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E-Book

Über die Liebe zum Leben Rundfunksendungen

AutorErich Fromm
VerlagEdition Erich Fromm
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl Seiten
ISBN9783959120876
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Alle Beiträge (bis auf den letzten) entstammen Rundfunkvorträgen, die Erich Fromm Anfang der Siebziger Jahre im damaligen Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart gehalten hat. Initiiert wurden sie durch den damaligen Chefredakteur 'Kultur', Hans Jürgen Schultz. Die Vorträge und Interviews sind für den deutschen Zuhörer und Leser allein schon deshalb kostbar, da sie aus der freien Rede des (wieder) Deutsch sprechenden Erich Fromm entstanden sind. Auch wenn durch die Verschriftlichung manche sprachlichen Unebenheiten geglättet wurden, so klingt das gesprochene Wort noch immer durch und sind zahlreiche Amerikanismen zu entdecken. Fromm hatte die Gabe, mit Hilfe von ein paar Stichworten frei und fast druckreif sprechen zu können. Und er konnte komplizierte Sachverhalte in einfachen, erlebnisnahen Worten zur Darstellung bringen. Die hier versammelten Vorträge und Interviews können über das Erich Fromm Institut Tübingen (fromm-estate@fromm-online.com) auch auf CD erworben werden.

Erich Fromm, Psychoanalytiker, Sozialpsychologe und Autor zahlreicher aufsehenerregender Werke, wurde 1900 in Frankfurt am Main geboren. Der promovierte Soziologe und praktizierende Psychoanalytiker widmete sich zeitlebens der Frage, was Menschen ähnlich denken, fühlen und handeln lässt. Er verband soziologisches und psychologisches Denken. Anfang der Dreißiger Jahre war er mit seinen Theorien zum autoritären Charakter der wichtigste Ideengeber der sogenannten 'Frankfurter Schule' um Max Horkheimer. 1934 emigrierte Fromm in die USA. Dort hatte er verschiedene Professuren inne und wurde 1941 mit seinem Buch 'Die Furcht vor der Freiheit' weltbekannt. Von 1950 bis 1973 lebte und lehrte er in Mexiko, von wo aus er nicht nur das Buch 'Die Kunst des Liebens' schrieb, sondern auch das Buch 'Wege aus einer kranken Gesellschaft'. Immer stärker nahm der humanistische Denker Fromm auf die Politik der Vereinigten Staaten Einfluss und engagierte sich in der Friedensbewegung. Die letzten sieben Jahre seines Lebens verbrachte er in Locarno in der Schweiz. Dort entstand das Buch 'Haben oder Sein'. In ihm resümierte Fromm seine Erkenntnisse über die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. Am 18. März 1980 ist Fromm in Locarno gestorben.

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Leseprobe

Über die Ursprünge der Aggression


(1983c [1971])[4]

Dass man sich heute mit dem Problem der Aggression[5] immer mehr beschäftigt, braucht einen kaum zu wundern: Wir haben Kriege hinter uns, wir erleben Kriege in der Gegenwart, und wir fürchten uns vor einem Atomkrieg, für den sich alle Großmächte rüsten. Gleichzeitig fühlen sich die Menschen ohnmächtig, daran etwas zu ändern. Sie sehen, dass die Regierungen scheinbar bei aller Weisheit und allem guten Willen es noch nicht einmal zustande bringen, das atomare Wettrüsten zu verringern oder zu stabilisieren. Und so ist es verständlich, dass die Menschen auf der einen Seite gerne wissen möchten, woher denn die Aggression kommt, und dass sie auf der anderen Seite aber auch sehr empfänglich sind für Theorien, die besagen, dass die Aggression gar nicht von den Menschen selbst geschaffen wird, dass sie auch nicht in den sozialen Bedingungen begründet liegt, sondern in der Natur des Menschen. Gerade diese Position wurde sehr populär durch ein Buch von Konrad Lorenz, das vor einigen Jahren erschienen ist: Das sogenannte Böse – Zur Naturgeschichte der Aggression (K. Lorenz, 1963). Lorenz behauptet, dass Aggression ständig und spontan im Menschen erzeugt wird, und zwar in seinem Gehirn, dass sie ein Erbe unserer tierischen Ahnen ist und dass diese Aggression immer mehr steigt, immer größer wird, wenn sie kein Ventil hat. Gibt es einen Anlass, dann drückt sie sich aus; sind die Anlässe aber sehr schwach oder gibt es keine, dann explodiert zum Schluss diese akkumulierte Aggression. Der Mensch kann gar nicht anders, als nach einiger Zeit aggressive Akte zu begehen, weil die aggressive Energie sich in ihm so angehäuft hat. Diese Theorie kann man eine „hydraulische Theorie“ nennen: Je mehr der Druck steigt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass schließlich das Wasser oder der Dampf explodiert. Lorenz hat ein ganz hübsches Beispiel gegeben, mit dem er diese Theorie illustriert, die Geschichte von seiner Tante in Wien. Diese Dame hat jedes halbe Jahr ein neues Dienstmädchen angestellt; das war noch in den alten Zeiten. Und wenn das Dienstmädchen kam, dann war sie immer ganz begeistert und hatte die größten Erwartungen. Das dauerte ein, zwei Wochen, dann schwand langsam die Begeisterung. Schließlich wurde sie kritisch, unzufrieden, und nach ungefähr sechs Monaten wurde sie so wütend auf das Dienstmädchen, dass sie ihm gekündigt hat. Das spielte sich mehr oder weniger regelmäßig alle sechs Monate ab. Dieses Beispiel soll zeigen, wie die [XI-350] Aggression langsam akkumuliert und wie sie sich dann an einem bestimmten Punkt entladen muss.

Von außen gesehen sieht das vielleicht so aus. Aber wenn man etwas mehr vom Menschen versteht als Lorenz – er versteht sehr viel von Tieren –, dann weiß man, dass das keine sehr gute Erklärung ist. Ein Psychoanalytiker – und nicht nur er, sondern die meisten Menschen mit ein bisschen Einsicht – wird annehmen, dass diese Tante eine sehr narzisstische, ausbeuterische Frau ist, die gerne möchte, dass, wenn sie schon ein Dienstmädchen mietet, sie mit dem Gehalt oder Lohn nicht nur acht Stunden Arbeit kauft, sondern die Liebe, die Treue, die Anhänglichkeit, die Freundlichkeit und fünfzehn Stunden Arbeit am Tag. So kommt sie immer mit dieser großen Erwartung dem neuen Mädchen entgegen, ist wohl am Anfang auch etwas nett und verführerisch zu ihr, weil sie schon im Voraus annimmt, das wird die Richtige sein. Aber bei näherem Zusehen ist das Dienstmädchen durchaus nicht die Person, die ihren Erwartungen entspricht. So wird sie immer enttäuschter, wird wütender, wirft sie in der Hoffnung hinaus, dass sie das nächste Mal die Richtige finden wird. Da sie außerdem wahrscheinlich nicht viel zu tun hat, gibt das ihrem Leben etwas Dramatik. Und sie hat etwas zu erzählen; wahrscheinlich ist es der Hauptgesprächsstoff, über den sie mit ihren Freundinnen reden kann. Das alles hat also gar nichts mit aufgestauter Aggressivität zu tun, sondern mit einer ganz bestimmten Charakterstruktur. Ich bin sicher, zumindest die Älteren von Ihnen kennen eine ganze Reihe von Menschen, die sich – ob es nun noch Dienstmädchen gibt oder nicht – im entsprechenden Fall genauso verhalten würden.

Die Theorie vom angeborenen Aggressionstrieb, auf deren Einzelheiten ich hier nicht eingehen kann, steht in einer gewissen Nähe zur älteren Theorie vom Todestrieb. Seit den zwanziger Jahren nahm Freud an, dass es in jedem Menschen, in allen Zellen, in aller lebendigen Substanz zwei Triebe gibt: den Trieb zum Leben und den Trieb zum Sterben. Und dieser Trieb zum Sterben – oder, genauer gesprochen, zum Tode – äußert sich darin, dass er entweder nach außen gewendet wird, dann erscheint er als Destruktivität, oder nach innen, dann erscheint er als selbstzerstörerische Kraft, die zu Krankheit, zu Selbstmord oder, wenn vermischt mit sexuellen Impulsen, zu Masochismus führt. Der Todestrieb ist etwas dem Menschen Angeborenes; er ist nicht bedingt von Umständen, er wird durch nichts erzeugt, sondern der Mensch hat eigentlich nur die Wahl, diesen Vernichtungs- und Todestrieb gegen sich selber oder gegen andere zu wenden. Und damit hat er eine recht tragische Wahl zu treffen.

Tatsächlich sind diese Theorien von der angeborenen Aggressivität seit vielen Jahren bei den verschiedenen von diesem Problem betroffenen Wissenschaftlern kaum belegt. Im Ganzen wird in der Psychologie angenommen, dass die Aggressivität bedingt ist durch soziale Verhältnisse, oder „gelenkt“ wird durch ganz bestimmte Reize, durch die Kultur usw., eben durch viele Umstände. Aber gerade in der öffentlichen Meinung hat die Aggressionstheorie von Lorenz eine große Popularität gefunden – ich glaube, aus den Gründen, die ich vorhin erwähnt habe. Sie gibt eine Erklärung, die einen darüber hinwegtäuscht, dass man vielleicht etwas tun könnte. Sie bietet so etwas wie eine gute Entschuldigung an: Alle diese Gefahren und alle diese Aggressionen sind eben doch dem Menschen angeboren. Und was kann der Mensch schon gegen seine Natur machen? [XI-351]

Es hat schon immer zwei Meinungen gegeben. Die eine sagt: Der Mensch ist von Natur aus böse, destruktiv. Darum ist der Krieg unvermeidlich und darum sind auch strenge Autoritäten unvermeidlich. Also muss man den Menschen kontrollieren, muss man ihn vor seiner eigenen Aggressivität schützen. Und es gab die andere Idee: Der Mensch ist gut von Natur aus, er ist nur schlecht durch soziale Umstände. Ändert man die Umstände, dann kann man das Böse im Menschen, die Aggressivität des Menschen reduzieren oder sogar ganz aus der Welt schaffen. Beide Meinungen enthalten einseitige Übertreibungen. Diejenigen, die von der natürlichen und angeborenen Aggressivität des Menschen sprechen, sind geneigt zu übersehen, dass es ja sehr viele gesellschaftliche Epochen, sehr viele Kulturen und sehr viele Individuen gibt, bei denen die Aggressivität äußerst gering ist. Wäre die Aggression aber angeboren, dann dürfte das nicht so sein. Auf der anderen Seite aber waren die Optimisten, die gegen Krieg, für Frieden, für soziale Gerechtigkeit waren, oft geneigt, die Bedeutung, die Stärke der menschlichen Aggressivität wenn nicht zu verleugnen, so doch zum mindesten zu unterschätzen. Das war die Meinung der Philosophen der Aufklärung in Frankreich, und diese optimistische Meinung kann man sogar noch etwas im Werk von Karl Marx und im Glauben der frühen Sozialisten sehen.

Ich selbst nehme hier eine dritte Position ein, auch wenn sie der zweiten näher steht als der ersten. In erster Linie gehe ich davon aus, dass der Mensch viel destruktiver, viel grausamer ist als das Tier. Das Tier ist nicht sadistisch, das Tier ist nicht lebensfeindlich; aber die menschliche Geschichte ist ein Bericht unvorstellbarer Grausamkeiten und außerordentlicher Destruktivität. Von diesem Standpunkt aus ist es nicht nötig, die Stärke, die Intensität der Aggressivität zu verkleinern. Doch ich glaube nicht, dass die Wurzeln dieser Aggressivität im Tierischen liegen, weder in den Instinkten noch in unserer tierischen Vergangenheit. Vielmehr hat die menschliche Aggressivität, insofern sie größer ist als die des Tieres, ihre Begründung in den spezifischen Bedingungen der menschlichen Existenz. Die Aggressivität ist böse, die Destruktivität ist böse – und zwar nicht, wie Lorenz meint, nur „sogenannt“ böse –, aber sie ist menschlich. Sie ist eine Möglichkeit, die im Menschen, in uns allen angelegt ist und die sich manifestiert, wenn der Mensch sich nicht in einer besseren, reiferen Weise entwickelt.

Die menschliche „Extra-Aggression“, das heißt also die Aggression, die beim Menschen größer ist als beim Tier, liegt im menschlichen Charakter begründet. Ich meine hier Charakter nicht im juristischen Sinn, sondern Charakter im psychoanalytischen Sinn als ein System der Bezogenheiten des Menschen zur Welt.[6] Unter Charakter verstehe ich etwas, wodurch der Mensch sich einen Ersatz für die tierischen Instinkte geschaffen hat, die bei ihm nur sehr schwach entwickelt sind. Was ich hier vom Charakter sage, mag vielleicht etwas theoretisch klingen; aber wenn Sie sich nach Ihren eigenen Erfahrungen fragen, dann bin ich sicher, dass viele von Ihnen genau wissen, was man mit Charakter in diesem Sinne meint. Sicher haben Sie Menschen gesehen, von denen Sie sagen, sie haben einen sadistischen Charakter. Sie haben aber auch andere getroffen, die Sie als „gütige Menschen“ bezeichnen. Damit meinen Sie ja nicht, dass der Mann einmal sadistisch gehandelt hat oder dass der Mann einmal recht freundlich gewesen ist, sondern Sie beziehen sich auf eine Charaktereigenschaft, die sein ganzes Leben durchzieht. Es gibt sadistische...

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