DIE DREI MUSKETIERE
Sebastian will mit dem Rad fahren. Eine Studienabschlussreise. Ursprünglich wollte er allein ans Nordkap, aber vielleicht wäre es doch cooler, in den Iran zu fahren? Ja, durch Südosteuropa, wie die Landstreicher, nur mit Zelt und Schlafsack, und dann nach Teheran. Das wäre sicher lustig, und so weit wäre es dann auch wieder nicht. Ein paar tausend Kilometer nur. „Scheiße“, denke ich mir, „der macht das wirklich. Verdammt, da muss ich mitfahren, sonst bin ich nicht dabei.“
Sebastian ist von allen Uni-Weggefährten mein Lieblingsmensch. Warum? Weil er gerne lacht, gern Nonsens redet, trotzdem der Schlauste im ganzen Jahrgang ist und ständig furchtbar interessante Dinge zu erzählen hat. Ein treuer Freund, offen, ehrlich und nebenbei der Grund für meinen Studienerfolg. Irgendwann im zweiten Semester kreuzen sich unsere Wege. Seitdem marschieren wir im Gleichschritt durch Vorlesungen, Exkursionen und Prüfungen. Sebastian ist Vorzeigebiologe, die coole, zurückgelehnt-freundliche Art. Pünktlich ist er und sitzt immer bereits im Hörsaal, wenn es mich mit einer ordentlichen Verspätung reinspült. Er zieht die Jacke vom Sessel neben sich, den er mir verlässlich reserviert hat. „Hab ich was verpasst?“, frage ich ihn dann.
„Iwo. Überhaupt nichts versäumt.“
Sebastian ist mein Exkursionspartner, er findet die spannendsten Veranstaltungen, brieft mich und ich fahre überallhin mit. Wir nennen es unser Reisestudium, obwohl es offiziell schon Biologie heißt. Gemeinsam überqueren wir die Alpen, reisen nach Kasachstan, quer durch Österreich und Europa. Unsere Studienromanze, wie wir es scherzhaft nennen, bringt uns bis Costa Rica, in die Tieflandregenwälder und Mangrovensümpfe Mittelamerikas.
Mit Sebastian bilde ich ein Dschungel-Projektteam. Wir machen Wiederbewaldung für die Uni, endlich mal die Welt retten. Ein Projekt zur Wiederherstellung gerodeten Regenwalds. Das heißt für uns: Urwaldbäume zählen, bestimmen und vermessen, Bodenmineralien checken, pH-Wert und Konduktivität an unzähligen Standorten ermitteln und mit GPS verorten. Wir arbeiten in brütender Urwaldhitze, den Hügel rauf, den Hügel runter. Schlangen, Spinnen und viel Regenwaldschweiß. Danach nackt unter den Urwaldwasserfall und selbstgepflückte Bananen im Naturpool versnacken. Am Abend trinken wir, flirten mit den Mädels, braten ein Schwein über dem Lagerfeuer und tanzen Samba (neben-, nicht miteinander). Sebastian borgt mir sein T-Shirt, wenn meine schon alle stinken. Ich könne mich ruhig bedienen, das frische nehmen, meint er, das brauche er sowieso nicht: „Da, Paul, nimm!“, sagt er. Er würde mir wahrscheinlich auch eine Niere borgen, wenn ich ihn frage. Sebastian trinkt ein Glas Rum, wenn ich eine halbe Flasche davon saufe. Er lacht zwar, aber er schaut immer vorwurfsvoll, wenn ich ihn auf die augenscheinliche Schönheit weiblicher Körper aufmerksam mache. Ein moralisches Gewissen, ein Humanist, kein Sauprolet.
Sebastian, der Weltgewandte. Er weiß, wo der spitzeste Kirchturm der Welt steht, in St. Peter, nahe Ried im Innkreis, Oberösterreich. Sebastian kennt die Kiebitze der Innviertler Getreidefelder und die Wapiti-Hirsche des Yellowstone Nationalparks. Sebastian sagt: „Ja, stimmt, da war ich schon mal“, ganz egal, um welchen Ort der Welt es sich handelt.
Sebastian läuft den Marathon unter drei Stunden und den halben unter 1:25. Ein Sportler eben, Alpinist nebenbei. Sebastian ist kein überragender Fußballspieler, aber das liegt eher an seiner Brille, die dick und schwer ist und die er sich nur sehr ungern von der Nase schießen lässt. Sebastian schwimmt drei Kilometer durch den Lunzer See und kämpft sich durchs Schilf zurück, wenn er mit seinen sieben Dioptrien den Steg nicht mehr findet. Sebastian läuft mit mir kilometerweit zum Obersee, wo wir uns beide vor Anstrengung fast anspeiben. Am folgenden Tag, weil es so lustig war, machen wir denselben Lauf nochmal.
Sebastian hatte eine Freundin. Dann keine. Dann eine. Dann wieder keine. Furchtbar kompliziert. Zu guten Ideen sagt Sebastian: „Ja. Ja. Und nochmal Ja.“ Und wenn keiner mit guten Ideen daherkommt, dann bringt er sie eben selbst. Iran also. Wir legen unsere Abschlussprüfung am selben Tag hin, beantragen ein Visum in der iranischen Botschaft. Sebastian holt rechtzeitig, Monate zuvor, noch einen dritten Mitstreiter ins Boot, Thomas, und macht uns so zu einer schlagkräftigen Dreiergruppe.
Thommy-Boy ist Vorarlberger und liebt Agamen. Das ist die interessanteste Familie unter den Schuppenkriechtieren, seiner Meinung nach. Für den Laien kann man Agamen mit Eidechsen vergleichen, nur ungemein spannender. Flugdrachen, Segelechsen, Dornteufel, das sind alles Agamen. Exotische Tiere aus einer anderen Welt. Große Augen, kunterbunte Zeichnung, ein Jacobson-Organ, aufregend. Thomas fängt Schlangen mit der bloßen Hand. Die ungiftigen. Bei den giftigen müsse man ein wenig vorsichtiger sein, sagt er, da nehme er sich gern ein Buch oder ein Stöckchen zur Hilfe, um der Schlange erst den Kopf auf den Boden zu drücken. Thomas ist Taxonom, ein Systematiker also, der Getier in definierte wissenschaftliche Schubladen steckt. Er liebt Ordnungen, Gruppen, Familien, Gattungen und deren wissenschaftlich korrekte Logik. Thomas stellt sehr gerne Fragen und hört sich die dazugehörigen Antworten an. Egal, wie lange diese dauern mögen. Thomas und Mädchen? Ich weiß es nicht. Aber er macht einen Rückwärtssalto aus dem Stand.
Thomas liebt Wasser, Schwimmen, Tauchen, Schnorcheln, Fischfangen und Fischfressen. Ein Gewässerökologe eben. Thomas läuft genauso gerne nackt herum wie ich, er ist schwer schokoladesüchtig, hat eine militärische Ausbildung und war in jungen Jahren als KFOR-Soldat in Bosnien. Langweilig war es dort, meint er, aber er habe gut verdient und viel trainiert. Thomas ist ein super Klippenspringer, ein Turner und Leichtathlet und trotz seiner militärischen Vergangenheit kein Berufstrinker.
Thommy-Boy weiß mit seinen 23 Jahren, dass man im Schlaf nicht erfriert. Wichtig, wenn man bei minus 15 Grad Celsius in einem Zelt neben ihm liegt und sowohl der eigenen Angst als auch dem Kältetod ins Auge blickt. Denn auch mit Thomas verbindet mich eine Reisevergangenheit. Ein Freestyle-Zeltausflug in Kirgistan, bei dem wir ordentlich in Bedrängnis kommen. Thomas weiß so wie ich, dass man, wenn man zu zweit sieben Tage in einem abgeschiedenen kirgisischen Gebirgstal an einem forellenreichen Strom verbringen möchte, gut vorbereitet sein sollte. Das sind wir nicht. Wir fahren trotzdem in den verschneiten Nationalpark. Wir bringen nur Angelhaken und ein paar Beilagen für unsere Survival-Operation mit, sonst wäre es ja zu einfach, die Rucksäcke zu schwer und das ganze Unternehmen uninteressant. Thomas ist ein guter Fischer. Aber das hilft eben auch nichts, wenn im gesamten, angeblich forellenreichen Strom tatsächlich kein einziger Fisch lebt. Thomas und ich entscheiden uns, die Nahrungsmittelvorräte ab Tag eins zu rationieren. Wir kuscheln uns nachts aneinander, um nicht zu erfrieren, da die Nächte auf 2.600 Metern Seehöhe überraschend kalt werden. In der ersten Nacht frieren unsere Trinkwasserflaschen, die Bergschuhe und Socken, die vom nachmittäglichen Sturz in den forellenreichen Strom noch nass sind. Und wir frieren um unser Leben. Wir packen unsere Füße in Pullover, damit uns die Zehen nicht abfrieren. Wir liegen mit Handschuhen und Haube im Schlafsack, nur die Nasenspitze lugt in die Kälte. Wir bleiben die ganzen sieben Tage im Nationalpark, wie geplant, und kommen hungrig, durchgefroren und von der Frühlingssonne verbrannt zurück. Das war nicht geplant. Wir haben was erlebt.
Thomas ist organisiert, er kennt Fahrradtouren von wochenlangen Ausflügen durchs verregnete Polen. Er weiß als Einziger, was auf uns zukommt und übt zuhause das Flicken seiner Fahrradschläuche, das Reparieren der Bremsen und das Tauschen der Schalt- und Bremsseile. Er übt das Einstellen der Schaltung und den Wechsel der Tretlager. Er montiert zwei Gepäckträger und fünf Packtaschen an seinem 20 Jahre alten Waffenrad. Das Gewicht der Taschen ist austariert und jede Einzelheit wasserdicht verpackt. Thomas ist vorbereitet und fährt nicht faul mit dem Zug nach Wien. Nein, er fährt mit dem Fahrrad ab Bregenz, denn Thomas trainiert schon vorsorglich. Er plant, es in sieben Tagen zu meiner Wiener Wohnung zu schaffen und wird die Nacht vor der Abreise bei mir schlafen.
Und ich? Ich bin der dritte Musketier! Mich selbst zu beschreiben fällt schwer, denke ich. Ich bin ein 28-jähriger Mann. Noch ein Junge? Hochgewachsen, mit sonnengebleichten Haaren und sportlicher Statur. Am Papier und im echten Leben habe ich Studien abgeschlossen: Biologie, Publizistik, Medienmanagement. In meinem Lebenslauf behaupte ich, teamfähig, kreativ, aufgeschlossen, projektfähig und weltoffen zu sein. Vier Sprachen und viele Soft-Skills, Auslandspraktika und Berufserfahrung in London und Paris. Ich arbeite an der Universität, bin gut vernetzt, jung und dynamisch. Daneben wird, zu großem eigenen Vergnügen und auch aus...