Teil I
Kindern Halt geben
1. Mit kleinen Schritten in die Welt der Großen – Bausteine gelingender Erziehungsarbeit
Das Erleben von Verlusten, von Abschied, Sterben und Tod begleitet den Menschen sein ganzes Leben lang. Es handelt sich dabei gleichsam um Urerfahrungen menschlicher Existenz. Sie sind weder an einen bestimmten Wissens- oder Entwicklungsstand noch an ein bestimmtes Alter gebunden. Immer wieder berühren Abschied und Tod den menschlichen Lebensweg, legen sich für eine gewisse Zeit wie ein schwarzer Schatten über eine bestimmte Wegstrecke und lösen Gefühle der Trauer aus. Es ist und bleibt eine große Herausforderung, mit diesen Erfahrungen und Gefühlen gut umzugehen und gestärkt die nächsten Lebensschritte gehen zu können. Wichtige Bausteine, die helfen, die Schattenstrecken gut zu bewältigen und dabei die Sonnenseiten nicht aus den Augen zu verlieren, sind die Fähigkeiten, die Gefühle der Trauer zuzulassen, sich einer Gemeinschaft anzuvertrauen und sich begleiten zu lassen. Doch dies ist oft leichter gesagt als getan. Die Bereiche Abschied, Verlust, Sterben und Trauer gehören nach wie vor zu den großen Tabu-Themen unserer Zeit. Unsicherheit, ängstliche Zurückhaltung, Beiseiteschauen und ein Verschieben »auf später« sind nur einige der üblichen Reaktionsweisen, die Trauernde einsam und hilflos zurücklassen.
Wir leben in einer Gesellschaft, die für die belasteten und »dunklen« Wegabschnitte des Lebens wenig Hilfestellungen und rituell abgesicherte Verhaltensweisen bereithält. Doch auch auf der individuellen Seite gibt es eine Reihe von Hürden, die im Zusammenhang mit schwerwiegenden Verlusten sichtbar werden. Sich selbst auf positive Weise mit belastenden Situationen rund um einen schweren Verlust, einen Todesfall, auseinandersetzen zu können, hängt mit Fähigkeiten zusammen, deren Ansätze im Laufe der Kindheit erworben werden müssen. Es geht dabei um ein tief im Inneren verankertes Wissen, dass »alles gut werden kann«, und das Gefühl, in dieser Welt gut verwurzelt zu sein. Es geht um ein Vertrauen in sich selbst, in die Menschen der näheren und weiteren Umgebung – um ein Vertrauen »in Gott und die Welt«. Doch nicht jedem ist es vergönnt, in Geborgenheit groß zu werden und im geschützten Raum der Familie Schritt für Schritt in die Welt der Großen hineinwachsen zu können. Nicht jeder hat verständnisvolle Menschen um sich gehabt, die zur rechten Zeit die richtige Information, das richtige Wort oder die richtige Geste gefunden haben. Und nicht jeder hat das Glück, in einem Umfeld groß geworden zu sein, in dem die Erwachsenen selbst bereit und in der Lage sind, sich den existenziellen Fragen um Leben und Sterben, Abschied und Verlust zu stellen und das Kind bei der Suche nach Antworten auf diese Fragen zu unterstützen. Die ersten Lebensjahre sind demnach für die weitere Lebensgestaltung ungeheuer wichtig.
Da Entwicklung immer auch Abschied von Altem und Vertrautem bedeutet, wird das Kind immer wieder in Situationen kommen, wo es erfahren kann und muss, dass Leben und Sterben, Lachen und Weinen, Anfang und Ende zusammengehören. Wenn diese Pole des Lebens im Kinderalltag Platz haben und Eltern nicht krampfhaft versuchen, Trauriges möglichst rasch zu verscheuchen oder gar nicht erst zuzulassen, kann auch ein Kind Trauer als heilende Kraft der Seele kennenlernen. Bei diesem Lernprozess ist es für das Kind wichtig und hilfreich, dass es einen vertrauten Menschen hat, der es begleitet. Darum geht es im folgenden Abschnitt.
Erziehung – eine ganz besondere Arbeit
Kinder ins Leben zu begleiten, ihnen jenen Halt zu geben, der sie zu lebensfrohen Menschen werden lässt und sie für Krisenzeiten stark macht, ist Arbeit. Sie ist verbunden mit ganz besonderen Freuden – aber auch mit ganz besonderen Belastungen. Auf der einen Seite sind da viele Augenblicke, in denen einem das »Wunder Leben« bewusst wird; man kann die Welt in einem anderen Licht sehen, empfindet Ehrfurcht und Staunen angesichts der Vollkommenheit kleiner Kinder und deren Lebenskraft. Auf der anderen Seite stehen viele Belastungen, Sorgen, Ängste und Unsicherheiten, die manchmal auch die persönlichen Grenzen aufzeigen.
Die Welt der Erwachsenen ändert sich schlagartig, wenn ein Kind in ihr Leben tritt. Für viele beginnt eine Umstellung ihrer Aktivitäten, die alle Lebensbereiche betrifft und Anpassung, Neuorientierung, Kraft, Kreativität und Geduld verlangt. In der Begegnung und Begleitung von Kindern – dieser sehr speziellen Arbeit – liegen gleichermaßen Herausforderungen wie Chancen. Dies gilt natürlich in erster Linie für die Eltern, die als sogenannte primäre Bezugspersonen für eine gesunde und gute Entwicklung ihrer Kinder besonders wichtig sind. Sie werden zum Dreh- und Angelpunkt der Kleinkinderwelt und sind im Idealfall Quelle der Freude, Liebe und Zuwendung. Wo dies nicht möglich ist, können Kinder nicht gut gedeihen und werden eher Schwierigkeiten haben, sich gut zu entwickeln und vertrauensvoll in die Welt hinauszugehen. Eltern sind im wahrsten Sinne des Wortes Entwicklungshelfer – und dies auf allen Ebenen des kindlichen Heranwachsens, nämlich auf der körperlichen, seelischen, sozialen und geistigen Ebene.
Wenn sich die zunächst recht kleine und überschaubare Welt der Kleinkinder erweitert, treten zusätzlich noch andere »Entwicklungshelfer« ins Blickfeld. Auch sie werden zu wichtigen Stützen auf dem Weg ins Leben: Verwandte, Freunde der Familie, ErzieherInnen, LehrerInnen – sie alle tragen dazu bei, dass sich Kinder orientieren können und Halt finden. Dabei werden von den Erwachsenen Verstand und Herz gleichermaßen gefordert: Es geht zum einen um intellektuelle Anregungen und um das Bereitstellen von Lernmöglichkeiten. Für viele Menschen ist der Begriff »Lernen« eng an »Schule« gebunden und bezieht sich auf Faktenwissen. Doch Lernen ist viel umfassender zu verstehen und bezieht sich auf alle Bereiche des Lebens, umfasst einen lebenslang anhaltenden Prozess des »Nachspürens«. Es ist vergleichbar mit einer Spurensuche, einer Suche nach Orientierung und Wissen, einer Suche nach Anhaltspunkten, um aus Unbekanntem etwas Bekanntes und Vertrautes entstehen zu lassen. Kinder lernen vom ersten Tag an: Sie müssen beispielsweise sich selbst außerhalb des Mutterleibes neu entdecken; sie lernen, sich an Geräuschen, Stimmen, Licht und Schatten zu orientieren, oder versuchen mit unendlichem Eifer, ihre Bewegungen gezielter einzusetzen. So vollziehen sie einen Entwicklungsschritt nach dem anderen. Dabei brauchen sie Anregungen, Unterstützung und viel Lob von den Menschen, die sie umgeben.
Neben diesen vielen konkreten Impulsen im Bereich Lernen stehen auf der anderen Seite Gefühle im Zentrum der Begegnungen zwischen Kindern und Erwachsenen. In allen Handlungen, in jeder Geste, jedem Blick und jeder Berührung schwingen Emotionen mit und überbringen Botschaften. Oft sind es gerade diese versteckten Signale, die deutlich machen, was mit den Worten eigentlich gemeint ist und was sich hinter ihnen verbirgt. Kinder haben dafür besonders feine Antennen und »verstehen«, lange bevor sie der Wortsprache mächtig sind, »die Sprache des Herzens« nur zu gut. Sie nehmen mit allen Sinnen die ihnen entgegengebrachten Gefühle auf, sie lauschen dem Klang der Stimme, achten auf Art und Tempo der Zuwendung, nehmen die Zartheit der Berührung oder die Flüchtigkeit im Streicheln ebenso wahr wie die mitschwingende Lebensfreude in einem hellen Lachen oder die gute Absicht hinter einer ungeschickten Geste. Manchmal kann man sich geradezu ertappt fühlen, wenn man die Reaktionen von Kindern auf die eigenen Gedanken deutlich sehen kann. Gedanken, Worte und Handlungen sind eng miteinander verwoben und beeinflussen einander, wie es in einem alten Sinnspruch aus dem Talmud trefflich beschrieben wird:
Achte auf deine Gedanken, denn sie werden Worte.
Achte auf deine Worte, denn sie werden Handlungen.
Achte auf deine Handlungen, denn sie werden Gewohnheiten.
Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter.
Achte auf deinen Charakter, denn er wird dein Schicksal.
Damit Kinder Halt finden, sich entsprechend ihren Möglichkeiten optimal entwickeln und den von außen kommenden Anforderungen gerecht werden können, braucht die kindliche Seele als Grundnahrungsmittel Liebe und die Botschaft: »Ich liebe dich, so wie du bist«, »Du bist in Ordnung«, »Du bist wunderbar!« Diese menschliche Grundbotschaft kann sowohl durch Worte als auch durch Gesten zum Ausdruck kommen. Für den täglichen Umgang mit Kindern bedeutet das, dass es mindestens genauso wichtig ist, wie mit Kindern gesprochen wird, wie, was gesprochen wird. Kinder brauchen die Erfahrung, um ihrer selbst willen geliebt zu werden; sie brauchen Menschen, die an sie glauben und sie ohne Wenn und Aber annehmen, so wie sie sind. Dieses bedingungslose Angenommenwerden ist ein Geschenk, das das ganze weitere Leben bereichert. Es ist die Basis für Liebesfähigkeit und Selbstvertrauen und hilft in schweren, traurigen und belastenden Momenten, den Glauben an das Gute in der Welt nicht zu verlieren. Erich Fried drückt das in seinem berühmt gewordenen Gedicht Was es ist mit folgenden Worten aus:
Was es ist
Es ist Unsinn
sagt die Vernunft
Es ist was es ist
sagt die Liebe
Es ist ein Unglück
sagt die Berechnung
Es ist nichts als Schmerz
sagt die Angst
Es ist aussichtslos
sagt die Einsicht
Es...