Beim Tod eines geliebten Menschen erfahren wir, was Tod ist. Dieses Todeserlebnis widerfährt uns, trifft uns, lässt uns irre werden an uns und an allem, was wir bisher für selbstverständlich gehalten haben. Es erschüttert nicht nur unser Welt- und unser Selbstverständnis, es zwingt uns zur Wandlung – ob wir wollen oder nicht.
Stirbt ein geliebter Mensch, so nehmen wir in seinem Sterben nicht nur antizipatorisch unser eigenes Sterben vorweg; wir sterben in gewisser Weise auch mit ihm. Es wird uns kaum je so radikal bewusst wie beim Tod eines geliebten Menschen, in welchem Maß wir uns aus unseren Beziehungen zu anderen Menschen und Dingen verstehen und erfahren, in welchem Maß der Tod einer solchen Beziehung uns aufbricht und eine Neuorientierung verlangt.
Es ist dies eine Erfahrung, die gewiss schon so alt ist wie die Menschheit selbst. Aus den vielen Zeugnissen dafür möge angeführt werden, wie der junge Augustinus den Tod eines Freundes erlebt hat (Confessiones IV1):
»Durch diesen Schmerz kam eine tiefe Finsternis über mein Herz, und wo ich hinsah, war der Tod. Die heimatliche Stadt ward mir zur Qual, das väterliche Haus zu einer sonderbaren Unglücksstätte, und jedwedes Ding, das ich mit ihm gemeinsam besessen hatte, wurde mir nun ohne ihn zu unendlicher Pein. Überall suchten meine Augen ihn und er wurde mir nicht gegeben; ich hasste alles, weil es ihn nicht hatte und mir nicht mehr sagen konnte: Siehe, er kommt, so wie es, als er noch lebte, war, wenn er einmal abwesend war. Ich war mir selbst zu einer einzigen großen Frage, und forschte ich in meiner Seele, warum sie traurig sei, warum sie mich so sehr verwirre, so wusste sie mir nichts zu antworten. Und wenn ich zu ihr sagte: Hoffe auf Gott, so gehorchte sie nicht und hatte Recht, weil dieser Mensch, den sie als Teuerstes verloren hatte, besser war und wahrer als das Trugbild, das ich ihr als Hoffnung gab. Nur noch das Weinen war mir süß und nahm in meinen Herzensfreuden die Stelle meines Freundes ein …
In mir war … eine Regung ganz entgegengesetzter Art lebendig geworden, ich weiß nicht, was es war: einem ganz schweren Lebensüberdruss stand Todesangst zur Seite. Ich glaube, je mehr ich jenen geliebt hatte, umso mehr hasste und fürchtete ich den Tod, der mir ihn geraubt, wie den grimmigsten Feind, und ich stellte mir vor, er würde nun plötzlich alle Menschen verschlingen, weil er es bei jenem gekonnt … Ich wunderte mich nämlich, dass die übrigen Sterblichen lebten, wo er gestorben war, den ich so liebte, dass er gleichsam nie hätte sterben dürfen, und noch mehr wunderte ich mich, dass ich als sein andres Ich seinen Tod
überlebte. Wie richtig hat einmal einer seinen Freund die Hälfte seiner Seele genannt (Horaz, Od. 1,3)! Denn ich habe meine und seine Seele als eine einzige in zwei Körpern empfunden (nach Ovid, Trist. IV, 4, 72) und deshalb schauderte mich vor dem Leben, weil ich nicht als Halber leben wollte, und deshalb fürchtete ich vielleicht zu sterben, weil er, den ich so sehr geliebt, dann ganz gestorben wäre.«
In diesem kurzen Text von Augustinus sind viele Aspekte des Verhaltens eines Menschen, der einen großen Verlust erlitten hat, ausgedrückt: Die Erschütterung in seinem Weltverständnis, das, was ihm vorher vertraut war, wird ihm zur Qual. Es ist, als hätte der Tod seine Schatten über alles gelegt, was zuvor war, durchaus auch über die äußeren Dinge, etwa das Haus des Vaters. Hier wird sichtbar, wie sehr die Beziehung zwischen zwei Menschen eine gemeinsame Welt schafft, sodass das Erlebnis des Todes es mit sich bringt, dass auch dieses gemeinsame Erleben der Welt nicht mehr vorhanden ist. Ein Aspekt der Trauerarbeit wird also sein müssen, dass ein neues Verhältnis zur Welt geschaffen wird. Noch aber, und das ist typisch für die erste Phase nach einem großen Verlust, geht es Augustinus nicht darum, etwas Neues zu bauen, etwas Neues zu suchen; er sucht im Gegenteil noch den Freund. Lindemann2 beschreibt die Ruhelosigkeit von Personen, die einen schweren Verlust erlitten haben, sehr eindrücklich: Dem Drang, etwas zu tun, auf der Suche nach etwas zu sein, steht ein Mangel an Zielgerichtetheit gegenüber. Parkes3 nennt dieses Suchverhalten nicht ziellos, sondern weist darauf hin, dass das Suchverhalten das Ziel habe, den eben verlorenen Partner wiederzufinden. Dies scheint Augustinus sehr bewusst zu erleben.
Zur Trauerarbeit wird also auch gehören, diese Ruhelosigkeit zu begreifen, zu begreifen auch in ihrem Sinn, die ursprüngliche Welt und das ursprüngliche Beziehungsgefüge, das eben durch das Erlebnis des Todes auseinander gebrochen ist, wieder herzustellen, als Widerstand gegen die Veränderung, die vom Leben einfach gefordert ist.
Augustinus beschreibt seinen Zustand als traurig, verwirrt, »schwerem Lebensüberdruss stand Todesangst zur Seite« – einzige Erleichterung war das Weinen. Zugleich hasste und fürchtete er den Tod.
Wie sehr dieser Todesfall sein Welt- und Selbstverständnis erschüttert hat, zeigt sich in seinem Lebensüberdruss: Wenn der Freund nicht mehr lebt, weshalb soll er denn leben?
Die Todesangst hält allerdings diesen suizidalen Ideen die Waage, und letztlich auch der Gedanke, dass der Freund, stürbe er auch noch, ganz gestorben wäre, weil er dann ja in niemandes Erinnerung weiterleben könnte.
Wesentlich scheint mir auch der Hass zum Trauererlebnis zu gehören, hier bei Augustinus Hass auf den Tod. In meiner therapeutischen Praxis erfahre ich, dass dieser Hass oft auch auf eine göttliche Instanz gerichtet wird oder auf den Partner, auf das Kind, das einen verlassen hat. Suizidale Ideen sind sehr häufig bei einem großen Verlust; der Suizid wäre eine Möglichkeit, die vielen Probleme, die sich einem bei einem Verlust stellen, zu »lösen«. Die Anzahl der Menschen, die nach einem Todesfall aber wirklich Suizid begehen, ist nach den Studien von Bowlby4 gering; hingegen besteht die Tendenz, sich den Kummer durch Einnahme von Drogen jeglicher Art zu erleichtern.
»Finsternis über dem Herzen haben«, traurig sein, verwirrt sein, an Lebensüberdruss und gleichzeitig an Todesfurcht zu leiden, sich selber zu einer einzigen Frage zu werden, all dies zeigt, wie sehr nicht nur das Weltverständnis des Augustinus erschüttert ist, sondern auch sein Selbstverständnis. Wenn Augustinus sagt: »denn ich habe meine und seine Seele als eine einzige in zwei Körpern empfunden und deshalb schauderte mich vor dem Leben, weil ich nicht als Halber leben wollte …«, dann können wir bei ihm von einem Selbstverlust sprechen. Es gehört zum menschlichen Leben, dass das Selbsterleben sich wesentlich aus den Beziehungen zu anderen Menschen ergibt, dass wir oft als unser Selbst erleben, was andere Menschen in uns hervorgerufen haben und immer wieder hervorrufen, und dass unsere Beziehung zu unserer Tiefe, zu unserem innersten Selbst durch die Beziehungen geprägt ist, die wir zu Menschen haben, insbesondere durch die Liebesbeziehungen. So werden geliebte Menschen zu einer »Hälfte unserer Seele«, gehören wesenhaft zu uns, bestimmen unser Lebensgefühl und unsere Sicht des Lebens mit, ohne dass wir das Gefühl hätten, von ihnen manipuliert zu werden, weil wir sie so nahe an uns herangelassen haben, dass sie Teil von uns sind. Trifft uns der Verlust eines so mit uns verbundenen Menschen, dann sterben wir in der Tat ein Stück mit5. Gabriel Marcel6 sagt dazu: »Das einzig wesentliche Problem wird durch den Konflikt Liebe und Tod gestellt.«
Und so ist wohl der Tod dessen, den wir lieben, ebenso ein Todesproblem und eine Todeserfahrung, mit der wir umzugehen haben, die wir zu bestehen haben, wie das Leben auf unseren eigenen Tod hin. Es ist eine Grenzsituation des Lebens, die uns verändern, die uns den Blick für das wirklich Wesentliche frei machen kann, und es ist eine Situation, die uns auch zerbrechen kann.
Ob es uns gelingt, neue Perspektiven in unser Welt- und Selbsterleben zu bringen, Todesbewusstsein auch als einen Aspekt unseres Selbstbewusstseins zu sehen, oder ob wir zerbrechen, pathologisch trauern und nie mehr aus der Trauer herauskommen, hängt wesentlich davon ab, ob wir richtig zu trauern verstehen. Trauern darf nicht länger als »Schwäche« betrachtet werden, sondern es ist ein psychologischer Prozess von höchster Wichtigkeit für die Gesundheit eines Menschen. Denn wem bleiben schon Verluste erspart? Und wenn wir es auch mit dem Tod dessen, den wir lieben, nicht immer zu tun haben, der Abschiede sind noch genug im Leben, und sie können ähnliche Verlustreaktionen hervorrufen, wie wenn wir einen geliebten Menschen verlieren.
Wichtig scheint mir zu bedenken, wie schlagartig sich das Leben eines Menschen durch den Tod eines Lebenspartners etwa ändern kann, wie vielen Schwierigkeiten deshalb auch der Zurückgebliebene sich gegenübersieht, zudem in einer psychischen Verfassung, die Problemlösungen fast unmöglich macht.
Versuchen wir nochmals, uns die Probleme zu vergegenwärtigen:
Äußerlich verändert sich das Leben etwa dadurch, dass eine Ehefrau zur Witwe wird, unter Umständen mit finanziellen Problemen zu kämpfen hat, mit der Notwendigkeit, die Kinder allein zu erziehen, einen neuen Partner suchen zu müssen; oder ist die Witwe älter, muss sie nun plötzlich den Lebensabend allein verbringen, vielleicht ohne die dazugehörige praktische Begabung zu haben, weil der Mann ihr zuvor alles abgenommen hat. Äußerlich ändert sich das Leben auch dadurch, dass ein trauernder Mensch eben ein Trauernder ist, der von der Umwelt plötzlich anders behandelt, im schlimmsten Fall tabuisiert wird, fast wie der Tod selber, im besten Fall...