„In kaum einem Bereich gibt es eine ähnlich große Anzahl von traumatisierten Kindern und Jugendlichen wie in vollstationären Jugendhilfeeinrichtungen. Dies liegt sicherlich zu einem großen Teil darin begründet, dass aufgrund des vielerorts herrschenden Grundsatzes »ambulant vor stationär« für die Indikation einer stationären Jugendhilfemaßnahme zumindest eine desolate familiäre Situation mit extrem ungünstigen Erziehungsbedingungen und zahlreichen massiv bedrohlichen Belastungsfaktoren vorliegen muss.“ (Fegert/Besier 2009, S. 1048)
„Die Einleitung einer stationären Jugendhilfemaßnahme setzt in der Regel voraus, dass die Familiensituation derart belastet ist, dass eine ausreichend gute Förderung des Kindes auch mit ambulanten Hilfen nicht mehr erreicht werden kann. Viele Familien haben im Vorfeld einer Heimaufnahme traumatische Erlebnisse zu verkraften, wie zum Beispiel den Tod eines Elternteils, Trennungen der Eltern, familiäre Gewalt, psychische und somatische Erkrankungen, Alkoholabhängigkeit einer Bezugsperson, nicht selten auch Misshandlung und sexuellen Missbrauch.“ (Schmid 2010a, S. 113) In etwa 80% der Fälle, ist eine Heimunterbringung verknüpft mit Vernachlässigung und /oder Misshandlung, in etwa 10% der Fälle mit einer Überforderung der Eltern. (vgl. Schleiffer 2009, S. 96) In den meisten Fällen ist demnach davon auszugehen, dass die Kinder und Jugendlichen in den stationären Einrichtungen „psychisch enorm belastet sind, und somit einen hohen sozial- bzw. heilpädagogischen Unterstützungsbedarf aufweisen.“ (Schmid 2010a, S. 113)
„Eine stationäre Aufnahme stellt immer einen massiven Eingriff in das Alltagserleben dar.“ (Kirchweger 2010, S. 274) Das Kind oder der Jugendliche wird aus allen ihm, wenn auch Angst machenden, so doch vertrauten Bezügen herausgerissen.
Jedoch kann Trennung, gerade wenn traumatische Erlebnisse der Grund für eine Unterbringung sind, auch als Chance erlebt werden. Zumindest dann, wenn die Kinder und Jugendlichen (sowie auch deren Eltern) einen Sinn in einer stationären Aufnahme erkennen können. Ein Sinn, der es ermöglicht die Vergangenheit zu bewältigen, da er Zukunft ermöglicht. (vgl. Weiß 2009a, S. 87 f.)
Betrachtet man Heimerziehung mit Blick auf die Wortbedeutung, so muss man zwei Begriffe hervorheben. Zum einen den Begriff des Heims.
Ein Heim meint „[…] den Ort, der uns vertraut ist, wo wir wohnen, wo wir uns auskennen, wo wir orientiert sind, an dem wir uns sicher, vielleicht sogar geborgen und wohl fühlen. Wir verbinden mit Heim etwa den verwandten Begriff der Heimat, wo wir also herkommen und mit der eine Vielzahl an Erinnerungen verbunden sind. Eigentlich sollte dem Begriff Heim eine positive Bedeutung zukommen. […] Einem solchen Heim fühlen wir uns verbunden.“ (Schleiffer 2009, S. 8)
Ein solches Heim muss für traumatisierte Kinder und Jugendliche, von denen im Folgenden die Rede ist, oft neu geschaffen werden. Unter Umständen kennen sie ein solches Heim gar nicht.
Der Begriff der Institution Heim ist jedoch auch negativ besetzt. Man verbindet dann hiermit eine Erziehungsanstalt, in der nicht erzogene oder schwer erziehbare Kinder und Jugendliche untergebracht sind. Zudem ist eine ablehnende Haltung gegenüber Heimkindern nicht selten. Obwohl diese Kinder nichts für ihre Erfahrungen können, sind sie selbst es, die auffällig werden und so als »nicht erziehbar« und »schwierig« gesehen werden. So gesehen wird das Heim wohl kaum als ein zu Hause angesehen werden können, in welchem man sich freiwillig aufhält und sicher fühlen kann. (vgl. Schleiffer 2009, S. 9 f.)
Es wird im Folgenden nicht schwer nachzuvollziehen sein, dass das Heim, das Kinder und Jugendliche mit traumatischen Erfahrungen benötigen, ein Zuhause im ersten Sinne sein sollte, in dem sie als ganze Person akzeptiert werden und wo sie leben können, und nicht eine Erziehungsanstalt, in der sie abgelehnt und lediglich untergebracht sind. Es muss also stets darum gehen, trotz (oder gerade wegen) Paragraphen und vorgegeben Strukturen dafür zu sorgen, dass aus einer stationären Einrichtung der Jugendhilfe ein »Zuhause« werden kann. In diesem Sinne ist Heim der Ort einer alternativen postmodernen Lebensform zur Alltagsbewältigung, welches der Normalität des Aufwachsens dienen soll und als Ersatz für verloren gegangene Erziehungsinstanzen gilt. (vgl. Schröder 1995; zit. n. Schleiffer 2009, S. 73 f.)
„Will Heimerziehung erziehen, muss das Heim […] einen gewissen Schonraum anbieten.“ (Schleiffer 2009, S. 254) Nachdem nun der Begriff des Heims näher beleuchtet wurde, ist der Begriff Erziehung kurz aufzugreifen. „Als Erziehung werden Handlungen bezeichnet, durch die Menschen versuchen, die Persönlichkeit anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht zu fördern.“ (Brezinka 1990; zit. n. Raithel et. al. 2009, S. 22 ) Erziehung kann als soziale Handlung verstanden werden, welche psychische Dispositionen schaffen, ändern oder erhalten will. (vgl. Brezinka 1990; zit. n. Raithel et. al. 2009, S.22) In einer Definition von Bokelmann (1970; zit. n. Raithel et. al. 2009, S. 21) kommt auch der generationale Aspekt zum tragen.
In der Heimerziehung geht es oft darum, die primäre Sozialisationsinstanz der Familie teilweise oder auch komplett zu ersetzen. Die pädagogischen Fachkräfte werden somit die Erwachsenen, die neben der Aufgabe ein Heim zu bieten eben auch die Aufgabe der Erziehung übernehmen müssen. Sie werden zu Bezugs-, oder sogar zu Bindungspersonen für die Kinder und Jugendlichen.
Heimerziehung kann leichter zu stabilen positiven Veränderungen von Verhaltensauffälligkeiten führen, als die psychosoziale [Ausgangs-]Situation der Kinder und Jugendlichen ändern. (vgl. Schleiffer 2009, S. 88) Gerade Kinder und Jugendliche mit traumatischen Erfahrungen benötigen eine fördernde Erziehung, die eine Ablösung von alten Verhaltensmustern ermöglicht.
Heimerziehung wie sie in § 34 des achten Sozialgesetzbuches geregelt ist, besagt wörtlich: „Hilfe zur Erziehung in einer Einrichtung über Tag und Nacht oder in einer sonstigen betreuten Wohnform soll Kinder und Jugendliche durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung fördern.
(2) Sie soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen sowie den Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie
1. eine Rückkehr in die Familie zu erreichen versuchen oder
2. die Erziehung in einer anderen Familie vorbereiten oder
3. eine auf längere Zeit angelegte Lebensform bieten und auf ein selbständiges Leben vorbereiten.
(3) Jugendliche sollen in Fragen der Ausbildung und Beschäftigung sowie der allgemeinen Lebensführung beraten und unterstützt werden.“ (Stascheit 2010, S.1226 f.)
Ausgehend von eben diesem Gesetzestext möchte ich drei Punkte für die Bedeutung einer traumapädagogischen Arbeit in Einrichtungen der Heimerziehung kurz hervorheben. Über diese zentralen Punkte begründe ich auch einen Anspruch auf traumapädagogische Konzepte und Strukturen.
Erstens soll es laut Gesetz um eine Verbindung von Alltagserleben, pädagogischen und therapeutischen Angeboten gehen, um die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu fördern. Wie ich in dieser Arbeit noch erläutern werde, ist dies auch ein wichtiger Ansatzpunkt traumapädagogischer Arbeit. Das Heim soll der geschützte Raum sein, in dem pädagogisch zusammengearbeitet wird. Unterstützend und kooperierend sollen therapeutische Angebote integriert werden.
Das Heim ist der Raum in dem die Kinder leben und ihren Alltag verbringen. Das Heim sollte also auch der Ort sein, an dem förderliche Strukturen geschaffen werden, die die Kinder und Jugendlichen in ihrer Entwicklung fördern, also auch dabei unterstützen ein Trauma erfolgreich bearbeiten zu können, so zum Beispiel niedrigschwellige therapeutische Angebote die fester Bestandteil in der täglichen Arbeit sind.
Zweitens möchte ich die Passage „entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand des Kindes oder des Jugendlichen“ hervorheben. Alter und altersgemäßer Entwicklungsstand klaffen (zumindest in Teilen) bei Kindern und Jugendlichen, die Traumatisierendes erlebt haben weit auseinander, da diese Erfahrungen meist eben auch keine altersgemäßen Erfahrungen waren. Nur allzu oft ging es für sie im bisherigen Alltag um das bloße Überleben. Da war keine Zeit und keine Kraft für ein, bindungstheoretisch ausgedrückt, Ausleben des Explorationsbedürfnisses, oder anders gesagt für das Erwerben von Alltagsfertigkeiten. Dies gilt es in der täglichen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen sensibel zu beachten, zu berücksichtigen und zu fördern, aber eben nicht nur alters-, sondern in besonderem Maß entwicklungsgemäß.
Drittens wird genannt, dass es um „Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie“ gehen soll. Ich finde es insofern wichtig die Herkunftsfamilie aufzugreifen, als dass sich dort der bisherige Teil des Lebens eines Kindes oder...