Prolog – Wer ist Christin?
Christin ist – nun ja, Christin ist eben Christin. Christin ist eine ganz normale Frau und Christin möchte Dir hier erzählen, wieso das eigentlich gar nicht so normal ist und wie es dazu gekommen ist, dass Christin Christin wurde. Verwirrend? Ja, das war es viele Jahre lang für mich auch.
Ich war nicht immer Christin, so viel müsstest Du inzwischen schon verstanden haben. Und doch ist mein heutiger, offizieller und rechtsgültiger Name Christin. Nach vielen anderen Vornamen, die ich ausprobiert hatte und die mir nach kürzester Zeit nicht mehr gefielen, habe ich mich für diesen entschieden. Und da es ja irgendwie trendy ist, auch noch einen zweiten Vornamen zu haben, entschied ich mich dann noch für Sophie.
Beide Namen gefielen mir auf Anhieb, da sie mit meinen früheren Namen nicht in Verbindung gebracht werden konnten und dazu noch schön französisch klangen. Außerdem war es mir wichtig, dass die Namen eindeutig und unmissverständlich weiblich klangen. So entschied ich mich für Christin und Sophie.
Im November 2016 änderte ich gerichtlich meine Vornamen und mein Geschlecht, denn ich wurde am 14.07.1972 als Alexander Michael in Berlin geboren.
Was bedeutet das? Warum haben meine Eltern einem Mädchen einen Jungennamen gegeben? Tja, wäre es tatsächlich so gewesen, wäre sehr Vieles für mich leichter gewesen und ich hätte wohl keinen Grund, dieses Buch zu schreiben.
Ich bin transsexuell, eine transsexuelle Frau, oder - für mich - eben einfach eine ganz normale Frau.
Und was bedeutet das jetzt? Was ist daran so toll, dass man ein Buch darüber schreiben muss?
Unter Transidentität oder auch Transsexualität versteht man, wenn bei Geburt das anhand der äußeren Geschlechtsmerkmale zugewiesene Geschlecht des Neugeborenen nicht mit der eigenen Wahrnehmung um das eigene Geschlecht übereinstimmt. In diesem Zusammenhang spricht man auch von einem Abweichen der Geschlechtsidentität oder einer Geschlechtsinkongruenz.
Einschlägige, neurowissenschaftliche Studien belegen, dass das Wissen um die eigene Geschlechtszugehörigkeit im Gehirn verankert ist. Das Geschlecht findet nicht zwischen den Beinen statt, sondern zwischen den Ohren. Es handelt sich also um eine Inkongruenz oder Diskrepanz zwischen dem geschlechtlichen Selbstverständnis und/oder Körperbild eines Menschen und dem ihm bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht.
Ein „normales“ Mädchen oder auch ein „normaler“ Junge denkt nicht über das eigene Geschlecht nach und macht sich nicht ständig darüber einen Kopf. Für ein Mädchen ist ganz klar, sie ist ein Mädchen und das ist auch gut so, genau wie es für einen Jungen ganz klar ist, dass er ein Junge ist und Mädchen erst mal doof findet.
Ein transsexueller Junge oder ein transsexuelles Mädchen hingegen denkt ständig, ununterbrochen nur an das Eine, nämlich an das eigene Geschlecht bzw. an das Geschlecht als das er, bzw. sie sich fühlt, an die eigene Geschlechtsidentität.
Die Entstehung des Phänomens ist wissenschaftlich noch nicht eindeutig geklärt. Jedoch verdichten sich die Hinweise darauf, dass Transidentität während der fötalen Entwicklung durch Schwankungen der Sexualhormone im Mutterleib entsteht.
Um es einfach zu sagen: Es kann passieren, dass ein Mensch mit männlichen, äußeren Körpermerkmalen, aber weiblichem „Gehirngeschlecht“ (Geschlechtswissen) oder ein Mensch mit weiblichen Körpermerkmalen, aber männlichem Geschlechtswissen entsteht. Es handelt sich also bei Transidentität um eine „Spielart“ der Natur, oder wie es der Psychologe Prof. Udo Rauchfleisch ausdrückte, um „eine Normvariante der Natur“.
Wie auch immer, ich möchte Dich hier sicher nicht mit wissenschaftlichen, medizinischen oder andersartigem Fachgesülze langweilen. Fakt ist eben, ich wurde mit einem männlichen Körper geboren, aber einem weiblichen Gehirn ausgestattet.
Genau das ist der Grund dafür, dass meine Eltern mich Alexander Michael nannten. Sie konnten ja nicht wissen, dass ich ein Mädchen bin, ich konnte es ihnen damals ja noch nicht sagen.
Nun, um ehrlich zu sein, wusste ich es damals natürlich auch selbst noch nicht. Das kam erst ein wenig später, als ich mir meiner Position in der Gesellschaft - in diesem Fall eher in der Schule - bewusst wurde und als das Kennenlernen des eigenen Körpers begann.
Wir alle kennen das: Ein kleiner 5 oder 6-jähriger Junge zieht sich die Hose runter und fummelt an seinem Pimmelmännchen herum. Das ist völlig normal und auch gut so, denn so lernt der kleine Mann sich und seinen Körper kennen.
In meinem Fall lernte ich so, dass bei mir irgendetwas nicht stimmen konnte, ich wusste damals nur noch nicht was.
Ständig und überall wurde ich als Junge eingeordnet. Sei es beim Schulsport, wenn es hieß Jungen gegen Mädchen und ich mich zu den Mädchen hin stellen wollte, oder auf dem Pausenhof, wenn ich viel lieber mit den Mädchen zusammen spielen wollte. Die Themen der Jungs interessierten mich nicht und die Mädchen wollten mich nicht.
„Du gehörst hier nicht her“, „Du bist ein Junge, wir wollen Dich nicht bei uns“. Solche und ähnliche Sprüche musste ich mir ständig anhören und ich verstand das alles zuerst nicht so richtig.
Es schien mir, dass Alles und Jeder gegen mich war und mich nicht verstand. Ständig hatte ich das Gefühl, etwas falsch zu machen und falsch zu sein. Dies führte schon im sehr jungen Kindesalter dazu, dass ich immer vorsichtiger, immer zurückhaltender, immer introvertierter wurde und jegliches Selbstbewusstsein verlor.
Ständig sagten mir alle, ich sei ein Junge und solle mich entsprechend verhalten. Ständig, jede Minute, war mir bewusst, dass ich irgendwie anders war und meine Umwelt mir etwas Falsches eintrichtern wollte. Ich war mir bewusst und absolut sicher, ein Mädchen zu sein.
Jeder sagte mir etwas Anderes und dies sorgte dann natürlich auch für Zweifel in mir selbst und die tiefe, innere Sorge, vielleicht verrückt zu sein.
Hinzu kamen dann natürlich mit der Zeit auch das Mobbing und vor allem das Allein sein. Ich zog mich selbst immer mehr zurück, baute regelrecht eine dicke Mauer des Selbstschutzes um mich herum auf und bekam ständig das Gefühl vermittelt, falsch zu sein, egal wo ich hin ging. Die Mädchen wollten mich nicht, weil ich für sie ein Junge war und die Jungs wollten mich nicht, weil sie mich als „komisch“, „mädchenhaft“, als „Weichei“ und „Mama-Söhnchen“ ansahen.
Niemand wollte mich verstehen – niemand konnte mich verstehen. Mein Gott, nicht einmal ich selbst verstand mich!
Ich wusste nicht, was mit mir los war, ich hatte dafür keinen Namen, keine Bezeichnung, konnte mich nicht erklären. Ich wusste nur, etwas war falsch.
So zogen die Jahre ins Land und jedes Einzelne war verdammt lang und voller Hürden. Aber es sollte noch viel Schlimmer kommen, nur wusste ich das zu dem Zeitpunkt noch nicht.
Ich wurde sieben, acht, neun und ich begann langsam, meinen eigenen Körper kennen zu lernen. Ich musste lernen, dass dieser Zipfel da zwischen meinen Beinen wohl tatsächlich zu einem Jungen gehören musste und ich merkte, dass wohl alle recht haben mussten. Doch dazu stand im krassen Gegensatz das, was ich fühlte und was ich tief in meinem Innersten unumstößlich und sicher wusste: Ich bin ein Mädchen!
Ich wurde immer unsicherer, zweifelnder und, obwohl ich wusste, was ich bin, brauchte ich dennoch Gewissheit. So kam es eines Tages, ich war vielleicht neun oder zehn Jahre alt, dass ich irgendwie die beiden Schwestern aus dem Nachbarhaus dazu überreden konnte, sich in einem kleinen Wäldchen beim Sportplatz hinter unseren Häusern vor mir auszuziehen.
Was ich da sah, verunsicherte mich noch mehr. Sie hatten nicht solch ein Ding zwischen den Beinen, obwohl sie doch Mädchen waren, wie ich.
Mit der Zeit lernte ich natürlich, wieso das so war und dass ich den Körper eines Jungen mein Eigen nennen musste. Diese Gewissheit, die sich irgendwann in mir breit machte, stürzte mich in ein sehr tiefes Loch und ich fragte mich immer und immer wieder, wie es dazu kommen konnte – Ja, ich betete zu Gott, eine Antwort darauf zu bekommen.
Doch auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt dachte, dass das das Schlimmste war, was mir hätte passieren können, so kam es noch viel schlimmer.
Ich wurde elf, zwölf, dreizehn Jahre alt und meine Pubertät begann. Plötzlich bekam ich Haare im Gesicht, womit ich nie gerechnet hatte. Ich kam in den Stimmbruch, meine Stimme senkte sich und was mich mit am aller meisten schockierte, war die Tatsache, dass mir keine Brüste wachsen wollten.
Mir wurde, mit dreizehn Jahren, unumstößlich klar, dass bei mir etwas ganz gewaltig schief gelaufen sein musste und ich nun in diesem falschen Gefängnis eines Jungenkörpers fest saß, obwohl ich doch ganz klar ein Mädchen war.
So gingen dann die Jahre ins...