Martin begann zu erzählen, und ich merkte, welche Mühe es ihm bereitete, sich dazu durchzuringen, seine Vergangenheit vor mir auszubreiten. Es war der richtige Ort, der richtige Rahmen, aber trotzdem war es fast zu viel Dunkles für diesen sonnigen Tag.
„Mein Vater stammte aus einer Weberfamilie und hatte zwölf Brüder. Er sah ein wenig dem Feldmarschall Hindenburg ähnlich mit seinem eisgrauen Bart und dem kurzen, dichten Haar. Die erste Frau meines Vaters war jung und kinderlos gestorben. Auf dem Dachboden fand ich einmal seine Liebesbriefe, daher weiß ich, dass er sie sehr geliebt haben muss. Er sprach nie darüber.
Meine Mutter hatte Ähnliches erlebt. Ihr Verlobter war nicht mehr aus dem Krieg zurückgekommen. Unter diesen Umständen und ohne eine besondere Liebe zueinander heirateten meine Eltern. Das waren natürlich nicht die besten Voraussetzungen für eine gute Ehe. Und die hatten sie auch nicht, eher lebten sie nebeneinander her.
Ich habe nie verstanden, wieso sie einander überhaupt geheiratet haben. Vermutlich suchte meine Mutter eine Art Vaterersatz, mein Vater war nämlich siebzehn Jahre älter als sie.
Dann kam auch noch ich, ein unerwünschtes Kind. Gleich nach meiner Geburt sagte eine Krankenschwester: ‚Mit diesem Kind werden Sie noch viel Schwierigkeiten bekommen.‘ Vielleicht machte sie diese negative Prophezeiung, weil ich nicht an der Brust meiner Mutter trinken wollte, doch leider hatte die Schwester mit ihrer Aussage auch nur allzu recht.
Am selben Tag wie ich kam auch Mohrle, meine kleine schwarze Katze, auf die Welt. Das war für mich etwas ganz Besonderes.
Meine Mutter war nach der Geburt psychisch so angeschlagen, dass sie nicht richtig für mich sorgen konnte. So sind meine frühesten Erinnerungen, dass ich nur eine Last für sie war und in verschiedenen Familien hin- und hergeschoben wurde. Meine Tanten waren dagegen ganz begeistert von mir. Sie küssten mich häufig und es hieß dann immer: ‚Ist der aber süß mit seinen blonden Haaren und den blauen Augen, wie ein Engelchen.‘
Meine Mutter kümmerte sich wenig um das, was ich so machte. An einen Vorfall erinnere ich mich noch besonders gut. Ich war damals etwa sechs Jahre alt und sehr interessiert daran, wie die alte Taschenuhr meines Vaters von innen aussah. So beschäftigte ich mich eines Nachmittags sehr eingehend damit.
Als mein Vater am Abend nach Hause kam und seine wertvolle Uhr zerlegt vorfand, griff er voller Wut zum Schürhaken, der neben dem Ofen lag. Da kam meine Mutter dazu und stellte sich schützend vor mich. Ich hatte panische Angst. ‚Kannst du nicht aufpassen, was dein Sohn tagsüber macht?‘, schrie mein Vater sie an.
‚Es tut mir leid. Tue ihm nichts! Ich werde ihn bestrafen. Überlasse es mir! Bitte!‘, flehte sie ihn an. Daraufhin wandte sich mein Vater ab. Meine Mutter ergriff mich bei der Hand und führte mich zur Kellertreppe.
Dort schlug sie mich mit einem Bambusrohr und brachte mich anschließend in unseren in die Erde gehauenen Keller, einen schmalen Raum, in dem Eier, Eingemachtes und andere Vorräte aufbewahrt wurden. Sie schloss die Kellertür ab und machte am Schalter, der sich außerhalb des Kellerraumes befand, das Licht aus.
Nach einer Weile schlug meine Angst in diesem dunklen Vorratsraum in Wut und Hass um. Ich schmetterte die Eier, die Einmachgläser, einfach alles, was mir zwischen die Finger kam, zu Boden. Als meine Mutter das hörte und die Zerstörung sah, schlug sie mich wieder.
Ich könnte dir nicht einmal sagen, ob mein Vater wirklich mit dem Schürhaken auf mich losgegangen wäre oder nicht. Ich weiß bis heute nicht, wie er wirklich war. In all den Jahren lief es immer auf diese Weise ab: Meine Mutter stellte sich schützend zwischen mich und den maßlosen Zorn meines Vaters und bestrafte mich auf ihre Art.
Natürlich erlebte ich auch tolle Zeiten mit meinem Freund Manfred
hier in diesen Wiesen und Wäldern. Dass wir Lausbuben dabei immer wieder mal die Hosen zerrissen, blieb nicht aus. Dann traute ich mich kaum nach Hause, weil ich wusste: Jetzt setzt es wieder eine Tracht Prügel. Nach so einer Abreibung war mir meine Katze Mohrle, die immer zu meinen Füßen schlief, ein großer Trost.
Als ich eingeschult wurde, hatte ich Angst vor allem Möglichen. Meine Leistungen waren miserabel und im ersten Zeugnis stand: „Versetzung gefährdet.“
Für meine Eltern war ich eine Enttäuschung auf der ganzen Linie. Eigentlich hätte ich gemäß der Familientradition meiner Mutter Pfarrer werden sollen, bei so schlechten Noten war das jedoch ausgeschlossen.
Aber meine Eltern investierten auch nicht gerade viel in mich. Das meiste musste ich mir irgendwie mühsam erarbeiten. Ich habe mir beispielsweise selbst beigebracht, meine Schuhe zu binden.“
Martin machte eine kleine Pause, vielleicht um festzustellen, wie ich das Ganze aufnahm. Ich versuchte, mich in ihn hineinzuversetzen und ihn zu verstehen. Das fiel mir jedoch nicht leicht, da ich im Großen und Ganzen eine problemlose Kindheit gehabt hatte.
Nach meinem älteren Bruder hatten meine Eltern fünf Jahre auf ein zweites Kind gewartet und den Tag meiner Geburt herbeigesehnt. Dass es Eltern geben sollte, die ihre Kinder nicht liebten oder es sie zumindest nicht spüren ließen, konnte ich mir nur schwer vorstellen. Ich dachte immer, das sei doch das Mindeste, so eine Art Grundausstattung für jedes Kind. Auch die spürbare Liebe meiner Eltern untereinander war für mich das Selbstverständlichste auf der Welt.
„Meine Lage muss wohl zum Gotterbarmen gewesen sein“, fuhr Martin fort, „denn eines Tages schickte er mir einen besonderen Menschen. Heute weiß ich sicher: Es war eine Fügung Gottes, damit mein Leben nicht ganz danebenging.
Onkel Gustav war nicht mein richtiger Onkel, aber ich durfte ihn so nennen. Er hatte einen weißen Haarkranz und gütige, blaue Augen. Mit seiner Frau war er Ende der Vierzigerjahre aus dem Osten geflohen. Am Anfang hatten die beiden in unserem Haus gewohnt, sehr beengt und ohne Küche. Nach ein paar Jahren zogen sie in die Dorfmitte um.
Als pensionierter Lehrer übernahm Onkel Gustav nun meinen Nachhilfeunterricht. Zwei-, dreimal in der Woche ging ich zu ihm, übte Lesen, Schreiben und Rechnen, und eine Lücke nach der anderen schloss sich.
Ich erinnere mich noch genau, wie es war, wenn ich zu ihm zur Nachhilfe kam. Sein Arbeitszimmer, einen kleinen, länglichen Raum, hatte er unter dem Dachboden eingerichtet. Meist saß er an einem Sekretär mit vielen Fächern, der am Fenster stand, und schrieb. Dann drehte er sich zu mir um und begrüßte mich freundlich, so als ob ich sein Sohn wäre. Ich merkte, er hatte sich auf mich gefreut. Das hatte ich bis dahin noch nicht erlebt.
Onkel Gustav hatte meine Not erkannt, nicht nur die äußerliche, die in den schlechten Leistungen sichtbar wurde, sondern auch den Mangel an Liebe und Geborgenheit. Nie wurde er böse oder auch nur ungeduldig. Am Ende meines Nachhilfeunterrichts bekam ich oft etwas Süßes als Belohnung geschenkt. Meine Schulnoten besserten sich merklich.
Es war für mich eine besondere Freude, in den Sommermonaten mit „meinem Onkel“ in dessen Schrebergarten zu sitzen. Ich weiß noch, wie stolz er auf seine Karotten war, die wir dann gemeinsam ernteten.
Gerne hörte ich ihm zu, wenn er Geschichten erzählte oder mir wichtige Dinge über das Leben mitteilte. ‚Martin, Gott hat all das geschaffen, und er wollte, dass wir es bewahren‘, sagte er mir, während er auf die Obstbäume deutete, an denen rote Äpfel reiften. Onkel Gustav liebte die Tiere und Pflanzen und legte eine gute Saat in mich, die aber erst Jahre später aufgehen sollte.
Zweimal im Jahr fuhr ich mit meinen Eltern in den Urlaub, im Sommer nach Scheidegg und im Winter nach Rohrmoos, einem abgelegenen Gebirgstal in den Allgäuer Alpen. Das einzige Gasthaus mit Fremdenzimmern, das es dort gab, gehörte Freunden meines Vaters. Gleichzeitig war es ein Treffpunkt für Holzfäller, Jäger und gelegentlich auch Wilderer.
Unser Zimmer lag genau über dem Gastraum. Durch die dünnen Holzwände bekam ich mit, was sich da unten abspielte, auch so manche Schlägerei dieser oft recht rauen Burschen. Krachend fiel die Wirtshaustür ins Schloss, wenn wieder mal einer in den tiefen Schnee hinausgeworfen worden war.
Im Winter 1959, als ich acht Jahre alt war, geschah etwas ganz Besonderes. Damals bekam ich starkes Fieber. Die einzige Straße und Verbindung zum nächstgrößeren Ort war stark zugeschneit.
‚Ich kann nicht zu Ihnen kommen, das ist zu gefährlich‘, teilte der Arzt meiner Mutter am Telefon mit. ‚Da komme ich nicht durch. Das kann ich wirklich nicht riskieren!‘
Meine Mutter versuchte es mit Wadenwickeln, dennoch stieg das Fieber auf über 40° C an. Mir war heiß, ich merkte, wie ich innerlich glühte. Langsam verlor ich das Bewusstsein und hatte einen Traum, den ich nie mehr vergessen werde. Ein Licht hüllte mich ein und ich sah eine Gestalt, von der Liebe und Geborgenheit ausgingen. Frag mich nicht, warum, aber ich wusste einfach, dass es Jesus war.
Dann sank das Fieber langsam wieder – leider, konnte ich damals eigentlich nur sagen – und widerwillig kehrte ich ins Leben zurück, zurück nach Oberherrlingen und damit zurück in das Elend.
Mit meinem Vater ging es zunehmend abwärts. Ich denke, er war sehr verzweifelt über seine Ehe und darüber, dass er nicht die Kraft hatte, das zu leben, was er als Laienprediger verkündigte. Immer häufiger kam er am Abend betrunken nach Hause. Aus Angst verlangte meine Mutter, dass ich bei ihr im Schlafzimmer blieb, und schloss dann die Tür ab.
Meinem...