Zwischen Theorie und Praxis liegen bekanntlich Welten. Es stellt sich somit die Frage, wie sich die aus der UN- BRK ergebenen Verpflichtungen hinsichtlich Inklusion bislang auf das nationale Recht ausgewirkt haben. Dabei ist zu berücksichtigen, dass den Vertragsstaaten nach Artikel 4 Absatz 2 der Konvention die volle Verwirklichung der Rechte von Menschen mit Behinderungen erst „nach und nach“ auferlegt worden ist. Die Formulierung intendiert, dass ein kontinuierlicher Fortschritt erkennbar sein muss. Nicht zuletzt die Frage der Finanzierung spielt dabei wohl eine entscheidende Rolle.
Nach Artikel 25 GG sind die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts, gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten für alle Bürger. Allerdings können Bürger Rechtsansprüche aufgrund vermeintlicher Verletzungen der UN- BRK nicht unmittelbar aus der UN- BRK ableiten. Dies ist nur aufgrund geltenden nationalen Rechts möglich. Die Verpflichtungen aus dieser Konvention richten sich also zunächst nicht direkt an die Bürger, sondern an die Vertragsparteien, die Unterzeichnerstaaten. Diese müssen ihre Gesetze und Rechtsvorschriften an die Verpflichtungen anpassen, die sie durch Unterzeichnung und Ratifizierung des Vertrages eingegangen sind. Die Bestimmungen der UN- BRK schaffen daher in der Regel keine unmittelbaren Rechtsansprüche für Bürger, sondern müssen erst in nationales Recht umgesetzt werden.[71] Dieser Schritt wurde in der Bundesrepublik Deutschland am 21. Dezember 2008 mit Verabschiedung der Konvention als Bundesgesetz eingeleitet. Die UN- BRK ist damit gemäß Artikel 45 Abs. 1 UN- BRK seit dem 26. März 2009 für die Bundesrepublik Deutschland auf all ihren innerstaatlichen Ebenen völkerrechtlich verbindlich. Gemäß Artikel 59 Abs. 2 GG hat die UN- BRK innerhalb der Bundesrepublik Deutschland den Rang einfachen Bundesrechts[72] und ist daher von allen staatlichen Organen als anwendbares Völkervertragsrecht wie jedes andere Gesetz des Bundes umzusetzen und einzuhalten.[73]
Nachdem die UN- BRK Gesetzeskraft erhalten hat, sind in der Bundesrepublik Deutschland auf allen staatlichen Ebenen diverse Umsetzungsaktivitäten geschehen.[74] Dazu zählt unter anderem ein 2011 veröffentlichter nationaler Aktionsplan der Bundesregierung, welcher Maßnahmen beschreibt, die zur Umsetzung der UN- BRK notwendig sind. Um den Rahmen nicht zu sprengen, wurde der Fokus nur auf solche Maßnahmen der Inklusion gelegt, die für die Themenbereiche inklusive Bildung und Barrierefreiheit von Bedeutung sind. Wie in vielen anderen Bereichen der UN- BRK lassen sich diese Punkte nicht klar trennen, sondern sie überschneiden oder ergänzen sich zum Teil.
Seit dem Inkrafttreten der UN- BRK im Jahr 2009 eröffnete der Begriff der inklusiven Bildung in Deutschland breite bildungspolitische Diskussionen. Die Positionen reichen von der Beibehaltung des bestehenden Förderschulsystems bis hin zu dessen Auflösung, verbunden mit einer grundlegenden Umwandlung des gesamten Bildungssystems.[75] Im Folgenden werden die bisher erfolgten Schritte auf dem Weg zu inklusiver Bildung in Deutschland näher unter die Lupe genommen.
Die Umsetzung des inklusiven Bildungssystems in Deutschland löst Vertragspflichten für die Bundesregierung, aber insbesondere für die Landesgesetzgeber aus, da das Bildungsrecht gemäß Artikel 70 GG ausschließlich der Gesetzgebungskompetenz der Länder unterliegt. Die Länder sind nach dem Lindauer Abkommen und nach dem Grundsatz der Bundestreue verpflichtet, ihre Schulgesetze entsprechend Artikel 24 UN- BRK so zu reformieren, dass Menschen mit Behinderungen nicht diskriminiert werden.
Was unter diskriminierungsfreier Bildung zu verstehen ist, hat der UN- Sozialpaktausschuss, der der Überwachungsausschuss des Internationalen Sozialpakts ist, mit seinen 1999 verabschiedeten Allgemeinen Bemerkungen formuliert.[76] Diskriminierungsfreie und den Menschenrechtsstandards entsprechende Bildung muss danach vier Vorgaben erfüllen, die im internationalen Diskurs als „4- A-Scheme“ (4- A-Schema) bezeichnet wird:
Sie muss
für alle Menschen ausnahmslos verfügbar sein (Availability),
für alle zugänglich sein (Accessibility),
annehmbar sein (Acceptability) und
für verschiedene Menschen in unterschiedlichen sozialen und kulturellen Kontexten adaptierbar und flexibel sein (Adaptability).
Als Meilenstein in der Umsetzung dieser Vorgaben ist die Empfehlung der Kultusministerkonferenz „Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen in Schulen“ vom 21. Oktober 2011 zu sehen, womit ein Perspektivwechsel hin zum inklusiven Unterricht vollzogen wurde.[77]
Ein zentraler Aspekt für die erfolgreiche inklusive Schulentwicklung ist demnach u.a. die Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte und sonstiger an Schulen tätigen Personen. Die Sicherstellung dieser Aufgaben, des dafür notwendigen Personals und der Finanzen liegt in der Verantwortung des jeweiligen Landes. Mit der Änderung der Rahmenvereinbarungen über die Ausbildung und Prüfung der Lehramtstypen vom 6. Dezember 2012 hat die Kultusministerkonferenz daher vorgegeben, dass in der Ausbildung für alle Lehrämter den Basisqualifikationen in den Themenbereichen Umgang mit Heterogenität und Inklusion sowie Grundlagen der Förderdiagnostik eine besondere Bedeutung zukommt.[78]
Da die Länder in ihren Umsetzungen unterschiedlich weit vorangeschritten sind und diese in ihrer Bandbreite zum Teil auch stark variieren, wird die Umsetzung exemplarisch am Beispiel des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW) untersucht. Im Ergebnis haben aber letztendlich alle Bundesländer ihre Schulgesetze den Maßgaben der UN- BRK anzupassen.[79]
Die Landesregierung zu Düsseldorf setzte den Startschuss des inklusiven Schulsystems in NRW am 3. Juli 2012 mit Verabschiedung des alle gesellschaftlichen Bereiche umfassenden Aktionsplans "Eine Gesellschaft für alle - NRW inklusiv", der auch zentrale Eckpunkte eines schulischen Inklusionsplans enthält.[80]
Ein weiterer Meilenstein folgte am 16. Oktober 2013 mit Verabschiedung des 1. Gesetzes zur Umsetzung der UN- BRK vor dem nordrhein- westfälischen Landtag. Teilweise wird in der Literatur auch vom 9. Schulrechtsänderungsgesetz (9. SchulG- ÄG)[81] gesprochen, womit inhaltlich aber dasselbe gemeint ist. Vorausgegangen ist diesem Schritt ein umfangreiches Beteiligungsverfahren, in das neben den Lehrer- und Elternverbänden, den Kommunalen Spitzenverbänden, Kirchen und vielen Fachverbänden auch die Selbsthilfeorganisationen der Menschen mit Behinderungen eingebunden waren.[82]
Folge des 9. SchulG- ÄG war schließlich eine Novellierung des Schulgesetzes NRW (SchulG NRW)[83], die am 01. August 2014 in Kraft trat. Die daraus resultierenden wesentlichen Änderungen sind:
Gemeinsames Lernen von Schülern mit und ohne Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung wird zum gesetzlichen Regelfall.
Eltern eines Kindes mit festgestelltem Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung müssen nicht länger die Aufnahme an einer allgemeinen Schule eigens beantragen.
Die Schulaufsicht benennt bei Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung in Abstimmung mit dem Schulträger mindestens eine allgemeine Schule, die für das Gemeinsame Lernen personell und sächlich ausgestattet ist.
Nur in begründeten Ausnahmefällen kann hiervon abgewichen werden („Umkehr der Beweislast“).
Eltern haben weiterhin das Recht eine Förderschule zu wählen, wenn ein entsprechendes Angebot vorhanden ist[84]
Eine solche Gesetzesänderung zieht in der Regel eine große Anzahl weiterer Maßnahmen mit sich. Als Folge dieser Rechtsanpassung sind dabei u.a. der Übergangserlass vom 22. Januar 2014, die Ausbildungsordnung sonderpädagogische Förderung vom 10. Oktober 2014 oder der IFAS- Erlass vom 29. Oktober 2014, welcher den Einsatz von Inklusionsfachberatern regelt, zu nennen.
Themenübergreifend hat das inklusive Bildungssystem darüber hinaus zu Gesetzesnovellierungen in vielen anderen Bereichen geführt. So wurde beispielsweise die Bauordnung NRW (BauO NRW)[85] den Anforderungen der UN- BRK angepasst. Nähere Ausführungen dazu sind im folgenden Kapitel „Maßnahmen zur Barrierefreiheit“ zu finden. Eine umfassende Darstellung der erfolgten Maßnahmen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
Die Anzahl von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Regelschulen ist durch die erfolgten Maßnahmen bundesweit seit dem Schuljahr 2008/09 von 18,4 % auf 25 % im Schuljahr 2011/12 gestiegen. Zielmarke ist eine bundesweite „Inklusionsquote“ von 80 % bis zum Jahr 2020. In NRW lag die Quote für das Schuljahr 2010/11 bei lediglich 11,1...