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Was trieb mich an, Trompeter zu werden?
Oft sind es in der Regel ja die Eltern, in meinem Fall speziell der Vater, der den Grundstein für mein Leben als Trompeter und Musiker legte. In meiner Kindheit gab es nur diese eine Domäne, diesen allzeit rund um die Uhr musizierenden Mann, dem sich alles unterzuordnen hatte.
Es war immer noch die Nachkriegszeit, in der alle Menschen versuchten, durch ihre Arbeit und Tüchtigkeit den Lebensstandart zu verbessern. Gleichzeitig aber wurde gefeiert, dass kein Auge trocken blieb. Die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges waren allen Erwachsenen noch sehr präsent und jede Feierlichkeit, jedes Fest und alle anderen nur möglichen Anlässe wurden dazu auserkoren, das Gefühl eines freien und würdigen Lebens entstehen zu lassen und gleichzeitig die Mühen des Alltages zu vergessen. Musik, Tanz und Alkohol trugen in erheblichen Maße dazu bei. Die Älteren werden sich daran gut erinnern. Den jungen Menschen kann man dagegen nur schwer vermitteln, was die Nachkriegszeit an Nöten und Arbeit bedeuteten.
Genau in dieser Zeit kam in meiner Heimatregion mein Vater ins Spiel. Musik und Alkohol, das war sein Ding. Dank seiner hervorragenden Ausbildung als Trompeter und seines Talentes zum Entertainer machte er sich schnell einen Namen als Gestalter vieler Veranstaltungen in seiner neuen Heimat, die er mit einer schwierigen Kriegsverletzung und als Flüchtling aus Oberschlesien langsam eroberte. Er war gerade mal sechsundzwanzig Jahre jung, gut aussehend und dynamisch wie kein Zweiter in unserer Gegend.
Wenn er ein Trompetensolo spielte, lagen ihm die Leute zu Füßen. So etwas hatten sie vorher noch nie gehört. Harry James war sein großes Vorbild. Der Hummelflug, die Post im Walde, Carneval de Venise... die Operettenarie Hab ich nur deine Liebe…, An der Weser..., den Mitternachtsblues oder auch Wonderland by Night waren die Höhepunkte seiner Auftritte.
Ein F3 war jederzeit seine sichere Höhe. Sein Ton war brillant, voll und schön. Die Ausdruckstärke seiner Darbietungen faszinierte jeden Zuhörer. Als Redner konnte er zudem jederzeit glänzen und auch mit Humor die Zuschauer in seinen Bann ziehen.
Er scharte nach und nach die besten Musiker der Region um sich und spielte vom Duo bis hin zur Big Band jede nur mögliche Besetzung unter dem Motto:
„Sag mir was du brauchst, du kriegst es!“
Hier kam ihm auch seine Erfahrung aus der unmittelbaren Nachkriegszeit zugute. Mit nur zweiundzwanzig Jahren spielte er schon als erster Trompeter in der Big Band des größten Zirkus der Welt, Zirkus Williams! Später auch noch beim Eisballett Bayer und an der Operette in Braunschweig. Ich besitze noch ein paar Notenblätter der 1. Trompete aus der Zeit seiner Mitwirkung beim Eisballett Bayer. Mein lieber Mann, die hatten einen knallharten Job zu spielen. Drei volle Stunden Höchstleistung. Heute kommt dagegen ja alles vom Band.
Die Liebe zu meiner Mutter ließ ihn dann allerdings heimisch werden. Seine Heimat wurde fortan NRW, das Münsterland mit der Stadt Ahaus.
In den Jahren 1953 bis 1961 wurde er Mitglied der Städtischen Kapelle Ahaus, seinerzeit die beste Blasmusikkapelle weit und breit, deren Dirigent er dann auch 1961 über einen Zeitraum von 25 Jahre wurde.
die Städt. Kapelle Ahaus
- vorne Vater Willing -
Nebenbei war er Dirigent einer benachbarten Feuerwehrkapelle, bildete den örtlichen Spielmannszug aus und betrieb die Ausbildung als Lehrer weitere fünf Kapellen im Umkreis.
Nichts war ihm fremd oder zuviel. Mit weiteren Musikgruppen wie zum Beispiel Jagdhornbläsern erreichte er sogar die Deutsche Meisterschaft in diesem Metier.
Kein Abend war dieser Mann zu Hause, jeden Abend unter der Woche hatte er Probe mit einem Verein und das sogar sonntags.
An den Wochenenden spielte er natürlich mit einem seiner Ensembles im Umkreis bis zu einhundert Kilometern Schützenfeste, Sechs-Tage-Rennen in Dortmund und Münster, Rundfunkkonzerte, Jubiläen, Konzerte mit den jeweiligen Kapellen und Tanzveranstaltungen. Kirchliche Feiertage, Beerdigungen, Hochzeiten und vieles andere mehr bestimmten sein musikalisches Leben. Dass er dann auch noch im städtischen Einwohnermeldeamt arbeitete, dazu die städtische Musikschule leitete, nötigt mir den allergrößten Respekt ab. Woher nahm mein Vater nur diese Kraft? Ich weiß nur, der Alkohol spielte in seinem Leben eine große Rolle. Dass er fast keinen Tag ohne Alkohol erlebte, ist verbürgt.
Meine Familie, im Besonderen meine Mutter, hatte dafür zu sorgen, dass jederzeit alle möglichen Uniformen, Mützen, Hemden, Hosen, Krawatten und die Schuhe einsatzbereit waren. Das Einladen der Musikanlage sowie seines Schlagzeugs hatten wir Kinder oftmals zu besorgen.
Wenn ich darüber nachdenke, dass mein Vater in kleineren Besetzungen Schlagzeug und Trompete gleichzeitig spielte, war dies mehr als bemerkenswert. (In der Zeit von 1942 - 1944 wurde er als Trompeter und Schlagzeuger ausgebildet)
Trotz seines Alkoholismus, trotz seines Egoismus, trotz aller für mich auch negativen Erlebnisse mit ihm ist seine Lebensleistung nicht hoch genug einzuschätzen. Nicht unbedingt für seine Familie. Sie war nur Mittel zum Zweck seiner Selbstdarstellung. Sein Verdienst war der unbedingte Wille, seinem Publikum stets die beste Musik und Erheiterung in der Schwere der Nachkriegszeit zu geben, den auszubildenden Kapellen als starkes Vorbild zu dienen und hinsichtlich seiner Musikalität alle Musiker daran teilhaben zu lassen. Seine Kraft, seine Dynamik und seine Führungsqualität riss jeden in seiner Umgebung mit. Als Mensch der die Gesellschaft liebte, in der er auch gerne der Mittelpunkt war, kam er ohne Rücksicht auf seine Gesundheit bei Festen oder Feierlichkeiten stets als Letzter nach Hause. Noch heute sprechen die Musiker in meiner Heimatstadt über ihn in den höchsten Tönen. Die letzten Jahre lebte er in meiner Nähe in der Umgebung von Passau und starb nach langer Herzkrankheit, schwer dement am 1. April 2004 im Alter von 78 Jahren.
Viele Jahre, um nicht zu sagen Jahrzehnte, hatte ich ein psychologisches Problem mit seinem Leben und den Umgang mit seiner Familie. Für seine Kollegen, Musiker, Kapellen, Schüler, für die Gesellschaft war er der große Meister. Anerkennung und Lob waren ihm stets wichtig, für mich dagegen gab es das nicht.
Erst viele Jahre später, nachdem ich mich von zu Hause gelöst hatte und als Trompeter auch im Fernsehen zu hören war, sagte er mal zu mir unter vier Augen:
„Du spielst schon eine super Trompete!“
Dies trug sich zu am 80. Geburtstag meiner Mutter. Für sie hatte ich auf der Terrasse eines Lokals meine Anlage aufgebaut und für sie einige Solis gespielt. Beide hatten Tränen in den Augen! Das war der Moment, in dem ich alle Vorbehalte und psychologischen Problem mit ihm verlor. Er war ein alter kranker Mann geworden.
Als er in der Passauer Klinik nach einer Bypassoperation nur noch wenige Tage bei Bewusstsein war, (er fiel kurz davor nachts aus dem Bett) nahm ich für ihn in meinem Studio den Titel Trompeters Wiegenlied von Leroy Anderson auf. Mit einem transportablen CD-Player fuhr ich zu ihm, setze ihm den Kopfhörer auf und spielte es ab. Diesen Titel hatte ich als kleines Kind erstmals von ihm gehört, seitdem nie mehr. Während des Abspielens sah ich, wie Tränen über sein Gesicht kullerten. Er nahm meine Hand, drückte sie kräftig und nickte leicht mit dem Kopf. Sprechen konnte er nicht mehr. Es war der intimste und schönste Moment, den es je zwischen uns gab. Da seine Operationsnarbe durch den Sturz aus dem Bett aufbrach und sich als Folge eine Blutvergiftung im seinem Körper ausbreitete, fiel er bald ins Koma, aus dem er nicht mehr erwachte.
Ich sehe sein Leben heute aus einem anderen Blickwinkel. Ja, ich habe ihn immer bewundert, ja, ich habe ihn immer geliebt, aber wir haben zu wenig miteinander gesprochen, nur zusammen musiziert mit dem Wissen um unsere Fähigkeiten. Ich glaube, es erging ihm in dieser Beziehung genau wie mir!
Papa, für mich bleibst „Du“ der Größte!!
Bevor ich überhaupt eine Trompete in meine Hände bekam, sorgten meine Eltern dafür, dass mir Klavierunterricht erteilt wurde. Ich war sechs Jahre alt, und jede Woche einmal kam mein Klavierlehrer ins Haus. Unser Klavier stand im Flur, eigentlich kein idealer Platz, aber in unserer Mietwohnung gab es keine andere Möglichkeit. Wenn ich übte, hörten alle Mitbewohner im Haus mit. Beschwerden gab es nicht, vielleicht auch, weil sich keiner traute. Mein Vater war schließlich eine wichtige Person und wir waren die Einzigen, die ein Telefon im ganzen Haus hatten. Dieses wurde ab und zu auch gerne von den anderen Mietparteien benutzt, um Dringendes zu erledigen.
Ich empfand es schon damals als großes Glück, dass mein Lehrer in der Volksschule ebenfalls Pianist war, der auch den Musikunterricht hielt und schon...