Schwein gehabt
Mal schwächer, mal stärker spürbar, wird mich ein Grundgefühl der Verlassenheit und Traurigkeit durch meine Kindheit – ja, mein ganzes Leben hindurch – begleiten. Überempfindlich und unfähig, das, was um mich herum geschieht, als getrennt von mir betrachten und erleben zu können, beziehe ich alle Ereignisse unmittelbar und ungefiltert, ohne eine innere, die Wucht der Eindrücke mildernde Pufferzone, auf mich. Dann diese nur selten »sprühende«, eher quälend langsame, aber unausgesetzt und ruhelos, sogar noch im Schlaf arbeitende, sich ziellos in alle Richtungen zerfasernde und zerfließende Fantasie.
In und mit diesem Zustand lebe ich nun schon so lange, dass ich ihn inzwischen als Teil meiner selbst akzeptiere. Dabei bewundere ich meditationserfahrene, spirituell begabte Menschen, Meister der Entrückung und der hohen Kunst, ihr Hirn zumindest zeitweilig von jeglichem Gedankenmüll zu leeren. Ich selbst habe das nie gelernt, obwohl mir doch als Künstler eine spirituellere Weltsicht entsprechen und der Zugang zu ihr nicht schwerfallen sollte – tut es aber. Vielleicht kann ich das ja noch nachholen. Nun bin ich aber kein Anhänger des Axioms, dass der Mensch bis zu seinem Ende nicht nur lernen und sich weiterentwickeln kann, sondern muss. Ich möchte im Alter eher meine Ruhe haben. Die Vorstellung, mich noch auf dem Sterbebett in meinen letzten Zügen, röchelnd weiterentwickeln zu sollen, betrachte ich als Zumutung. Seit einigen Jahrzehnten behelfe ich mich, um Stress abzubauen und Energien zu bündeln, mit gelegentlichem autogenen Training. Manchmal hilft es, manchmal nicht.
Erst als junger Erwachsener erlebe ich – was ich im Songtext »Der Büffel« schon als Ahnung anklingen lasse – das Gefühl, die wüst, aber gleichzeitig träge umherwirbelnden Ideen und inneren Bilder sortieren, ihnen Struktur und Gestalt geben zu können.
Gern würde ich für eine bildhafte Darstellung dieser Vorgänge, wie sie sich in meinem Geist abspielen, mit all den Gedankenfetzen und Impulsen, die durch den Mikrokosmos meines Gehirns vagabundieren, als Metaphern Sternenstaub und Meteoritensplitter heranziehen, die das Weltall mit vieltausendfacher Lichtgeschwindigkeit so lange durchrasen, bis sie sich zu einem neuen Planeten verdichten. Nur hat noch nie etwas in kosmischen Tempi mein Gehirn durchrast. Es dümpelt alles immer nur, trotzdem verdichtet es sich da manchmal auch zu Etwas, muss ja nicht gleich ein Planet sein. Deswegen will ich mich darüber auch nicht beklagen; habe ich mich doch inzwischen, spätestens nach der Lektüre von Sten Nadolnys großartigem Roman »Die Entdeckung der Langsamkeit«, mit meiner eigenen längst versöhnt.
Dabei kommt mir ein Spruch auf westfälisch Platt, den ich wohl nicht übersetzen muss, in den Sinn: »Langsam Patt kümmt auk naa Stadt.«
Nun kann ich mir aber denken, dass mein Verhalten, besonders während meiner ersten fünf Lebensjahre, mein sich dauernd am Rand der Panik befindender Zustand, von den Menschen, die mich umgeben, als sehr anstrengend empfunden wird.
»Stell dich doch nicht so an, du alte Heulsuse«, bekomme ich oft zu hören. Meine Schwester Ulla antwortete noch kürzlich auf die Frage eines Bekannten, wie ihr Bruder denn so als Kind gewesen sei: »Na ja, er hat viel geweint.«
Verständnis für meine Eigenheiten kann ich weder innerhalb noch außerhalb meiner Familie erwarten und fühle mich von der Welt, da, wo ich mit ihr in Berührung komme, abgelehnt und in der Familie nicht aufgehoben. Ein über seltene Momente hinausgehendes Gefühl des Angekommen- und Aufgehobenseins werde ich nie kennenlernen und es vermissen als etwas, »was mir fehlt und was ich wiederfinden muss«, wie ich im Refrain meines Liedes »Erinnerung« singe.
An der Art der Fragen, wenn mir überhaupt welche gestellt werden, spüre ich Desinteresse an mir, dass der Frager im Grunde nichts von mir wissen will. Es sind in Form von Scheinfragen geäußerte Zurechtweisungen, Tadel, Beschimpfungen oder Bestrafungen. Etwa nach dem Muster: »Was soll das denn schon wieder?«; »Sag mal, bist du nicht ganz dicht?«; »Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?« und so fort. Noch immer reagiere ich gelegentlich unwillig und gereizt auf oft harmlose und aus echtem Interesse an einer Antwort an mich gerichtete Fragen, denen ich schnell einen inquisitorischen Ton unterstelle und die ich dann reflexhaft als Angriff werte, gegen den ich mich verteidigen muss.
Als Kind bin ich mit meinen Nöten, man kann es so sagen, alleingelassen. Wahrscheinlich haben Psychologen längst herausgefunden, dass sich bei Kindern in dieser Lebensphase, die ersten Grundschuljahre eingeschlossen, nur durch den regen Austausch miteinander gerade die Eigenschaften herausbilden, die sie dann im Erwachsenenalter befähigen, mit jedermann gut klarzukommen. Also, dass Heranwachsende jene gerühmte und begehrte Sozialkompetenz entwickeln, mit der auch ich gern üppiger ausgestattet wäre. Auch bedingt durch die Alleinlage meines Elternhauses treffe ich nur selten eines der ohnehin wenigen gleichaltrigen Nachbarskinder; und obwohl ich mich oft danach sehne, fürchte ich mich gleichzeitig auch davor. Sie wohnen über das Twellbachtal hinaus verstreut und zu weit entfernt, dass ich mit ihnen spielen, mich mit ihnen austauschen könnte. Ich denke, die entscheidende Phase, in der aus mir ein ausgeglichener Charakter und ein richtiger Teamplayer hätte werden können, habe ich damals verpasst.
Auch später sehne ich mich oft nach der Gesellschaft anderer Menschen, halte sie aber nur alkoholisiert länger aus. Ich mache gern Musik zusammen mit Freunden und Kollegen im Studio und auf der Bühne. Aber ebenso gern bin ich solo. Assistenz bei alltäglichen Verrichtungen ist mir unangenehm. Ich koche zwar gern und auch manchmal für Gäste, hasse es aber, wenn mir jemand beim Zwiebelschneiden oder Kartoffelschälen helfen will. Ich liebe es, im Garten zu arbeiten – aber allein. Ich ertrage es nicht mal, dass mir einer die Leiter hält, wenn ich in die Baumkrone steige, um Äpfel zu pflücken.
Auch handwerkliche Tätigkeiten verrichte ich gerne, und auch diese am liebsten allein. Es gibt ein Gedicht von Brecht, das vom Menschen als einem sozialen, von der Gemeinschaft geprägten Wesen handelt. Etwa des Inhalts, dass ein Haus, das ein Mensch allein baut, nur eine Baracke sein kann. Auch in Schillers »Lied von der Glocke« wird die Teamarbeit gefeiert: »Wenn gute Reden sie begleiten,/Dann fließt die Arbeit munter fort.« In einer seiner Barfüßer-Erzählungen schildert Maxim Gorki, wie ein Haufen zerlumpter Landstreicher und Gelegenheitsarbeiter im Rhythmus des gemeinsamen Entladens eines Wolgaschleppers (via Endorphinausschüttung, nehme ich an) in eine Art Glücksrausch verfallen und so die heiligende Wirkung des Hand-in-Hand-Arbeitens erfahren. In meinem Leben gibt es nur eine Situation, in der ich annähernd so etwas erlebe: beim Musizieren gemeinsam mit anderen.
Ich erinnere mich an einen Versuch meiner Mutter, mich mit anderen Kindern zusammenzubringen. Als kurz nach Kriegsende von der Gemeinde in einem unbewohnten Kotten ein provisorischer Kindergarten eröffnet wird, geht sie mit mir hin. Aber nur einmal. Die ungewohnte Umgebung, die fremden Kinder, versetzen mich augenblicklich in Angst und Schrecken. Als sich meine Mutter dann auch noch zum Gehen wendet, mit dem Versprechen, mich später wieder abzuholen, erfasst mich eine solche Panik, dass ich mich zitternd an sie klammere und nicht mehr aufhöre zu schreien.
Dass ein Kind nur den grauenhaften Moment des Verlassenwerdens als real erlebt, in dem die Aussicht auf ein baldiges Wiederabgeholtwerden gefühlt nicht enthalten ist, trifft auf mich wohl im besonderen Maße zu, denn außer mir hat sich damals, meiner Erinnerung nach, keines der anderen Kinder so aufgeführt.
Kann sein, dass ich mich schon damals mit meinem Hang zu exaltiertem, fast panischem Verhalten auf der einen und dem zu Eigensinn und cholerischen Ausbrüchen auf der anderen Seite von anderen Kindern stark unterschied. Hinzu kommt mein, ich nenne es hier mal: Mangel an Anpassungsintelligenz. Ich will unbedingt und gern geben, was andere von mir wollen, kann es aber nicht. Ständig ecke ich irgendwo schmerzhaft an, ohne zu begreifen, wieso. Weil ich richtig und falsch nicht unterscheiden kann, will ich oft mit dem Kopf durch die Wand. Diese früh erworbene, vielleicht auch angeborene Unfähigkeit, um nicht zu sagen sture Weigerung, aus begangenen Fehlern zu lernen und sie zu korrigieren, behalte ich noch lange Zeit bei. Es ist wie ein Zwang, dieselben Irrtümer zwanzigmal zu wiederholen, ehe es mir gelingt, sie zu vermeiden.
Ich will meine Eigenheiten und Macken, wie sonderbar sie auch erscheinen mögen, hier nicht einseitig als Störungen, Schwächen oder gar Charaktermängel denunzieren. Im Gegenteil. Ich glaube, dass sie später meinen künstlerischen – manchmal gewundenen – Werdegang eher begünstigt als behindert haben. Ein Zitat, das Graham Greene in den Mund gelegt wird, lautet: »Das Kapital des Schriftstellers ist seine unglückliche Kindheit.« Demnach ist, so möchte ich es interpretieren, der Schriftsteller beziehungsweise der Künstler ein Mensch, der das Glück hat, anstatt an erlittenen Beschädigungen zu zerbrechen, sich in Träume retten und diese in kreative Energie umwandeln zu können. So kann er sich seinen Erinnerungen – auch den schlechten, die er ohnehin nie mehr los wird – immer wieder stellen und sogar noch »Honig aus ihnen saugen«.
Schwerste seelische Verletzungen, welche bei einigen den besagten schöpferischen Elan freisetzen, mögen bei anderen wiederum...