Alle Denkenden sehen, dass die von den Religionen und Gesetzen des Abendlandes aufrecht erhaltenen Begriffe über die Sittlichkeit des Geschlechtsverhältnisses in unserer Zeit eine eingreifende Neugestaltung erfahren.
Wie allen anderen derartigen Umwandlungen stemmt sich auch dieser das Misstrauen der Gesellschaftserhalter entgegen, welches sich auf die Überzeugung gründet, dass dem Menschen die Macht gebricht, selbst die Entwicklung in aufsteigende Richtung zu leiten. Diese Leitung kommt, meinen sie, der transzendenten Vernunft zu, die sich in dem Wirklichen ausdrückt und so das Wirkliche vernünftig macht. Die jetzige Ehe ist eine historisch entstandene Wirklichkeit und folglich auch vernünftig. Die historische Kontinuität – und religiöse und ethische Bedürfnisse – bedingen die Fortdauer der jetzigen Ehe als unabweisliche Voraussetzung für den Bestand der Gesellschaft.
Die Neuerer lassen die transzendente Vernunft aus dem Spiele. Aber auch sie anerkennen den Zusammenhang zwischen dem Wirklichen und dem Vernünftigen in gewissem Grade, nämlich dass das, was wirklich geworden, auch vernünftig gewesen ist – solange es unter gewissen gegebenen Gesellschaftsverhältnissen und Seelenzuständen am besten den Bedürfnissen der Menschen in irgend einer bestimmten Richtung entsprochen hat. Sie erkennen die Unentbehrlichkeit fester Gesetze und Sitten an, denn nur sie vertiefen die Gefühle zu Quellen von Willensimpulsen, welche stark genug sind, von Handlungen ausgelöst zu werden. Sie begreifen, dass die bewahrenden, die festhaltenden Gefühle für die Seele dieselbe Bedeutung haben, wie das Knochengerüst für den Körper.
Die historische Notwendigkeit hingegen, die darin bestehen sollte, dass die Menschheit Schicksale, die sie selbst nicht bestimmt, abwartet und über sich ergehen lässt, ist für diese Neuerer eine Sinnlosigkeit. Das "historisch Notwendige" ist in jeder Zeit der verwirklichte Wille der der Anzahl oder der Art nach stärksten Menschen, verwirklicht in dem Masse, in dem Natur und Kultur ihrer Machtausübung günstig sind. Diese Neuerer wissen, dass die abendländische Ehe teils aus den stets gleichbleibenden physisch-psychischen Ursachen der Arterhaltung entstanden ist, teils aus historischen Ursachen, die vorübergehend waren, obgleich ihre Wirkungen auf diesem Gebiete wie auf vielen anderen, noch immer fortdauern. Sie wissen, dass von allen Schöpfungen des Gesellschaftslebens die Ehe die zusammengesetzteste, die verletzlichste, die bedeutungsvollste ist; und sie begreifen darum, dass Entsetzen die Mehrzahl ergreifen muss, wenn jemand an das Heiligtum so vieler Generationen Hand anlegt.
Aber – sie wissen auch, dass Leben Umwandlung ist; dass jede Umwandlung ein Absterben früher lebenstauglicher Wirklichkeiten und eine Bildung neuer solcher bedeutet. Sie wissen, dass sich dieses Absterben und diese Neubildung niemals gleichförmig vollziehen; dass Gesetze und Sitten, die sich jetzt für die Höherstehenden als lebenshemmend erweisen, für die Mehrzahl noch lebensfördernd sind und darum auch so lange bestehen müssen, wie sie diese ihre Eigenschaft bewahren. Aber sie wissen auch zugleich, dass durch die wenigen Höherstehenden – diejenigen, deren Bedürfnisse und Kräfte die veredeltsten sind – auch den Vielen schliesslich ein höheres Dasein zuteil wird. Die Voraussetzung aller Entwicklung ist, sich nicht mit dem Seienden zu begnügen, sondern den Mut zu der Frage zu haben, wie alles besser werden könnte, und das Glück, im Denken oder Handeln eine richtige Antwort auf diese Frage zu finden.
Die Unzufriedenheit der Höchststehenden mit den Widersprüchen zwischen ihren erotischen Bedürfnissen und der Form für deren berechtigte Befriedigung ruft nun Angriffe auf die Ehe hervor, die doch ihren eigenen Grosseltern noch genügte, wie sie unzähligen Zeitgenossen genügt. Diese Menschen wissen wohl, dass ihre Unzufriedenheit die Ehe nicht zerstören wird, so lange die Seelen- und Gesellschaftszustände fortdauern, die sie aufrecht erhalten. Aber – sie wissen auch, dass ihr Wille allmählich Seelen- und Gesellschaftszustände umgestalten wird. Und sie sehen schon auf der Hemisphäre der Seele Zeichen und Wunder, die die Erfüllung der Zeit künden.
Die Neuerer glauben nicht, dass die Missverhältnisse und Widersprüche, die mit den natürlichen Bedingungen der Arterhaltung unauflöslich verbunden sind, durch irgendwelche Gesetze aufgehoben werden können. Und weil sie einsehen, dass vollkommene Freiheit ein Begriff ist, der nur mit vervollkommneter Entwicklung zusammenfällt, sehen sie auch ein, dass neue Formen oft nicht nur Freiheitserweiterungen, sondern auch bisher unbekannte Freiheitseinschränkungen mit sich bringen.
Was sie wollen, das sind solche Formen, die, ob sie nun die Handlungsfreiheit einschränken oder erweitern, einen für das Individuum und das Menschengeschlecht lebenssteigernden Gebrauch der erotischen Kräfte fördern. Sie hoffen nicht, dass die neue Form fertig dastehen werde, ebensowenig wie sie erwarten, dass alle Menschen dafür fertig sein werden. Aber sie hoffen, die höheren Bedürfnisse zu nähren, die reicheren Kräfte zu wecken, die schliesslich die neue Form auch für die Mehrzahl notwendig machen werden. Diese Hoffnung befeuert ihr zielbewusstes Streben, das von der Gewissheit geleitet wird, dass die persönliche Liebe der höchste Wert des Lebens ist, sowohl unmittelbar für den einzelnen selbst, wie mittelbar für die neuen Leben, die seine Liebe schafft.
Und diese Gewissheit breitet sich von Tag zu Tag rings in der Welt aus.
Ohne an eine übermenschliche Vernunft zu glauben, die die Entwicklung leitet, muss doch jeder an eine in-menschliche glauben, an eine Triebkraft, die die jedes besonderen Volkes ebenso sehr übertrifft, wie die des Organismus die des Organs. Diese Vernunft wächst, je mehr die Einheit der Menschheit sich consolidiert. Immer weniger kann das eine Volk seine Eigenart vor dem Einflusse des anderen bewahren. Und dies zeigt sich nun besonders deutlich auf dem Gebiete der Erotik. Während nordische und angelsächsische Ideen über die geschlechtliche Sittlichkeit in der romanischen Literatur aufblitzen, sind romanische Gesichtspunkte der Liebe teilweise für die Meinungen bestimmend, die man im Norden als "die neue Unsittlichkeit" bezeichnet.
So fliegen zwischen Land und Land Schiffchen aus Gold und Schiffchen aus Stahl, die den bunten, feinen Einschlag des Gegenwartsbewusstseins durch Faden um Faden der starken Kette ziehen, die aus den Gesetzen und Sitten der verschiedenen Völker gebildet ist. Das Folgende ist zum Teil eine Zeichnung des neuen Musters, das von dieser Webekunst gebildet ist, zum Teil enthält es einige in dieses Muster eingefügte neue Motive.
Diejenigen, welche die Monogamie als das einzige Ziel der geschlechtlichen Sittlichkeit und als die einzige berechtigte Form der persönlichen Liebe betrachten, meinen damit nicht die scheinbare Monogamie, die das Gesetz vorschreibt, aber die Sitten umgehen. Sie meinen die wirkliche Monogamie: ein einziger Mann für eine Frau während der Lebenszeit dieses Mannes; eine einzige Frau für einen Mann während der Lebenszeit dieser Frau, und ausserhalb dessen vollständige Enthaltsamkeit. Als Entwicklung erkennen sie nur eine immer vollere Verwirklichung dieses Ideals an; in der Tendenz der Gegenwart, mehrere Entwicklungslinien anzunehmen, sehen sie nur Verfall – und in diesem Sinne wird das Wort Monogamie in diesem Buche gebraucht werden.
Die Bekenner des Lebensglaubens hingegen sehen die Ideale des Menschen als Ausdrucksformen für die Steigerung seiner Lebensbedürfnisse an. Ideale, die einstmals ein Ansporn zur Entwicklung waren, werden so zu ihrem Hemmnis, sobald die Lebensbedürfnisse neue Formen verlangen, die von dem herrschenden Idealismus nicht gutgeheissen werden. Nur wer an übersinnliche, gotteingegebene Ideale glaubt, stellt sie für alle Naturen und alle Zeiten auf. Der Evolutionismus hingegen weiss, dass niemals alle Wesen, die wir mit einem Worte das Menschengeschlecht nennen, die aber in Wirklichkeit fast ebensovielen verschiedenen Geschlechtern angehören wie die Tierwelt, einem und demselben Ideal gehuldigt haben oder huldigen können. Ja, sie freuen sich, dass sich die Menschheit nicht durch einen einzigen Glauben, eine einzige Sitte, ein einziges Ideal gleichformen lässt, weil sie in der Mannigfaltigkeit des Lebens einen grossen Teil seines Wertes sehen. Sie meinen, dass schon dies Grund genug ist, allmählich den einzelnen innerhalb derselben Zeit und demselben Volke die Freiheit zu geben, die, historisch gesehen, demselben Volke zu verschiedenen Zeiten zuerkannt wird, oder ethnographisch gesehen, verschiedenen Völkern zur selben Zeit: die Freiheit nämlich, innerhalb gewisser Grenzen selbst die Form seines geschlechtlichen Lebens zu wählen. Und dies um so mehr, als die geographischen, klimatischen, historischen und ökonomischen Verschiedenheiten zwischen den Seelen ebenso gross sind, wie zwischen Völkern und Zeiten, und das, was den Bedürfnissen und der Kraftentwicklung des einen entspricht, folglich nicht der des anderen entsprechen kann.
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