Was haben ein bekannter Bildhauer, ein Nationalrat der SVP, eine engagierte Journalistin, ein Schriftsteller und ein ehemaliges Flüchtlingskind gemeinsam? Schang Hutter, Toni Bortoluzzi, Maria Roselli, Franco Supino und Annarella Rotter-Schiavetti erzählten uns ihre Geschichte als Nachkommen italienischer Emigranten.
Im Ganzen »porträtierten« wir zwanzig Menschen der ersten, zweiten und dritten Generation, die uns die Geschichte ihrer Familie, ihrer Träume und ihrer Sehnsucht erzählt haben. Wir hatten uns vorgenommen, die Geschichte der italienischen Einwanderung in der Schweiz aus der Perspektive der Betroffenen zu erfassen und sie in den Migrationsdiskurs zu integrieren. Dabei war es uns wichtig, auch die »kulturellen Produktionen« von Einwanderern und ihren Nachkommen sowie den Migrationsdiskurs innerhalb der italienischen Gemeinschaft in der Schweiz zu berücksichtigen.
Die Art, wie diese Arbeit entstand, der intensive wie auch emotionelle Austausch mit den Betroffenen widerspiegeln sich auf diesen Seiten. Hauptdarsteller sind hier die Menschen, die uns ihre Geschichte anvertraut haben. Es geht deshalb auch um ein Fachbuch, das für Laien gleichermaßen von Interesse sein sollte.
Eigentlich machen wir in dieser Arbeit nichts anderes, als die subjektive Ebene der Einzelnen mit den entsprechenden wissenschaftlichen Erkenntnissen und Annahmen zu verbinden. Dieses harmlos erscheinende Vorhaben erwies sich bei der Realisierung als äußerst schwierig. Bereits der Versuch, unsere Gesprächspartner in Kategorien einzuordnen, die mit der gängigen Forschung übereinstimmen, erwies sich als sehr problematisch. Der wichtigste gemeinsame Nenner dieser Menschen ist das Bekenntnis zu ihren italienischen Wurzeln, und uns wurde sehr bald bewusst, dass Secondo nicht unbedingt gleich Secondo ist. Die Lage der Nachkommen der Einwanderer aus dem frühen 20. Jahrhundert zum Beispiel ist natürlich eine ganz andere als die der Kinder der heutigen Secondos. Wir befinden uns mit unserer Frage nach der Bedeutung der Subjektivität in der Migrationsforschung quasi im wissenschaftlichen Niemandsland.
Über die Geschichte der italienischen Einwanderung in der Schweiz wurde bereits viel geschrieben. Historiker, Politologen, Psychologen, Soziologen und neuerdings Ethnologen befassten sich mit deren Entwicklung und den damit verbundenen Problemen. Dabei konzentrierte sich die Forschung auf die Migrationswellen der Nachkriegszeiten. Dazu ist die autobiografische Literatur zu verzeichnen: Neben den »Secondos« wie Franco Supino, welche die Erfahrung ihrer Eltern und ihre eigene Geschichte literarisch aufgreifen, gibt es auch ältere Autoren, wie Dino Larese (1981) oder Ettore Cella (1983), die uns mit ihren autobiografischen Romanen in die Welt der frühen italienischen Einwanderer in der Schweiz führen.
Die Begegnung mit unseren Partnern zwang uns, neue Wege zu gehen, die uns zum Anfang der Umwandlung der Schweiz vom Aus- zum Einwanderungsland bringen. Wir gelangten zur Überzeugung, dass der Migrationsdiskurs in der Schweiz nur dann einen Sinn hat, wenn die Eigenbetroffenheit der Schweizer erkannt wird: als Nachkommen jener armen Bauern, die Jahrhunderte lang als Söldner ihre Dienste fremden Herren angeboten hatten und später nach Amerika oder Russland ausgewandert waren, um ihr Brot zu verdienen – oder als Bauarbeiter und Kaminfeger nach Italien. Nicht zuletzt aber auch als Menschen, vor allem Frauen, die seit dem Bau der ersten Tunnel unter den Alpen im 19. Jahrhundert eine binationale Familie mit italienischen Einwanderern gründeten.
Die Integration (oder eher die Verschmelzung) findet seit über hundert Jahren ununterbrochen statt. Die Gefühle der Menschen siegen über jedes Migrationskonzept, über jede Begrenzung und jedes Verbot. Es geht aber um einen stillen Prozess, ohne Trommeln und Fahnenschwinger. Mit der Zeit stellt man fest, dass einem die Fremden nicht mehr so fremd sind. Die Geschichten unserer Partner zeigten uns diese Welt der Schweizer mit italienischen Wurzeln in all ihren Facetten.
Wir versuchten, die Geschichten so zu ordnen, dass sie es dem Leser erlauben, sie in ihrer Komplexität zu verstehen und mit dem jetzigen Migrationsdiskurs zu verbinden. Aus der Analyse des autobiografischen Materials ergaben sich folgende Themen:
– Die Wege der Betroffenheit, die den Zusammenhang zwischen subjektiver Erfahrung und Entstehung der Persönlichkeit zeigen. Wir leihen uns eine psychoanalytische Definition und wagen zu behaupten, dass in diesem Teil wichtige Hinweise auf die Entstehung des Über-Ichs von Migranten und ihren Nachkommen (im Sinne von Bildung von Gewissen und ethischen Überzeugungen) gegeben werden können. Hier sieht man, wie die persönliche und subjektive Geschichte der Einzelnen im gesellschaftlichen Kontext eingebettet ist und wie die Einzelnen daraus ihre Lebenseinstellung und ihre politische Haltung ableiten.
Eine »Entdeckung« dieser Arbeit ist die Erkenntnis der Bedeutung der Weltkriege und des Bürgerkrieges in den 1940er-Jahren für die Nachkommen von Migranten und die Tabuisierung der damit verbundenen psychologischen Folgen.
Unsere Gesprächspartner gaben uns wichtige Hinweise auf Themen, die heute noch eine offene Wunde in der persönlichen und kollektiven Geschichte der Nachkommen darstellen und unter dem gemeinsamen Nenner der Diskriminierung stehen (Fremdenfeindlichkeit, Schulerfahrungen, Ausländergesetz …).
– Die Analyse der Erfahrung von Menschen aus den verschiedenen Generationen und die darauf folgende Auseinandersetzung mit der Fachliteratur gaben uns die Gelegenheit, die Fragen um die Bedeutung von Gesundheits- und Krankheitsbegriffen bei Migranten und ihren Nachkommen zu vertiefen. Mit der Betrachtung der Lage der ersten Generation stellten wir die Basis her, um die Entwicklungen bei den Nachkommen zu verfolgen. Wir entschieden uns aber gleichzeitig, die therapeutischen Erfahrungen mit der ersten Generation italienischer Migranten zu reflektieren, weil sie unserer Meinung nach auch für die Arbeit mit anderen Bevölkerungsgruppen nützlich sind. Leider geht im Migrationsdiskurs immer wieder so viel verloren, dass man manchmal versucht ist, das Rad neu zu erfinden!
– Wir schenkten dem Thema »Heimweh« besondere Aufmerksamkeit und untersuchten, wie sich dieser risikoreiche Begriff im Laufe der Generationen verwandelte. Im Kapitel »Der Blick zurück« zeigen wir anhand von drei Porträts von Nachkommen aus der dritten Generation die Zusammenhänge zwischen Sprache, Identität und Integration und die damit verbundene Umwandlung des Migrantenheimwehs in Reminiszenz.
– Der letzte Teil unserer Arbeit befasst sich mit der Resilienz von Migranten, das heißt mit ihrer Widerstandsfähigkeit in Bezug auf Hindernisse und Widersprüche. Was macht den »Erfolg« von Migration aus und warum wird er so wenig wahrgenommen? Um diese Frage kommt man nicht herum, wenn man die Porträts dieser Nachkommen von Migranten liest. Ihre autobiografischen Erzählungen geben ein beredtes Zeugnis davon ab, wie im Schatten der öffentlichen Meinung über die »defizitäre« zweite Generation starke Beziehungen, Kraft und Erfindungsreichtum blühen und sich entfalten und starke Individuen hervorbringen, die allen Vorurteilen trotzen.
– Anhand der Erfahrungen dieser betroffenen Menschen beschäftigen wir uns vor allem mit der Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung für die Entwicklung der Einzelnen. Wir drehen quasi den Spieß um und stellen uns die Frage: Welche Unterstützung brauchen Emigrantenkinder, um resilient zu werden?
Somit schließt sich der Kreis. Eine über 100-jährige Einwanderungsgeschichte stellt einen immensen Erfahrungsschatz dar, den es zu würdigen gilt. Davon können neue und alte Einwanderer profitieren und vor allem auch die Schweiz als Ort, in dem sich die Widersprüche einer multikulturellen Gesellschaft abspielen.
Marina Frigerio Martina und Susanne Merhar,
Bern und San Francisco, Dezember 2003
Textnachweise
Marina Frigerio Martina verfasste die folgenden Kapitel:
– »Die Nachkommen italienischer Emigranten und ihre Wurzeln«,
– »Wege der Betroffenheit«,
– »Wurzelbehandlung – Gesundheit und Krankheit im Integrationsprozess«.
Susanne Merhar verfasste die folgenden Kapitel:
– »Migranten – Forschungsobjekte oder Protagonisten ihrer Geschichte?«,
– »›Erfolgreiche Migration‹ – warum es sich lohnt, in Migranten zu investieren«,
– »Zuhören und begreifen – methodische Grundlagen«.
Von beiden Autorinnnen stammen die Einleitung sowie die Kapitel
– »Der Blick zurück: Reminiszenz, Sprache, Integration und Rückkehrmythos«,
– »Schlussfolgerungen – und Anregung zur weiteren Vertiefung«,
– »Wissenschaft und Betroffenheit – Schlussbetrachtungen«.
Susanne Merhar führte die...