Die Einführung neuer Medien, so also die These, war schon immer von Diskursen begleitet. Wie bereits im vorigen Kapitel verdeutlicht wurde, ziehen Neueinführungen stets in den verschiedensten Bereichen Auswirkungen für das Zusammenleben nach sich. Im öffentlichen Diskurs werden diese Auswirkungen verhandelt, um neue Regelungen und Verhaltensweisen zu etablieren und so eine Integration der jeweils neuen Medien in das alltägliche Leben zu bewirken.
Im ersten Schritt soll zunächst geklärt werden, was hier unter einem Diskurs zu verstehen ist und warum Diskurse für die vorliegende Thematik von Interesse sind. Daraufhin wird der Blick darauf gerichtet, welche gesellschaftliche Bedeutung Diskurse, im Speziellen Mediendiskurse[8], haben bzw. haben können. Mit einem Blick auf die Mediendiskursgeschichte soll anhand einiger ausgewählter Beispiele gezeigt werden, dass Medienwandel nicht nur schon immer von Diskursen begleitet war, sondern dass diese über die Jahrhunderte hinweg immer wieder ähnliche Argumente und Themen aufgegriffen haben.
Diskurse begleiten und bestimmen Medien- und Gesellschaftswandel, so die oben formulierte These. Doch was ist hier überhaupt unter ,Diskurs‘ zu verstehen?
Im alltäglichen deutschen Sprachgebrauch verweist der Begriff ,Diskurs‘ meist auf „ein öffentlich diskutiertes Thema, eine spezifische Argumentationskette (...) oder die Position/ Äußerung eines Politikers (...) in einer aktuellen Debatte“ (Keller 2007a: 13). Im angelsächsischen Sprachgebrauch wird mit ,discourse‘ allgemeiner ein einfaches Gespräch oder eine Unterhaltung bezeichnet, während in den romanischen Sprachen eine ,gelehrte Rede‘, ein Vortrag o. ä. mit dem Begriff bezeichnet werden (vgl. ebd.). Das hier zugrundegelegte Diskursverständnis geht jedoch über dieses alltägliche Verständnis hinaus.
Die Ursprünge der Diskurstheorie liegen im Strukturalismus, bzw. dem Poststrukturalismus begründet. Beide bilden „Theorieensemble“ (Keller 2007a: 14), denen jedoch der Rückgriff auf die Sprachtheorie Ferdinand de Saussures gemein ist. Bei Saussures Theorie geht es darum, zwischen dem der Sprache zugrundeliegenden Regelsystem (langue) und der praktischen Umsetzung der Sprache (parole) zu unterscheiden, um so die Bedeutungsgenerierungsprozesse der menschlichen Sprache besser untersuchen zu können. Dieser Gedanke wird für die Diskurstheorie von der Sprachwissenschaft auf die Erkenntnistheorie übertragen. Es werden also analog auch für die Erkenntnisgewinnung gewisse Regelstrukturen angenommen, die den konkreten Erkenntnistätigkeiten zugrundeliegen. Diese allgemeinen Erkenntnisstrukturen werden auch als Wissensordnungen oder in Anlehnung an Foucault als Episteme bezeichnet (vgl. Keller 2007a: 16). Während der Strukturalismus von objektiven, also eher statischen Regelstrukturen ausging, erweiterte der Poststrukturalismus diese Auffassung, indem der Fokus stärker auf die Wechselwirkungen zwischen den Strukturen und den Ereignissen bzw. dem Kontext gerichtet wurde (vgl. Keller 2007a: 14 f.). Im Gefüge von Struktur und Ereignis bilden Diskurse also die praktische Erkenntnistätigkeit, deren Analyse wiederum Aufschluss über die zugrundeliegenden Wissensstrukturen geben soll. Auf die Sozialtheorie übertragen, bedeutet das, dass zwischen „Diskursen und der ihren Kontext bildenden Sozia lstruktur“ (Keller 2007a: 28) eine dialektische Beziehung besteht. Mit dem vorangegangenen Kapitel wurden Teile eben dieses Kontextes beschrieben, um für die später folgende Analyse einen Rahmen zu bieten.
Diskurse, also jede Form der Erkenntnis- oder Wissensproduktion im weitesten Sinne, „konstituieren Welt“ (ebd.) bzw. unsere Wahrnehmung von der Welt. Umgekehrt werden jedoch Diskurse wiederum durch die Welt, also den Produktionskontext, konstituiert. Nach Foucault sind Diskurse „als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.“ (Foucault 1981: 74; zit. nach Hörisch 2004: 86). Unterzieht man nun bestimmte Diskurse einer Analyse, so lassen sich daraus zugrundeliegende Regelstrukturen rekonstruieren. Gleichzeitig ist auch die Diskursanalyse selbst, also auch diese Arbeit, wiederum Teil des Diskurses rund um Mediendiskurse.
Kern eines jeden Diskurses sind Texte. Je nach theoretischer Orientierung kann auch das Textverständnis differieren. Während manche Autoren bei Texten explizit von „schriftsprachlich realisierten“ (Konerding 2005: 9) Beiträgen ausgehen, fallen bei a nderen unter ,Text‘ auch „gesprochene Sprache, die Bilder und Töne“ (Keller 2007a: 29).
Diese Texte werden durch ihre thematische Zusammengehörigkeit zu Teilen eines bestimmten Diskurses (vgl. Wengeler 2005: 39; Konerding 2005: 9; Fraas 2005: 84). So werden beispielsweise in diesem Kapitel Texte herangezogen, die sich in verschiedenen Epochen mit den jeweils neu eingeführten Medien befassen. Sie alle werden dadurch Teil des Diskurses, der sich rund um die jeweils neuen Medien formiert bzw. formiert hat. Zugleich können diese Texte natürlich auch als Teile anderer Diskurse gelesen werden - dies ist abhängig vom Erkenntnisinteresse, das an die Texte bzw. an einen Diskurs herangetragen wird. Es entsteht also ein komplexes Netz aus miteinander verwobenen Diskursen, das sich in Texten verschiedener Art materialisiert.
Zusammenfassend lassen sich Diskurse somit als öffentliche Debatten oder allgemeiner als öffentliche Gespräche zu einem bestimmten Thema verstehen, die nicht unbedingt von Angesicht zu Angesicht zwischen Individuen realisiert, sondern über miteinander kommunizierende Texte geführt werden. Wenn hier von ,Gespräch‘ oder ,Debatte‘ die Rede ist, soll dies nicht die Vorstellung von einem Kommunikationsvorgang erwecken, bei dem teilnehmende Akteure und deren Positionen und Intentionen transparent und auf Anhieb klar erkennbar sind. Vielmehr muss man sich ein ,Gespräch‘ zwischen einer Vielzahl von Akteuren (Individuen, Institutionen, Interessengruppen etc.) zu einem bestimmten Thema vorstellen, das sich in Texten jedweder Art - seien es Massenmedien oder wissenschaftliche Spezialliteratur, Schriftsprache oder audiovisuelle Beiträge - niederschlägt. Diese Texte wiederum sind durch ein verzweigtes und hochgradig komplexes Netz aus gegenseitigen Verweisen miteinander verbunden und bilden letztendlich in ihrer Gesamtheit unser Wissen von der Welt - also den „gesamtgesellschaftlichen Diskurs“ (Jäger/ Zimmermann 2010: 59 f.).
Keller (2007: 79) erklärt in diesem Zusammenhang, dass ein Diskurs stets das Konstrukt der Sozialforscherin/ des Sozialforschers ist und dass zunächst hypothetisch unterstellt wird, dass den ausgewählten Daten „ein Zusammenhang, eine Regel oder Struktur“ (2007: 79) zugrundeliegt. Der/ die Forschende begegnet einem Text bzw. einem Textensemble sozusagen mit einer bestimmten Brille, durch die das Datenmaterial betrachtet wird. Diese Brille formt sich aus der jeweiligen der Analyse zugrundeliegenden Fragestellung.
Für das Kursieren der Diskurse spielen natürlich die Massenmedien eine ganz entscheidende Rolle, insbesondere wenn es um die (gesellschaftliche) Wirkung von Diskursen geht. Durch „ständige und massenhafte Wiederholung bestimmter Inhalte“ tragen ma ssenmedial transportierte Diskurse maßgeblich zur Herausbildung und Verfestigung von ,Wissen‘ bei (vgl. Jäger/ Zimmermann 2010: 129 f.). So verhält es sich auch in Bezug auf den Burnout-Diskurs, der mit hoher Präsenz in verschiedenen Massenmedien thematisiert und dabei häufig in Verbindung mit den Auswirkungen der Neuen Medien gebracht wurde (siehe Kapitel 1.1).
Im vorangegangenen Abschnitt wurde deutlich, dass es letztendlich Diskurse sind, die unsere Wahrnehmung von der Wirklichkeit bestimmen und in der Konsequenz auch Auswirkungen auf individuelles und kollektives Handeln haben (vgl. Jäger/ Zimmermann 2010: 129). Diskurse um neue Medien bestimmen also unsere Wahrnehmung von und schließlich auch unsere Umgangsweisen mit ihnen. Mit dem eingangs vorgestellten Mediatisierungskonzept wurde verdeutlicht, dass Medienwandel für Veränderungen in der intersubjektiven und der kollektiven Interaktion sorgt. Diese Veränderungen erfordern eine Neuverhandlung von Regeln, Verhaltens- und Umgangsweisen. In sogenannten „Institutionalisierungsprozessen“ (Neuberger 2005: 76) werden eben diese Aushandlungen realisiert. Im Zuge eines Institutionalisierungsprozesses eignen sich Akteure ein neues Medium an, „indem sie aus seinem technischen Potenzial, seinen möglichen G ebrauchsweisen eine Auswahl treffen“ (Neuberger 2005: 76 f.). In diesem Prozess der Aneignung spielen öffentliche Diskurse - so Neubergers These - eine entscheidende Rolle. Er betont, „dass in öffentlichen Diskursen das Potenzial neuer M edien reflektiert wird, deren Möglichkeiten durchgespielt und die spätere tatsächliche Anwendung, Nutzung und Regulierung vorgeprägt werden“ (Neuberger 2005: 77). Diese These soll um den Faktor der Thematisierung von möglichen Gefahren und negativen Auswirkungen expliziert werden, da dieser für die Institutionalisierung eines neuen Mediums eine ebenso wichtige Rolle spielt.
Neuberger attestiert dem Diskurs also maßgeblichen Einfluss auf die Etablierung neuer Medien, kritisiert sogar die fehlende Auseinandersetzung mit...