Finden die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge und ihre besondere Situation und speziellen Bedürfnisse im Kinder- und Jugendhilfegesetz (im Folgenden: KJHG) eine ausdrückliche Erwähnung? Und gelten die dort festgelegten Bestimmungen für alle Kinder und Jugendliche, ungeachtet ihrer Herkunft und ihres Aufenthaltsstatus? Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, wird im folgenden Kapitel das KJHG bezüglich seiner Bestimmungen zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen näher untersucht. Vor der inhaltlichen Analyse folgt zunächst ein kurzer Abriss zur Entwicklung des KJHGs bzw. des Achten Buches Sozialgesetzbuch (im Folgenden: SGB VIII).
Am 11.8.1961 wurde, aufgrund des Scheiterns einer Gesetzesreform in der Kinder- und Jugendhilfe, statt eines neuen Gesetzes lediglich eine Novelle verabschiedet, die das bis dahin geltende Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) zum Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) transformierte (vgl. Münder in: Kreft; Mielenz (Hrsg.) 2008, S. 525). Die sich aus diesem Wandel ergebenden Veränderungen beschränkten sich allerdings auf eine neue Paragraphenfolge und einige inhaltliche Umgestaltungen (vgl. ebd.). So sahen die Neuerungen im JWG lediglich einige neue Erziehungsmaßnahmen und verstärkte Kontrollen von Einrichtungen der öffentlichen Erziehung und darüber hinaus auch die Ausweitung der Rechtsposition von Kindern und Jugendlichen vor, die Basisstrukturen des Gesetzes, seine Systematik und auch das Organisationsgefüge der Behörden wurden aber aufrechterhalten (vgl. Saßle zit. n. Bock in: Thole (Hrsg.) 2012, S. 447).
Die in den Folgejahren stetig entwickelten Gesetzesentwürfe wurden konsequent abgelehnt, bis schließlich am 28.3.1990 das Gesetz zur Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts im Bundestag verabschiedet wurde und sodann als Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) am 1.1.1991 in Kraft trat (vgl. Saßle zit. n. Bock in: Thole (Hrsg.) 2012, S. 447). Inhaltlich vereint dieses neue Gesetz sämtliche im Zuge der Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts entwickelten Erlasse[19], wobei das SGB VIII als erstes Artikelgesetz den Hauptbestandteil der Artikelsammlung ausmacht (vgl. Struck in: Schröer; Struck; Wolff (Hrsg.) 2002, S. 529). Das SGB VIII ist folglich juristisch gesehen nicht mit der Bezeichnung KJHG gleichzusetzen, obwohl in der Alltagssprache oft der Begriff KJHG für das eigentliche SGB VIII verwendet wird (vgl. ebd.). Während sich das SGB VIII auf die Regelung der Kinder- und Jugendhilfe beschränkt (vgl. Marburger 2010, S. 11), ist in den übrigen 23 Artikeln des KJHGs unter anderem die Anpassung anderer Gesetze an die Sprache und den Inhalt des SGB VIII (Artikel 2 bis 9) oder auch die Übergangsversionen einzelner Erlasse (Artikel 11 bis 15) festgelegt (vgl. Struck in: Schröer; Struck; Wolff (Hrsg) 2002, S. 529). Eine wesentliche Veränderung, die sich aus dem Übergang vom JWG zum KJHG ergab, stellte die Reform der erzieherischen Hilfen dar (vgl. Urban 2004, S. 27). Zwar beinhaltete auch das JWG einige Regelungen bezüglich erzieherischer Hilfen, diese waren aber allgemeiner und unspezifischer gehalten, als es nun im KJHG der Fall ist (vgl. ebd.). Demnach hatte die Novellierung des Kinder- und Jugendhilferechts zur Folge, dass beispielsweise nun die Unterstützung der Erziehungsverantwortung seitens der Eltern in den Vordergrund gerückt wird, sodass nicht mehr vorrangig Kinder und Jugendliche die Angebote zu den Hilfen zur Erziehung in Anspruch nehmen sollen, sondern vor allem die Eltern bzw. Erziehungsberechtigten einbezogen werden (vgl. Jordan 2000, S. 35).
Die Neugestaltung des KJHG betrifft auch die Thematik der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Während sich im JWG „‘das Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit‘ auf deutsche Kinder beschränkte“ (Huber in: Woge e.V./Institut für Soziale Arbeit e.V. (Hrsg.) 2000, S. 230) , räumt die Gesetzgebung im § 1 SGB VIII jedem jungen Menschen „ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf [die (d. Verf.)] Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ (Wiesner in: Wiesner (Hrsg.) 2011, S. 17) ein (vgl. Huber in: Woge e.V./Institut für Soziale Arbeit e.V. (Hrsg.) 2000, S. 230f).
Das KHJG erfuhr in den vergangenen Jahren einige Veränderungen, die aktuelle Fassung ist vom 14.12.2006, wobei auch danach weitere Modifikationen vorgenommen wurden (vgl. Marburger 2010, S. 11). Zu erwähnen ist das im Jahr 2005 neu geschaffene Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (KICK), das im Zuge der Diskussionen über die Garantenstellung und -pflicht[20] sozialpädagogischer Fachkräfte entwickelt wurde und den Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe, zum Beispiel durch die Weiterentwicklung der bisherigen Schutzmaßnahmen und die verstärkte Kontrolle von Einrichtungen, unterstreicht (vgl. Rätz-Heinisch; Schröer; Wolff 2009, S. 231).
Das SGB VIII stellt den Teil des KJHGs dar, der sich mit den Regelungen zur Kinder- und Jugendhilfe befasst und der aus diesem Grund für die vorliegende Arbeit interessant ist. Im Folgenden wird daher ausschließlich dieser Begriff verwendet. Um das SGB VIII auf seine die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge betreffenden Inhalte zu untersuchen, werden im nächsten Abschnitt die dort verankerten diesbezüglichen rechtlichen Grundlagen aufgezeigt.
Die Gruppe der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge fand bis zum Jahr 2005 im SGB VIII keine explizite Erwähnung, was aber nicht bedeutet, dass sie in den rechtlichen Ausführungen zur Kinder- und Jugendhilfe nicht berücksichtigt wurde, ihre Personengruppe wurde lediglich nicht spezifisch benannt. Mit der Einführung des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (KICK) in 2005 änderte sich die Sachlage dahingehend, dass jetzt die Zuständigkeit der Jugendbehörden für die Klientel der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge ausdrücklich aufgeführt wurde (vgl. Schwarz; Tamm in: Dieckhoff (Hrsg.) 2010, S. 39). Diese Änderung ist insbesondere für die Arbeit mit den sechzehn- bis achtzehnjährigen UMF von großer Bedeutung, war die praktische Umsetzung der rechtlichen Vorgaben bis dahin doch immer von Unsicherheiten bezüglich der Auslegung der Vorschriften geprägt (vgl. Schwarz; Tamm in: Dieckhoff (Hrsg.) 2010, S. 39).
Seit der Neugestaltung des SGB VIII durch die Hinzuführung des KICK (siehe § 42 SGB VIII) ist nun vorgeschrieben, dass ausnahmslos alle Minderjährigen von den Jugendämtern in Obhut genommen werden müssen und somit auch einer, wie in Kapitel 2 bereits geschilderten, drohenden Verteilungsmaßnahme entgehen (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009, S. 34f).
Obwohl die UMF auch nach der Neuformierung des SGB VIII in sämtlichen Paragraphen nicht ausdrücklich erwähnt, andererseits aber ebenso wenig explizit ausgeschlossen werden, sind sie folglich mit Einschränkungen (siehe § 6 SGB VIII) in die Regelungen, die alle Kinder und Jugendlichen betreffen involviert.
Im ersten Kapitel des SGB VIII (§§1-10) werden die allgemeinen Vorschriften der Kinder- und Jugendhilfe dargelegt. Hier heißt esim§1 Absatz 1, dass
„jeder junge Mensch [...] ein Recht auf Förderung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit [hat]“ (Wiesner in: Wiesner (Hrsg.) 2011, S. 17).
Im dritten Abschnitt desselben Paragraphen wird weiter ausgeführt, dass die
„Jugendhilfe [...] zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere 1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen [soll (d. Verf.)], Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen,
[...]
3. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen [soll (d. Verf.)],
4. dazu beitragen [soll (d. Verf.)], positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen“ (Wiesner in: Wiesner (Hrsg.) 2011, S. 17)
Der zweite Paragraph des SGB VIII unterteilt die rechtlichen Bestimmungen der Kinder- und Jugendhilfe in die ,Leistungen der Jugendhilfe‘ (§§ 11-41) einerseits und die ,Anderen Aufgaben‘ (§§ 42-60) andererseits (vgl. Peter in: von Balluseck (Hrsg.) 2003, S. 60). Laut den Bestimmungen umfasst die Kinder- und Jugendhilfe
„(1) Leistungen und andere Aufgaben zugunsten junger Menschen und Familien.
(2) Leistungen der Jugendhilfe sind:
1. Angebote der Jugendarbeit, der Jugendsozialarbeit und des erzieherischen Kinder-und Jugendschutzes (§§ 11-14)
[...]
4. Hilfen zur Erziehung und ergänzende Leistungen (§§ 27-37, 39,40)
(3) Andere Aufgaben der Jugendhilfe sind:
I. die Inobhutnahme von Kindern und Jugendlichen (§ 42)
[...]
6. die Mitwirkung in Verfahren vor den Familiengerichten (§ 50)
[...]
10. die Erteilung, der Widerruf und die Zurücknahme der Erlaubnis zur...