ALLER ANFANG IST SCHWER
Ich wurde mitten in die Wirren des Zweiten Weltkrieges hineingeboren, am 8. August 1941 erblickte ich in Neutitschein, heute CSR, das Licht der Welt. Meine Heimatstadt lag im sogenannten Kuhland, einem idyllischen Landstrich in Mährisch-Ostrau, unweit der polnischen Grenze. Damals lebten etwa fünfzehntausend Menschen in Neutitschein, ein Drittel davon waren Tschechen, der Rest Sudetendeutsche. Rundum war Bauernland, in unserer Kleinstadt gab es vor allem kleine Handwerksbetriebe, Kaufleute und einige textilverarbeitende Fabriken. Meine Vorfahren kamen ursprünglich aus dem Schwäbischen, aus der Nähe von Stuttgart, und hatten sich hier im Osten des Landes niedergelassen.
Unser Familienname, der um 1630 erstmals urkundlich erwähnt wird, leitet sich von Teugel ab, was wiederum auf die Berufe meiner Ahnen schließen lässt. Teugel kommt von Tiegel, das waren also Töpfer, künstlerisch begabte Menschen, die keramische Produkte herstellten und vertrieben. Meine Verwandtschaft bestand vorwiegend aus Landwirten und Kaufleuten, wie mein Großvater, der ein kleines Ladengeschäft betrieb.
Die Familie meiner Mutter hingegen waren Akademiker, ihr Vater arbeitete als Arzt, und auch sie hatte Medizin studiert, bis irgendwann die Kinder kamen und sie ihr Studium aufgeben musste. Mein Vater Erwin war als Steuerberater tätig und betreute als Bilanzbuchhalter mehrere große Firmen, was wiederum längere Abwesenheiten von zu Hause erforderte. Meine Mutter Gertraud führte das Haushaltswarengeschäft ihrer Großmutter neben dem Familienhaushalt weiter und verbrachte viele Stunden außer Haus. Dieser Umstand sollte mir und meinen drei Geschwistern viele Freiräume schenken, die wir zu nutzen verstanden. Ich war das Nesthäkchen der Familie; als ich zur Welt kam, gingen meine Geschwister Ruth (10) und Käthe (6) schon in die Schule, mein Bruder Ingo (2) war noch zu Hause, und meine Mutter war bereits einunddreißig Jahre alt, was damals als »spätgebärend« galt.
Meine Geburtsstadt Neutitschein heute
Wir lebten in kleinbürgerlichen Verhältnissen, besaßen aber ein eigenes Haus mit der Adresse Am Schlossberg 6. Neutitschein, das heute im Tschechischen Nový Jiĉín heißt, galt damals als eine der schönsten Städte des Landes. Der Stadtplatz mit seinen Arkaden und die prächtigen Renaissancefassaden der Bürgerhäuser lockten vor dem Krieg viele Besucher in die Stadt. Doch für diese Sehenswürdigkeiten hatten die Menschen zu der Zeit, als ich geboren wurde, weder Zeit noch Muße. Es war Krieg, der Frontverlauf rückte immer näher, und die Brutalität nahm auch im Alltag auf erschreckende Weise zu.
Unser Geschäft nach dem Bombenangriff, 1944
So wurde Onkel Rudel, ein Bruder meiner Mutter und bekannter Lebemann, im Jahr meiner Geburt wegen seiner jüdischen Abstammung von einem wütenden Mob durch die Straßen gehetzt. Schließlich zogen sie ihm einen Sack über den Kopf, stießen ihn durch die johlende Menge und erschlugen ihn mit ihren Knüppeln. Mit dieser öffentlichen Hinrichtung sollte ein Exempel statuiert werden.
Das sind Erfahrungen, die jenen gleichen, die der 1920 ebenfalls in Neutitschein geborene Max Mannheimer machen musste. Der heute als Zeitzeuge und Autor in Erscheinung tretende Mannheimer hatte nach dem Besuch der örtlichen Handelsschule in einem Kaufhaus gearbeitet, bis sein Vater 1938 im Zuge der Novemberpogrome inhaftiert und zur Flucht ins ungarische Exil gezwungen wurde. Die Familie folgte kurz darauf, weil die Situation für Juden in Neutitschein unerträglich geworden war. Fast alle Familienmitglieder wurden später in Auschwitz ermordet.
Zum Zeitpunkt meiner Geburt befand sich mein Vater schon wieder an der Front. Als Stabsoffizier im Range eines Leutnants sorgte er als Quartiermeister für freie Wege, um die Truppen mit allem Nötigen zu versorgen. Er musste, wie er mir später erzählt hat, nie ein Gewehr in die Hand nehmen, nie auf einen anderen Menschen schießen. Mit dem Angriff auf Russland 1941 befanden sich die deutschen Truppen noch im Vormarsch und erzielten schnelle Landgewinne, was aber bald darauf in der Schlacht von Stalingrad furchtbar enden sollte.
Vater war also im Krieg und ich offenbar, wenn man zurückrechnet, das Ergebnis eines Weihnachtsurlaubs. Und so kam ich auf die Welt, nicht in einem Krankenhaus, sondern am Schlossberg 6 als sogenannte Hausgeburt. In den Armen der kräftigen Hebamme sah man mich kaum, ein blasses Leichtgewicht und so, wie man annahm, nicht sehr widerstandsfähig. Denn kaum war ich ein paar Monate alt, erkrankte ich an offener Tuberkulose. Viele Flüchtlinge waren aus Polen gekommen, natürlich hatten wir, wie fast alle unsere Nachbarn, Familien im Haus einquartiert, vermutlich hatte ich mich dort angesteckt.
Mit sechs Monaten lag ich also schon da, auf Leben und Tod, kaum dass ich diese Welt betreten hatte. Und ich war natürlich auch ansteckend, was meine Mutter dazu zwang, mich vom Rest der Menschheit zu isolieren. Da gab es natürlich nicht viele Möglichkeiten; an einen Aufenthalt auf einer entsprechenden Station im Krankenhaus, so wie das heute üblich wäre, war nicht zu denken.
So blieb für mich nur der Dachboden. In einem kleinen Verschlag wurden feuchte, weiße Bettlaken aufgehängt, meine Mutter machte mir ein provisorisches Lager, stattete den kargen Raum mit Weihnachtssachen, einem kleinen Koffer mit Kleidung und Kinderspielzeug aus.
Zweimal am Tag kam sie und feuchtete die Laken mit einer Gießkanne an, um mir das Atmen erträglicher zu machen. Den Rest des Tages lag ich immer allein. Nie kam jemand, um nach mir zu schauen und mich zu besuchen. Die Angst, sich anzustecken, war bei allen einfach zu groß. Nur meine Mutter umsorgte mich. Aber sie betrieb ja auch den Laden, der in einiger Entfernung am Stadtplatz lag. Und sie musste sich auch noch um die schulischen Angelegenheiten meiner Geschwister kümmern.
Auch wenn die Eltern meines Vaters mit uns unter einem Dach wohnten und sie entlasteten, blieb nicht viel Zeit übrig. Dennoch soll ich immer gelächelt haben, wenn sie zu mir kam, so erzählte sie mir es später. Offenbar dachte ich, dass mich dann die Menschen eher besuchen, als wenn ich weine.
Ich lag ungefähr ein Jahr oben auf dem dunklen Dachboden. Es war sehr kalt, klamm und feucht. Meine Mutter hat mich in dicke Kleidung eingepackt, ich trug sogar gehäkelte Strampelhosen. In all den Monaten hat mich kein Arzt gesehen, gab es keinen fachlichen Rat und keine Untersuchung. Die Ärzte hatten einfach keine Zeit, sie wurden im Lazarett dringender gebraucht. Man dachte sicher: Entweder überlebt der Kleine und ist dann stark genug für alles Weitere, oder aber er schafft es nicht.
Als ich nach vielen Monaten allmählich wieder gesund wurde, hatte ich das nur den medizinischen Grundkenntnissen meiner Mutter zu verdanken. Sie päppelte mich langsam wieder auf, gab mir geraspelten Apfel und Karotten mit Öl und ähnliche Hausmittel. Medikamente hingegen bekam ich nie, sie waren Mangelware und den Soldaten vorbehalten. Immer wieder erlitt ich Rückfälle mit Fieber, die meine Mutter mit Wadenwickeln bekämpfte. Am Abend las sie mir vor, das gehört zu meinen schönsten Erinnerungen an diese Zeit. Natürlich wurde ich auch auf dem Dachboden gewaschen, eher notdürftig, wie man sich vorstellen kann.
Irgendwann ging es mir besser, und ich sollte an die frische Luft, um den Genesungsprozess zu beschleunigen. Ich hatte eine lange Zeit nur auf diesem dunklen Dachboden vor mich hingelebt; eine Spazierfahrt mit dem Kinderwagen in den Schlosspark war daher eine große Abwechslung für mich. So wurden meine Geschwister dazu aufgefordert, mich auszufahren. Ansteckend war ich ja nicht mehr. Offenbar war mein Bruder ziemlich eifersüchtig auf mich, weil um mich plötzlich so viel Aufhebens gemacht wurde. Das steile Gefälle am Schlossberg inspirierte ihn zu einer kleinen Gemeinheit.
Flugs schaute er nach links und rechts, gab dem Kinderwagen einen Schubs und beobachtete in aller Seelenruhe, wie der Wagen schnell Fahrt aufnahm. Ich raste den Hang hinunter und krachte nach dreißig Metern in eine Treppe vor dem Nachbarhaus. Ich flog, durch diese Treppe gebremst, mit einem zweifachen Salto durch die Luft und landete in hohem Bogen auf einer kleinen Grasfläche vor dem Nachbarhaus. Leute liefen herbei und begutachteten den kleinen Kerl. Und wie ein Wunder war ich unverletzt geblieben. Die Nummer war zirkusreif, aber ich bin dann doch nicht als Akrobat zum Zirkus gegangen.
Mein Bruder war inzwischen wieder auf dem Weg nach Hause. Man fragte in den Häusern in der Nachbarschaft nach, ob irgendwo ein Kind fehlen würde. Im zwölften Haus wurde man fündig und gab die Adresse meiner Mutter weiter. Als man dort klingelte, öffnete sie und sagte nur: »Ja, das ist mein Sohn.« Schon damals muss ein großer Schutzengel seine Hand über mich gehalten haben. Ich kann mich nur immer an die Bemerkung meiner Mutter erinnern, die immer gesagt hat: »Du hast nicht einen Schutzengel, sondern eine ganze Heerschar.«
Ich bin ja später noch mehrfach in kritische Situationen gekommen und habe sie alle halbwegs heil überstanden. Aber diese Szene, die mir meine Schwester erst viele Jahre später beichtete, prägte mein Gottvertrauen, meinen festen Glauben, dass ich einfach immer Glück habe. Das Verhältnis zu meinem Bruder war allerdings über all die Jahre hin nicht das beste, vielleicht hatte das ein wenig mit dieser frühkindlichen Erfahrung zu tun.
In unserem Haus wurde es allmählich immer enger. Unsere große Familie, dazu die Großeltern und wechselnde Einquartierungen benötigten viel Platz. Aber was sollte man machen? Die Menschen waren in Not, man musste doch...