Das unvollständige Sammelalbum
Shabnam
Die Monate vergehen. Und mit der Zeit wird deutlich, was das Edwards-Syndrom angerichtet hat. Wie die Krankheit das ausbremst, was eigentlich an Entwicklung für Jaël vorgesehen war. Greifbar wird es an dem Babytagebuch mit seinen kleinen bunten Stickern, die wir als stolze Eltern am jeweiligen Tag des neuen Entwicklungsschrittes zur Dokumentation unter das Datum im Kalender heften können. Statt Fußballstickern oder Bonusmeilen sammeln wir Ereignissticker aus dem Leben unserer Tochter. Und wir kleben eifrig. Jeder Sticker wird gefeiert, denn er bedeutet einen Meilenstein auf einem Weg, der uns durch die Diagnose eigentlich unmöglich schien. Den Stickern Deine Ankunft und Erstes Bad im September 2001 folgen in den nächsten Monaten die kleinen Aufkleber:
Ein Monat alt
Zwei Monate alt
Arztbesuch
Nacht durchgeschlafen
Drei Monate alt
Vier Monate alt
Fünf Monate alt
Gelächelt
Sechs Monate alt
Festes Essen gegessen
Erstes Osterfest
Deine Hände entdeckt
Sieben Monate alt
Erster Muttertag
Acht Monate alt
Neun Monate alt
Aber langsam merken wir: Uns gehen die passenden Aufkleber aus. Für unser Leben sind keine Sticker mehr vorgesehen. Das Leben, wie es sich die Autoren des Babykalenders vorstellen, endet bei uns schon nach wenigen Monaten. Keine weiteren wichtigen Stationen? Das kann nicht sein. Statt mit Stickern beginne ich, die freien Felder mit eigenen Bildern für die wichtigen Stufen unseres gemeinsamen Lebens zu bemalen oder Kommentare hineinzuschreiben:
22. Dezember: Wir haben die Magensonde entfernt
28. Januar: Du hast bei einer Mahlzeit 200 Milliliter getrunken
6. April: Zum ersten Mal pürierten Apfel gegessen
17. Mai: Wir haben Dir einen schönen Hut gekauft
Und wieso gibt es überhaupt nur einen einzigen Durchgeschlafen-Sticker? Das muss jedes Mal gefeiert werden, wenn es klappt. Bei anderen scheint das gar nicht mehr der Erwähnung wert zu sein.
19. Mai: Zum ersten Mal im Eiscafé
8. Juni: Zum ersten Mal im neuen Bett geschlafen
7. Juli: Zum ersten Mal ein Pferd gesehen
9. Juli: Die erste Pasta gegessen
Und dann hören die ersten Male auf. Statt Entwicklungsstufen zu dokumentieren, beginnen wir, gemeinsame Erlebnisse in den Kalender zu schreiben. Schließlich zählt nicht, was unser Kind kann, sondern was wir zusammen unternehmen: Jugendfreizeit Bornholm, Eisessen, Ilvas 11. Geburtstag, Jugendfreizeit Griechenland und Urlaub in Antalya.
Dennoch: Als wir die letzte Seite des Kalenders aufschlagen, merken wir: Da sind noch einige Sticker übrig. Sie kommen nicht zum Einsatz. Beispielhaft stehen sie für den Schmerz über unsere geplatzten Träume. Wie nicht eingelöste Versprechen für ein Leben, das wir nur für uns und unsere Tochter erträumt hatten.
Die Sticker, für die es keine Verwendung gibt, heißen:
den Kopf gehoben, alleine umgedreht, gesessen, gerobbt, gekrabbelt, alleine gestanden, erster Schritt, Löffel benutzt, aus Tasse getrunken, gewinkt, »Papa« gesagt, »Mama« gesagt.
Diese Sticker aus dem Kalender werden nie abgelöst. Es sind zwölf Verneinungen unserer Sehnsucht nach Normalität. Nichts ist normal. Die Defizite unserer Tochter werden von einem Babytagebuch ungewollt aufgedeckt und uns gnadenlos vor Augen geführt. Es tut weh. Aber wir müssen lernen, damit zu leben.
Was Jaël im ersten Lebensjahr nicht lernt, sind Kennzeichen einer Entwicklungsstörung, deren Umfang im Laufe der Jahre durch das Etikett »schwerstmehrfachbehindert« ausgedrückt wird. Während im Verlauf des ersten Jahres seit Jaëls Geburt die Schere zwischen ihrer und der Entwicklung gesunder Kinder noch langsam auseinandergeht, zeigt sich der Unterschied danach umso heftiger. Jaël bleibt auf dem motorischen und kognitiven Stand eines Babys und damit vollkommen abhängig von uns. Abhängig von unserer Pflege und Versorgung, von unseren Ideen, sie in das Leben zu integrieren. Das geht nur, wenn wir uns nicht auf Jaëls Defizite konzentrieren, sondern das Schöne und Gute in den Fokus rücken. Entsprechend findet sich in unserem Kalender ein eigener stolzer Eintrag ohne Sticker mit dem Titel: Erstes Mal »Aga Jaga« gesagt.
Angesichts der Tatsache, dass unsere Tochter bereits in den ersten zwölf Monaten in dem, was sie kann und lernt, hinter allen gesunden Kindern zurückbleibt, entdecken wir früh eine Lebensaufgabe für uns. Sie lautet: nicht auf andere Kinder und Familien schauen, nicht vergleichen. Sondern: unser Kind lieben von ganzem Herzen, ihm ins Leben hineinhelfen, so weit es möglich ist, und die verbleibende gemeinsame Zeit so schön wie möglich gestalten. Und das tun wir. Zwei weitere Jugendfreizeiten mit Jaël, gemeinsame Urlaube, wir feiern und genießen das Familienleben zu dritt nach unseren Möglichkeiten. Kraft bekommen wir von unserer Tochter, die sich überhaupt nicht daran zu stören scheint, dass ihr so viele Entwicklungsschritte fehlen. Solange sie uns mit ihren großen dunklen Augen erwartungsfroh anschaut, als wollte sie sagen: »Kommt, lasst uns zusammen Pferde stehlen!«, solange wir einander umarmen oder zusammen kuscheln können, scheint sie der glücklichste Mensch auf Erden zu sein. Auch ohne Haken an irgendwelche Listen mit Entwicklungszielen machen zu können.
Definiere Glücklichsein
Wolfgang
Was braucht ein Mensch, um glücklich zu sein? Ich stelle fest, dass sich meine Antwort auf diese Frage in den Jahren mit meiner Tochter ziemlich gewandelt hat. Es sind für mich nicht mehr ganz bestimmte, in der Zukunft liegende Ziele und Umstände, die ich mit Glück verbinde. Das hat zum einen damit zu tun, dass in der Erfahrung von Krisensituationen, die bis an oder über unsere Kraft gingen, der Blick in die Zukunft immer unwichtiger wurde. Viele Ziele, die ich irgendwann einmal mit Glück verbunden habe, liegen außerhalb meiner Reichweite:
Zum Beispiel das so selbstverständlich scheinende und zugleich so unplanbare Ziel Gesundheit. Wie oft hört man die Bemerkung »Hauptsache gesund«. Wer plötzlich krank wird (und das gilt für »Männergrippe« ebenso wie für Krebs), stellt fest, dass Gesundheit zu den Bereichen des Lebens gehört, die man nicht – oder höchstens in sehr begrenztem Maße – in der Hand hat. Genauso sieht es mit der Gesundheit des eigenen Kindes aus. Wenn das geliebte Kind krank ist, bestätigt dies ja nur das Wissen um die Unkontrollierbarkeit des Lebens. Das kann demütig machen, aber auch wütend. Das Ziel »Gesundheit für meine Tochter« liegt außerhalb meiner Reichweite, und damit ebenfalls ein normales Familienleben mit allem, was ich mir als Vater darunter vorstelle. Ich denke dabei vor allem an geteilte Erlebnisse wie Ausflüge, Urlaube, Gespräche und gemeinsame Erfahrungen, die dem Leben Tiefe und Glück geben, jedoch genauso an den simplen Alltag, den wir miteinander teilen. All diese Normalität ist mir als Vater verwehrt. Das ist trotz der vielen wundervollen gemeinsamen Momente sehr schwer zu akzeptieren.
Aber ich entdecke noch etwas anderes, und das überrascht mich. Wenn mir so etwas Entscheidendes wie die Gesundheit meiner Tochter zu meinem Glück fehlt, dann müssten umgekehrt Menschen, denen diese Gesundheit beschieden ist, vom Grundsatz her glücklich und zufrieden sein. Das scheint allerdings nicht der Fall zu sein. Manchmal studiere ich die Gesichter der Menschen, die sich zeitgleich mit mir im Restaurant, Hotel oder am Flughafen aufhalten. Eben an den Orten, wo das Glück zu erwarten wäre. Schließlich sind es Orte, an denen Menschen ihrem Leben schöne Erlebnisse hinzufügen können. Eine aufregende Reise oder ein entspannter Urlaub, ein leckeres Essen, das müsste den Menschen doch ein Lächeln auf die Lippen zaubern. Dem ist aber nicht so.
Drei Tage auf der Kinderkrebsstation reichten der Schauspielerin Anke Engelke, um zu dieser für das Glücksempfinden so wichtigen Erkenntnis zu kommen:
»Komisch ist doch eigentlich, dass die gesunden Menschen in ihrem Alltag zu vergessen scheinen, wie gut sie eigentlich dran sind. Dass Gesundheit schon mal ein Riesenglück ist. Warum laufen wir nicht alle schreiend durch den Tag und rufen: »Juhu, juhu, ich bin gesund! Danke!« Es geht uns erst mal immer dreckig: Hab ’ne Prüfung versemmelt. Hab meinen Job verloren. Bin gerade verlassen worden. Hund ist weggelaufen. Genug blöde Sachen, die passieren.«5
Wir gewöhnen uns an das Gute im Leben. Offensichtlich reicht allein die Tatsache, dass wir gesund sind und/oder gesunde Kinder haben noch nicht zum Glücklichsein. Auch Geld, Sicherheiten, ein guter Beruf, viel Freizeit sind keine Garanten für dauerhaftes Glück. Vermutlich ist es so: Wer zum Glücklichsein erst irgendetwas im Außen braucht, wird niemals wirklich glücklich. Denn sobald er das Erstrebte gefunden hat, erkennt er dessen Begrenztheit und richtet sich auf ein neues Ziel aus. Und so jagen wir nach dem »Wenn-dann-Prinzip« weiter dem Glück hinterher, das wir aber irgendwie nie richtig zu packen bekommen.
Doch wenn es nicht an den erreichten Zielen liegt, woran...