Ich schreibe nur für hundert Leser, für unglückliche, liebenswerte, prächtige, aller Heuchelei bare, durchaus amoralische Menschen. Manchen, dem dieses Buch in die Hände kommt, möchte ich fragen: Bist du in deinem Leben einmal ein halbes Jahr lang aus Liebe unglücklich gewesen? Und eine zweite indiskrete Frage: Liesest du hin und wieder eins jener anmaßenden Bücher, die den Leser zum Nachdenken zwingen, zum Beispiel ’Emil‘ von Jean Jacques Rousseau oder die Werke Montaignes? Wenn du niemals unglücklich warst ob jener Schwäche der starken Seelen, wenn du die widernatürliche Angewohnheit, beim Lesen nachzudenken, nicht hast, so wird dich das vorliegende Buch gegen den Verfasser stimmen, denn es muß dich ahnen lassen, daß es ein gewisses großes Glück gibt, das du nicht kennst, jenes Glück, das Julie de Lespinasse erfahren hat. Aber Wunder kann ich nicht tun, ich kann die Blinden nicht sehend und die Tauben nicht hörend machen.
»Die Liebe gleicht dem, was man am Himmel Milchstraße nennt. Sie ist ein schimmerndes Meer, von Myriaden kleiner Sterne gebildet, von denen der einzelne meist nicht wahrnehmbar ist. In der Literatur hat man vier-bis fünfhundert von den kleinen aneinandergereihten Empfindungen festgestellt, die einzeln zu erkennen so schwierig ist und die zusammen jene Leidenschaft ausmachen, dazu die größeren, freilich nicht ohne sich häufig zu irren, indem man Begleiterscheinungen für Hauptdinge gehalten hat. Die besten solcher Bücher von der Art der ’Manon Lescaut‘, der ’Neuen Heloise‘, der ’Briefe der Mademoiselle de Lespinasse‘ sind in Frankreich geschrieben, also in dem Lande, wo das Pflänzlein namens Liebe, erstickt unter den Forderungen der Nationalleidenschaft, der Eitelkeit, fast nie zu seiner vollen Größe gedeiht.
»Damit will ich aber keineswegs sagen, man könne die Liebe aus Romanen kennen lernen. Und wenn man sie in hundert berühmten Büchern beschrieben gefunden hätte und hätte sie niemals selber gefühlt, was wäre es, wenn man aus dem Gelesenen die Erklärung jener Torheit ergrübeln wollte? Wie ein Echo muß ich antworten: Torheit! Dieses kleine Buch ist kein amüsanter Roman, sondern lediglich eine wissenschaftlich genaue Beschreibung einer gewissen in Frankreich ungemein seltenen Torheit. Die Herrschaft der Wohlanständigkeit, die täglich größer wird, mehr infolge der Furcht vor dem Sichlächerlichmachen als durch die Lauterkeit unsrer Sitten, hat aus dem Worte, das diesem Buche den Titel gibt, einen Ausdruck gemacht, den man an und für sich vermeidet und der sogar anstößig klingen kann…
»Im Jahre 1814 machten mich die veränderten Verhältnisse, die dem Sturze Napoleons folgten, berufslos. Bereits vordem, unmittelbar nach den gräßlichen Erlebnissen auf der Retraite de Moscou, hatte mich der Zufall nach Mailand geführt, einer liebenswürdigen Stadt, in der ich am liebsten den Rest meiner Tage beschlossen hätte. Das war mein Lieblingsgedanke. In der glückseligen Lombardei, in Mailand, in Venedig, da ist die Hauptsache oder besser gesagt der Brennpunkt des Daseins: das Vergnügen. Da kümmert man sich kein bißchen um das Tun und Lassen seines Nachbars.
»Es war dort in Mailand zu den glänzenden Maskenbällen des Karnevals von 1820, im Hause der liebenswürdigen Frau Pietragrua, in einer Abendgesellschaft, wo über ein paar selbst für dortige Verhältnisse tolle Liebesgeschichten sehr lebhaft debattiert wurde. Mir fiel beiläufig ein, daß ich von all’ diesen wunderlichen Tatsachen und den ihnen zugeschriebenen Ursachen schon nach einem Jahre kaum noch eine verschwommene Erinnerung haben würde, und das veranlaßte mich, mir heimlich Aufzeichnungen auf ein Konzertprogramm zu machen. Man wollte Pharao spielen. Wir saßen unsrer dreißig um einen Spieltisch, aber die Unterhaltung war so lebhaft, daß darüber das Spiel vergessen ward. Als dann noch der Oberst Scotti hinzukam, der zufällig die Intimitäten jener bizarren Vorfälle kannte und davon erzählte, erschienen sie mir in ganz neuem Lichte. Ich zeichnete mir auch diese neuen Momente auf. Auf gleiche Weise machte ich mir auch in anderen Salons, wo von denselben Dingen die Rede war, Aufzeichnungen, und bald hatte ich das Bedürfnis, ein allgemeines Gesetz für die verschiedenen Grade der Liebe festzulegen.
»Wenige Monate darauf mußte ich Mailand verlassen. In Paris vereinigte ich meine aphoristischen Aufzeichzeichnungen zu einem Hefte, das ich einem Verlagsbuchhändler schenkte. Der Drucker erklärte aber, es sei ihm unmöglich, diese Bleistiftnotizen zu drucken; offenbar hielt er das Setzen nach einem derartigen Manuskript für unter seiner Würde. Ich mußte es dem Druckerlehrling noch einmal diktieren. Als ich dann die Korrekturen dieser meiner moralischen Reise durch Italien und Deutschland las, deren Fakta immer am Tage, wo ich sie beobachtet hatte, niedergeschrieben sind, habe ich das Manuskript mit seiner umständlichen Beschreibung aller Zustände jener Krankheit, genannt Liebe, voll blinder Ehrfurcht behandelt etwa wie ein Gelehrter des dreizehnten Jahrhunderts eine eben aufgefundene alte Handschrift des Lactantius oder des Quintus Curtius.
Wenn der Leser auf irgend eine dunkle Stelle stößt, und das wird ihm, offengestanden, häufig passieren, so bitte ich, jenem alten Ich die Schuld zuzuschieben. Ich gestehe, meine Ehrfurcht vor dem Originalmanuskript ist so weit gegangen, daß etliche Stellen gedruckt worden sind, die ich selber nicht mehr verstand …
»Es war eine Gefahr für mich, die Korrekturen eines Buches zu lesen, das mich alle Nuancen meiner Empfindungen in Italien von neuem durchleben ließ. Ich hatte die Schwäche, ein Zimmer in Montmoreney zu mieten. Abends fuhr ich mit der Post hinaus. Mitten im Walde korrigierte ich meine Bogen. Ich wäre dabei beinahe verrückt geworden. Häufig machte ich die Korrekturen auch im Park der Gräfin Beugnot in Corbeil. Dort konnte ich den trüben Träumeieien aus dem Wege gehen; sobald ich mit arbeiten aufhörte, ging ich in den Salon. Mit allen Sinnen war ich bei Mathilde; oft hatte ich Tränen in den Augen. Ich hegte wohl den Plan, mein Buch umzuarbeiten, aber tiefer über Dinge der Liebe nachzudenken, machte mich zu traurig. Es war mir, als ob man mit rauher Hand an eine kaum vernarbte Wunde rührte. An dem Buche zu arbeiten, tat mir weh. So nötig es gewesen wäre, ich habe es auch später nicht umzuarbeiten vermocht…
»Ich veröffentlichte ein Schmerzenskind.
»Obgleich ich das Manuskript dem Verleger Mongie geschenkt hatte, druckte er es auf schlechtem Papier und in lächerlichem Duodezformat.
»Ich habe dem Publikum nicht geschmeichelt, und das in einer Zeit nach gewaltigen Umwälzungen und Niederlagen, wo die ganze Literatur nur den Zweck zu haben schien, unsere Eitelkeit in ihrem Unglück zu trösten. Unter Ludwig dem Fünfzehnten war die Liebe in Frankreich allmächtig; die Namen am Hofe machten ihre Liebhaber zu Obersten. Heute, nach fünf radikalen Umwälzungen in Zweck und Form der Regierung, vermöchte einem auch die einflußreichste Frau der regierenden Bourgeoisie oder des grollenden Adels kaum noch einen Tabaksverschleiß in einem Dorfe zu verschaffen. Die Frauen sind nicht mehr in Mode. Die goldne Jugend, die sich gern einen frivolen Anstrich gibt, um als Erbin der guten Gesellschaft von ehedem dazustehen, spricht lieber von Pferden oder spielt im Klub, wo keine Frauen zugelassen sind. Eine tödliche Froschblütigkeit hat unsre Generation ergriffen. Die Gesellschaft von 1778, wie wir sie in Diderots Briefen an seine Geliebte, Mademoiselle Voland, oder in den Memoiren der Madame d’Epinay finden, ist unsrer Zeit völlig unverständlich geworden.«
Soviel erzählt Beyle selbst teils in verschiedenen Vorreden für eine künftige Neuausgabe von De l’Amour, die er nicht mehr erleben sollte, teils in seinen »Erinnerungen«. Heute ist dieses Buch, das einst in zwölf Jahren nur siebzehn Käufer gefunden hat, über den ganzen Erdball verbreitet, es ist sogar eins der wenigen Literaturwerke, die die Japaner in ihre Sprache übertragen haben, weil es ihnen geeignet erscheint, die gelbe Rasse in die ihr geheimnisvolle Empfindungsweise der Europäer einzuweihen. Sein Verfasser, dem es lebenslang wie ein ungezogenes Lieblingskind am Herzen lag, hat somit nicht zu Unrecht gesagt: »Man wird es um 1900 lesen.«
Stendhal nennt sein Buch ein livie d’idéologie. »Ich bitte die Philosophen um Verzeihung,« schreibt er in einer (fortgelassenen) Anmerkung, »daß ich das Wort Ideologie gewählt habe. Ich will gewiß niemandem etwas ihm Zustehendes rauben. Wenn man unter Ideologie eine ausführliche Beschreibung der Ideen und aller ihrer Bestandteile versteht, so ist dieses Werk eine ausführliche und sorgfältige Beschreibung aller Gefühle, die die Leidenschaft der Liebe ausmachen. Ich kenne leider kein griechisches Wort für ’Abhandlung über Gefühle‘, wie Ideologie ’Abhandlung über Ideen‘ bedeutet. Schon mit dem Ausdruck Kristallbildung werde ich mißfallen.«
An diese Randglosse anknüpfend hat ein Kritiker der ersten Auflage der vorliegenden deutschen Übertragung mit vollem Verständnis bemerkt: »Stendhals Buch über die Liebe ist in der Hauptsache egotistisch, denn es schildert als Ergebnisse feinster Selbstanalyse die Empfindungsweise seines heißblütigen Verfassers und...