VON AUGUSTA BIS AIDA
Die Geschichte der Seereise
Es ist eine feine und elitäre Reisegesellschaft, die sich am 22. Januar 1891 bei klirrender Kälte in Cuxhaven an Bord des Transatlantikliners AUGUSTA VICTORIA einfindet: Adel und Geldadel, Gutsbesitzer und Fabrikanten, hohe Beamte und reiche Privatiers, teils mit Familie und einige sogar mit persönlicher Dienerschaft. 241 Gäste – darunter auch 67 zumeist ältere Damen – haben sich auf das Premierenabenteuer eingelassen, für das man neben viel Geld auch viel Zeit mitbringen muss. Zwei Monate lang werden sie unterwegs sein, um dem winterlich-kalten Mitteleuropa zu entfliehen und ein neues und ganz besonderes Seereise-Abenteuer zu erleben: die erste moderne Kreuzfahrt.
Die damals als »Exkursion« oder »Vergnügungsreise« angepriesene Luxuskreuzfahrt ist in der Tat ein exklusives Vergnügen, eine Antithese zum bisherigen Reisestil. Zwischen 1.600 und 2.400 Goldmark pro Person (heute etwa 28.500 bis 42.800 Euro) kostet die Reise je nach Kabinengröße und -lage; das ist seinerzeit etwa der zwei- bis dreifache Jahresverdienst eines Arbeiters. In den Jahrhunderten zuvor hatte man es sich überhaupt nicht vorstellen können, rein zum Vergnügen zur See zu fahren. Die hölzernen Schiffe mit ihren engen Kojen und ihrer schlechten Verpflegung galten als schwimmende Gefängnisse – die zu allem Übel noch die drohende Gefahr des Ertrinkens boten. Wer irgendwie konnte, reiste lieber über Land, statt sich Wind und Wellen auszuliefern. Das galt erst recht für Bildungs- oder Vergnügungsreisende, die auf Komfort und gutes Essen Wert legten.
1891 ändert sich das: Die reiselustigen Premierengäste im wintergrauen Cuxhaven erwartet statt einer rauen Atlantiküberquerung erstmals eine luxuriöse Reise in den sonnigen Süden, Pyramidenbesuch und Orientzauber inklusive. Die AUGUSTA VICTORIA, das erst zwei Jahre alte Flaggschiff der Hamburg-Amerika-Linie (Hapag) soll durchs Mittelmeer kreuzen, touristisch interessante Ziele ansteuern und dort jeweils lange genug vor Anker gehen, um auch mehrtägige Landausflüge zu ermöglichen. Mit 7.700 Bruttoregistertonnen ist der 145 Meter lange Zweischraubendampfer mit den drei markanten Schornsteinen ein Schiff der Superlative, der Gipfel des seinerzeit technisch Machbaren: Die AUGUSTA VICTORIA – benannt nach der Ehefrau von Kaiser Wilhelm II. – ist bei ihrer Indienststellung 1889 das größte Schiff auf dem Nordatlantik und damit auch das bisher größte Passagierschiff, das den Felsen von Gibraltar passiert. Als besonderer Clou ist eine Bordkapelle mit von der Partie, die zur Unterhaltung der Gäste aufspielt. Zudem erhalten die Reisenden regelmäßig eine Bordzeitung, zum ersten Mal überhaupt auf einem Schiff. Bei so vielen Rekorden stört es kaum, dass der Schiffsname nicht ganz korrekt ist, denn die Kaiserin heißt in Wirklichkeit Auguste Victoria. Der Fauxpas wird erst einige Jahre später anlässlich einer Generalüberholung des Schiffes stillschweigend korrigiert.
Die Reiseroute kann sich sehen lassen: Alexandria, Jaffa, Beirut, Konstantinopel, Piräus, Palermo und Neapel heißen 1891 die wichtigsten Häfen, in denen jeweils ein mehrtägiges Landausflugsprogramm des renommierten englischen Reiseveranstalters Thomas Cook angeboten wird, natürlich inklusive Pyramidenbesuch in Kairo und Jerusalem-Besichtigung. Auch Damaskus, Athen und Rom stehen auf dem Reiseplan. Erster Halt ist in Southampton, wo etliche britische Fahrgäste zusteigen, darunter viele der schon erwähnten reiselustigen älteren Ladys. Den historischen Augenblick dieser ersten Kreuzfahrt erfasst womöglich auch Kaiser Wilhelm II., der kurz vor dem Auslaufen in Cuxhaven das Schiff besichtigt und den Anwesenden eine gute Reise wünscht.
Gastgeber und zugleich prominentester Fahrgast ist Albert Ballin (1857 – 1918), das mit 33 Jahren jüngste Vorstandsmitglied der Hapag. Der ebenso energische wie einfallsreiche Ballin macht die Hapag in den folgenden Jahren zur wichtigsten Schifffahrtslinie ihrer Zeit. Als Hapag-Generaldirektor wird er später ein geschätzter Berater Wilhelms in maritimen und handelspolitischen Fragen, was ihm den inoffiziellen Ehrentitel »Reeder des Kaisers« einträgt. Und auch diese neue, innovative Form der Seereise geht auf das Konto des ehrgeizigen Reedereimanagers. Denn in den stürmischen Wintermonaten ist der Fahrplan auf dem Nordatlantik mangels Nachfrage ausgedünnt. Viele Oceanliner, so auch die AUGUSTA VICTORIA, bleiben dann für längere Zeit im Hafen, verursachen aber weiter laufende Kosten.
Daher kommt Ballin auf die Idee, sein unbeschäftigtes Flaggschiff für eine finanziell lukrative Reise in den Süden einzusetzen, natürlich nur First Class. Dritte-Klasse-Kabinen bleiben auf einer solchen Luxusreise selbstverständlich unbelegt. Seine Vorstandskollegen sind zunächst skeptisch, doch Ballin setzt sich durch – und behält recht. Als Premierenziel wählt er dabei psychologisch geschickt das Mittelmeer, noch heute der Sehnsuchtsort vieler Reisenden. Seit dem 18. Jahrhundert ist es das Ziel jeder klassischen Bildungsreise, der Grand Tour. Hinzu kommt die wachsende Orientbegeisterung des 19. Jahrhunderts. Das touristische Pflichtprogramm zu den Stätten der Antike und des Orients absolviert also auch die moderne Variante per Schiff und Landausflug.
Die Gäste der AUGUSTA VICTORIA erleben bis zum Anlegen in Cuxhaven am 21. März 1891 eine 57-tägige Rundreise der Superlative, die von mitgereisten Malern und Journalisten ganz in Ballins Sinne in das beste PR-Licht gerückt wird. Doch auch ohne werbewirksame Unterstützung ist Ballins Idee ein Volltreffer: Andere Reedereien ziehen bald nach und bieten nun ebenfalls »Vergnügungsreisen« auf ungenutzten Linern an – allen voran die englischen Linien Cunard und P&O. Als dritte »Kreuzfahrtnation« geht schließlich Österreich-Ungarn ins Rennen. Die riesige Habsburgermonarchie mit ihren Ländern an der Adriaküste ist seinerzeit eine veritable Seefahrtnation, und bis heute finden sich – Zufall oder nicht – überdurchschnittlich viele Österreicher als Personal auf Kreuzfahrtschiffen. Auch weitere Nationen bieten bald Kreuzfahrten an, vor allem in den USA gewinnen Seereisen schnell an Popularität. Aus der genialen Idee wird ein großes Geschäft.
Natürlich gab es schon erste zaghafte Versuche vor Ballin – so schipperte beispielsweise der amerikanische Schriftsteller Mark Twain bereits 1867 als Teilnehmer einer amerikanischen Reisegesellschaft im gecharterten Raddampfer von New York bis ins Mittelmeer. Doch mit dem unvergleichlichen Komfort der AUGUSTA VICTORIA kann Ballin zu Recht den Ruhm als »Kreuzfahrt-Erfinder« für sich beanspruchen. Vor schlechtem Wetter kann allerdings auch der clevere Reeder seine Passagiere nicht bewahren: In der kabbeligen Biskaya werden auf der Premierenfahrt die meisten Reisenden seekrank, selbst die omnipräsente Bordkapelle verstummt. Zur Entschädigung lässt Ballin am nächsten Tag frische Austern servieren, es gibt Kaviarbrötchen satt, und der Champagner fließt in Strömen. Das schlechte Wetter ist daraufhin schnell vergessen.
Schon bald ist das Mittelmeer nicht mehr das einzige Reiseziel: Das wilhelminische Publikum beispielsweise erliegt schnell der Schönheit der norwegischen Fjorde. Hier ist Seine Majestät höchstselbst der Trendsetter, denn der rastlose »Reisekaiser« ist ständig unterwegs. Seine jährlichen »Nordlandreisen«, die er seit 1889 jeden Sommer auf der Staatsyacht HOHENZOLLERN unternimmt, werden von seinen Untertanen gern nachgeahmt. Bereits im Sommer 1894 unternimmt daher die AUGUSTA VICTORIA ihre erste Reise in den hohen Norden, die sie sogar bis hinauf nach Spitzbergen führt. Ab 1896 nimmt die Hapag dann von New York aus auch die Westindischen Inseln ins Programm – es ist der Beginn der beliebten Karibik-Kreuzfahrten, die nicht nur in den USA große Popularität erlangen.
Und Albert Ballin, der unermüdliche Neuerer, arbeitet bereits an einem neuen Coup: Im Jahr 1900 stellt er den ersten rein als Kreuzfahrtschiff konstruierten Passagierdampfer in Dienst. Die PRINZESSIN VICTORIA LUISE, benannt nach der einzigen Tochter des Kaisers, hat mit ihrem langen Bugspriet und eleganten Klipperbug, den hohen Masten und den zwei schlanken Schornsteinen die Anmutung einer exklusiven Privatyacht. Mit 122 Metern Länge und 4.400 Bruttoregistertonnen bietet sie Platz für knapp 200 Fahrgäste – natürlich nur in der Ersten Klasse. Auch hier setzt Ballin Trends: Bis heute sind komfortable Kabinen, bestes Essen und exquisiter Service zentrale Elemente jeder Kreuzfahrt. Aufgrund des großen Erfolgs erhält die PRINZESSIN VICTORIA LUISE wenig später ein etwas kleineres Schwesterschiff, die METEOR. Der Schriftsteller Johann Kinau alias Gorch Fock genießt 1913 auf ihr eine Freipassage in die norwegischen Fjorde.
PRINZESSIN VICTORIA LUISE
Der Erste Weltkrieg beendet das fröhliche Kreuzfahrtleben jäh; auch Kaiser Wilhelm II. unterbricht in der »Julikrise« 1914 seinen sommerlichen Norwegen-Aufenthalt. In den folgenden vier Jahren liegen die meisten Passagierschiffe nutz- und bewegungslos im Hafen, wenn sie nicht gar als Minenleger oder Hilfskreuzer zweckentfremdet werden. Nach Kriegsende muss Deutschland die meisten verbliebenen Dampfer als Reparationsleistung an die Alliierten abliefern. Erst Mitte der 1920er-Jahre erholen sich die deutschen Reedereien allmählich von diesem erzwungenen Aderlass. In dieser...