Das Möbelhaus
Stell Dir vor, Du sitzt auf der Rückbank einer Limousine, schön und bequem, der Fahrer hat alles im Griff, aber es breitet sich trotzdem eine gewisse Unruhe in Dir aus.
Du würdest gern anhalten, Dir kurz die Beine vertreten, vielleicht sogar die Landschaft, die an Dir vorbeifliegt, genauer ansehen. Aber das geht nicht, denn Dein Business ist die große Fahrt.
Trotzdem merkst Du, dass der Motor ruckelt und der Tank allmählich leerer wird. Und dummerweise hat niemand in Deiner Limousine noch Bares, um teures Benzin zu kaufen. Aber Du bleibst auf Kurs. Der Motor wird schon aufhören zu stottern. Jemand mit Geld für den Sprit wird kommen oder welches überweisen.
Aber so sicher wie früher, dass alles gut wird, bist Du Dir nicht mehr.
Da denkst Du an Rex Gildo, der zehntausend Mal Hossa gesungen hat, am Ende in irgendwelchen Möbelhäusern, nur um den Tank noch vollzukriegen, bis zum nächsten Möbelhaus.
Du beruhigst Dich, weil Du nie Rex Gildo warst, kein Schlagersänger, der nach der Peitsche von Dieter Thomas Heck tanzte. Du bist Udo, der Rock’n’Roller, der das Mikrofon wie ein Lasso schwingt, aber nie die Peitsche.
Nur, auch Deine Geschäfte gehen nicht mehr besonders. Und Deine Entourage hat Hunger und vor allem immer Durst. Du zeichnest die Rechnungen ab, weil Du schließlich der Chef bist. Don Udo Corleone.
Aber da draußen vor Deinem Limousinenfenster ziehen jetzt Baumärkte vorbei – und die Dinger kommen irgendwie näher, obwohl sie noch weit genug weg sind, den Sicherheitsabstand hinter dem Limousinenglas noch halten.
Es ist mehr so ein Gefühl, aber aus dem Gefühl wird ein Gedanke: »Verdammt nah, der Baumarkt, und ist Rex Gildo nicht irgendwann aus dem Fenster gesprungen und war tot, weil er die Möbelhäuser nicht mehr ausgehalten hat?«
Dann denkst Du wieder an den Baumarkt. Es ist eine sehr unangenehme Vorstellung, und sie wird auch nicht angenehmer, wenn Du an den Parkplatz vor dem Baumarkt denkst, wo sie Dich nach dem Auftritt zwischen Farbkübeln und Duschvorhängen und Klobürsten vermöbeln, weil sie finden, »Cello« hätte aus Deinem Mund schon mal besser geklungen.
Ein paar Töne, sagen sie, sind falsch. Sie reklamieren mit der Faust und Stiefeltritten.
Nee, nee, das ist eine ganz unangenehme Vorstellung. Lieber an was Schönes denken. Oder einen trinken und an was Schönes denken. Oder einfach weiterfahren, einen trinken und an gar nichts mehr denken.
Du kannst das, Du bist schließlich Udo Lindenberg.
*
Die Krise, die mit dem Tod Erichs ihren Höhepunkt erreichte, hatte sich schon seit Jahren um Udo herumgeschlichen. Sie hatte ihn manchmal richtig gepackt und geschüttelt, aber Udo, der, wenn es sein muss, auch ein Weltmeister im Verdrängen sein kann, wollte nichts davon wissen, dass die Zeiten schlechter wurden.
Kurz nach der Jahrtausendwende hatte Udo einen Song geschrieben. Er hieß »Der Millionär hat keine Kohle mehr«. Es ging um einen Spekulanten, der an der Börse sein Vermögen verzockt hatte.
Um einen Typen, der geglaubt hatte, einen lebenslangen Anspruch auf das Beste vom Besten zu haben, und der nun, tief gefallen, nicht mehr in der Präsidentensuite residierte, sondern im Hotel Filzlaus an der Reeperbahn.
Der Millionär hat keine Kohle mehr
das Leben ist grausam
und die Taschen sind leer
Haste mal ’n schlaffen Euro oder ’ne müde Mark?
Die letzte Bank, die ihm noch bleibt
ist die Bank im Park
Das klang durchaus nach Spott und Hohn für einen protzenden Armleuchter, aber selbst die, die es gut mit Udo meinten, konnten schwer übersehen, dass da auch Züge von ihm selbst auftauchten, nicht nur zwischen den Zeilen, sondern gewissermaßen als Zweitstimmen im Ohr des besser informierten Zuhörers. Udos Karriere befand sich seit Langem in einem sanften Sinkflug. Zwar gab es noch gutes, sicheres Geld aus alten Verträgen, aber künstlerisch lebte Udo auf Kredit, und er wusste es.
Entweder ich sauf mich tot, oder ich versuch noch einmal ein Comeback.
»Der Millionär hat keine Kohle mehr« war einer der wenigen Songs auf dem Album »Atlantic Affairs« aus dem Jahr 2002, die Udo selbst getextet und komponiert hatte.
Der Song auf einem Album, das ansonsten von der Vertreibung und dem Exil jüdischer Komponisten und Musiker im Dritten Reich handelte. Udo sang Coverversionen von diesen Liedern, es war als Hommage gedacht, aber eine ungewollte Begleiterscheinung war, dass in diesen Songs, die von Verschwinden handelten, auch klar wurde, dass Udo sich immer weiter von dem entfernte, was er einmal gewesen war.
Klar, es waren Songs, die im Ozean des Vergessens herumtrieben und die es absolut verdient hatten, wieder gehört zu werden. Songs wie »Bin nur ein Johnny« von Paul Abraham oder »My Ship« von Kurt Weill oder »Irgendwo auf der Welt« von Werner Richard Heymann oder »Es sind die finsteren Zeiten« von Hanns Eisler.
Allein schon die Geschichten um diese Komponisten, die auf der Flucht vor Hitler ihre Karrieren, ihre Tische im Caféhaus, ihre Wohnungen, ihre Fans, ihren Ruhm hatten hinter sich lassen müssen, um in einer neuen Welt, einer neuen Sprache, im völlig Unbekannten wieder anzufangen!
Es waren Geschichten, die Udo manchmal spätnachts in der vermeintlichen Behaglichkeit seines sicheren Atlantic Dampfers den Schlaf raubten. Geschichten, in die er sich vertiefte, die er mit erlitt.
»Und immer wieder diese kleinen, schäbigen Hotels«, sagte Udo oft kopfschüttelnd, zog an seiner Zigarre und vergrub sich wieder in die Biografien jener hochbegabten Musiker und Feingeister, die die stumpfen Mächtigen von damals als Stümper geschmäht, bedroht und verjagt hatten.
Männer wie Paul Abraham, der aus Budapest stammend im Berlin der 30er-Jahre das heruntergekommene Genre der Operette komplett erneuert hatte, der mit seinem Jazz und frechen Texten in den besten Häusern gefeiert wurde und der dann plötzlich flüchten musste nach New York.
Dort im Mutterland des Jazz hatte niemand auf Abraham gewartet. Ein König der neuen Operette in Europa, ein Niemand in Amerika.
Schnell gesellten sich Geldsorgen zur fehlenden Anerkennung, ein Strudel der Depression setzte ein, so verheerend, dass Abraham sich Mitte der 40er-Jahre auf der New Yorker Madison Avenue wiederfand, wo er statt eines Orchesters nur den Verkehr zu dirigieren versuchte – ohne dass die Polizei von Manhattan ihn darum gebeten hatte.
Einige Jahre war er darauf in der geschlossenen Psychiatrie in Long Island eingesperrt. Erst Mitte der 50er-Jahre dann Rückkehr nach Hamburg, erneut Psychiatrie, schließlich früher Tod 1960, umnachtet, in der Anstalt, überzeugt, in New York zu leben und bald jenen Erfolg zu haben, der ihm nie vergönnt gewesen war.
Oder Friedrich Hollaender, Kabarettist, Komponist, Klavierbegleiter in Stummfilm-Kinos. Vor allem aber schrieb er Musik zu Josef von Sternbergs Kinomeisterwerk »Der blaue Engel« mit Marlene Dietrich als Lola Lola, die »Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt« singt.
Auch er musste sein Leben retten und 1933 Deutschland verlassen, undenkbar zwei Jahre zuvor, als er sich im Berliner Kabarett mit dem Song »An allem sind die Juden schuld« noch über die Nazis und ihr durchsichtiges Sündenbock-Gesuche lustig gemacht hatte.
In Hollywood gründete er sein Berliner Tingel Tangel Theater neu. Zur Premiere kamen Stars wie Gary Cooper, Bette Davis und Ernest Hemingway.
Charlie Chaplin schrieb ins Gästebuch »Never laughed so much before« – aber als der Geschäftsführer mit der Kasse durchbrannte, war Hollaender erneut am Boden. Er rappelte sich wieder auf und wurde zu einem der beliebtesten Filmkomponisten Hollywoods, schrieb über 150 Songs unter anderem für Billy Wilder und Ernst Lubitsch, seine Lieder kletterten in die Charts, gesungen von Louis Armstrong, Bing Crosby und Billie Holiday.
Aber trotz dieser Erfolge blieb die Vertreibung eine Wunde. Mitte der 50er-Jahre kehrte Hollaender zurück nach München, wo er 1976 starb.
Abraham, Heymann, Weill, Eisler, Hollaender, alle diese Geflüchteten, die mit dem Leben davongekommen waren, einte neben ihrer Brillanz und einem Übermaß an Talent der Schmerz, in die Fremde ausgestoßen worden zu sein.
Alle wollten nach dem Krieg zurückkehren in ein Land, in dem ihre Familien zum Teil ausgelöscht worden waren.
Wurden sie mit offenen Armen empfangen? Nichts dergleichen, auch das geschrumpfte Deutschland blieb ein kaltes, verklemmtes, oft feindseliges Land. Eisler, der in Ostberlin eine Heimat fand und die Nationalhymne der DDR komponieren durfte, hatte Glück. Heymann dagegen musste im Westen noch 1957 einen »Kulturtest« absolvieren, um wieder einen deutschen Pass zu erhalten.
Udo wollte mit seinem Album...