlichsten Ausfuhrartikel; dann liefert es einige Fabrikate, z. ‌B. Lakwaaren, Porzellan, usf., die für Europa passen.« Zuweilen fänden dort sogar europäische Industrieprodukte einen Markt, der in Zukunft noch »einer außerordentlichen Ausdehnung« fähig sei. Wegen des großen kulturellen Unterschieds zwischen Japan 11und Europa deckten die Europäer in Japan ihren Lebensbedarf zum Teil mit Waren aus China, zum Teil sogar aus Europa, »an welche Verhältnisse sich dann wieder, wie überhaupt in ganz Ost-Asien, ein lebhaftes Handelsgeschäft knüpft«.7

Was Humbert 1860 skizzierte, war eine rigorose Umgestaltung der Wirtschaftsbeziehungen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden zuvor relativ kleinräumig organisierte wirtschaftliche Netzwerke zunehmend in einen globalen Warenhandel integriert. Die Levante, Afrika, Indien, Japan und Südostasien wurden Absatzmärkte für europäische Industrieprodukte. Und wo Schiffe beladen mit Textilien, Papier, Tapeten, Uhren, Werkzeugen, Metallwaren und Maschinen hinfuhren, kamen sie bald mit Rohstoffen zurück – mit Edelmetallen, Baumwolle, Wolle, Seide, Kautschuk, Palmöl, Grafit, Kakaobohnen, Getreide, Saaten, Tee und Kaffee. Ein neuer Begriff kam auf: die »internationale Arbeitsteilung«.

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