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Ungeschminkt

Im Galopp durch die geschenkte Zeit - Teil II - Autobiografische Reportage

AutorErwin Leister
VerlagBooks on Demand
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl296 Seiten
ISBN9783746083414
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis5,49 EUR
In der Fortführung seiner Biografie schildert Erwin Leister den Weg seiner Karriere, vom einstigen "Provinzschauspieler" zum Regisseur. In vielen Episoden gewährt er dem Leser interessante Einblicke hinter die Kulissen des Theaters und des Fernsehens. Zu den Stationen seines Schaffens zählen unter anderem Berlin, Warschau, Kairo und Leipzig. Heiter, ernst und nicht kritiklos, lässt er den Leser an seinem "bewegten" Leben teilhaben.

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Leseprobe

DIE BETROGENE GENERATION


Diesem Verbrecher genügten nur 12 Jahre, halb Europa in Schutt und Asche zu legen, zwanzig Millionen Leben auszulöschen, um sich am Ende der Apokalypse ohne Skrupel, feige und verlogen aus dem Leben zu stehlen!

Unbegreiflich – es bleibt ein Phänomen der Geschichte – wie eine gebildete Nation, angeblich das „Volk der Dichter und Denker“, auf diesen perfiden Demagogen Hitler hereinfallen und ihm, bis zum bitteren Ende, folgen konnte.

Gottlob ist das mörderische Inferno seit über einem Jahr Geschichte, die Waffen schweigen.

Nahe der englischen Hafenstadt Harwich, in einem improvisierten Zeltcamp, warte ich mit hunderten deutscher Kriegsgefangener, auf den Abtransport in die Heimat.

Einst aufgewachsen in einem Land, das sich selbstherrlich „Großdeutschland“ nannte, marschierten wir, im festen Glauben an den „Endsieg“, „für Führer, Volk und Vaterland“, jung und voller Enthusiasmus, in die Schlachten.

Wir siegten, verloren, opferten unsere Knochen, verreckten, überlebten das sinnlose Gemetzel und verbrachten letztendlich viele Jahre hinter Stacheldraht.

In diesem Sommer, Juni 1947, zeigt sich die Sonne besonders freundlich und in unserem Zelt, spartanisch ausgestattet mit 50 Doppelstockbetten, ist es verdammt heiß.

In der „oberen Etage“ eines Doppelstockbettes durchlebe ich zum wiederholten Mal das Wiedersehen mit den Eltern und Manfred, meinem Bruder.

Auf dem Unterbett Sepp Hintermoser aus Tirol und Paule Hufnagel aus Potsdam.

Auch sie beschäftigt nur ein Thema – unsere Heimkehr!

„Sag‘ Erwin, schläfst du?“

„Nee, warum?“

„Wenn i` so d`rüber nachdenk`, ha`m wir doch a` verdammtes Glück g`habt!“

Paule hält inne mit dem Brilleputzen:

“Glück… wie meenst`n dett?“

„Naja, wenn i` so an die armen Schweine in Russland denk`...“

„Da haste Recht, keen Mensch kann sich sein Schicksal aussuchen, det passiert ebend.“

„Sag Erwin… und du willst dich tatsächlich in die „Russenzone“ absetzen?“

„Mensch Sepp, dort bin ich geboren.

Thüringen ist meine Heimat und wenn…“

„Attention please! Attention please!

Alle Kriegsgefangenen der „Russischen Besatzungszone“, mit dem Familiennamen A bis einschließlich L, machen sich bereit!

Nach kurzer Busfahrt werden sie den Hafen von Harwich erreichen und von dort mit dem Fährschiff übersetzen nach Holland.

Ende.“

Jedweder Gefühlsduselei entwöhnt, drücke ich beiden nur kurz die Hand:

„Macht`s gut. Meine Adresse habt ihr. Vielleicht sehen wir uns irgendwann mal wieder.“

Paule nickt:

„Bleib jesund alter Knabe und komm` jut heim!“

Die Nordseewellen benehmen sich ausnehmend friedlich, als wir am Nachmittag das Fährschiff nach Holland besteigen.

Dicht gedrängt auf dem Oberdeck, den Seesack krampfhaft untern Arm geklemmt, kommen wir uns irgendwie „verloren“ vor.

Nirgendwo auf dem Schiff ist ein englischer Wachsoldat in Sicht!!

Und es dauert, bis uns allmählich bewusst wird… wir sind frei… Kameraden… wir sind frei!!!

Unweit von mir tönt eine verhaltene Stimme:

„In der Heimat, in der Heimat…“

Und Sekunden später, singt, jubelt, ein Chor von 500 überglücklichen Männern:

„In der Heimat, in der Heimat, da gibt`s ein Wiedersehen!“

Freudetrunken liegen wir uns in den Armen, währenddessen fleißig die „Tränchen“ kullern…

Just in dem Augenblick als das Fährschiff am Kai in Hoek van Holland anlegt, öffnet der Himmel sämtliche Schleusen, es gießt aus Eimern und sieht nach einem Dauerregen aus.

Zu unserem Glück!

Somit bleibt uns, während der bevorstehenden Eisenbahnfahrt, der Anblick unserer, am Boden liegenden Heimat, erspart.

In Sichtweite unserer Anlegestelle wartet er bereits, der „Heimkehrerexpress“!

An der Spitze der endlosen Güterwagenschlange, zwei imposante Lokomotiven, die bereits mächtig unter Dampf stehen.

Im Laufschritt und nass bis auf die Knochen, erklimmen wir den uns zugeteilten Wagon und beim Anblick der „Innenausstattung“ bekommt unsere Euphorie einen sanften Dämpfer.

Die Wände verdreckt, der Fussboden verschlissen und als Krönung stinkt es auch noch bestialisch!

Was soll` s, wir haben schon Schlimmeres überstanden, Augen zu und durch.

Wir nutzen unseren, von der „Royal Navy“ ausgemusterten Seesack, als Kopfkissen und während die entfesselten Regentropfen unaufhörlich auf unsere ärmliche Bleibe hämmern, „verabschieden“ wir uns einstweilen von dieser „schnöden Welt“.

Am nächsten Morgen, als wir die hessische Grenze Richtung Osten passieren, haben sich die Regenwolken endlich davon gemacht und während einige Kameraden versuchen die Wagontür aufzuschieben, steht die übrige Belegschaft gespannt in den „Startlöchern“, um einen möglichst günstigen Platz zu ergattern.

Erste Sonnenstrahlen, die neugierig durch die Baumwipfel blinzeln, dazu die klare, frische Morgenluft – es tut der Seele wohl!

Momentan nähern wir uns einer Gegend, die mir seit frühester Jugend vertraut ist – das Eichsfeld!

Unweit von hier erhebt sich der „Hülfensberg“, ein weit über das Eichsfeld hinaus bekannter Wallfahrtsort.

Zu Füßen dieser Pilgerstätte liegt, eingebettet in eine sanfte Hügellandschaft, das beschauliche Dörfchen Döringsdorf.

Eine kleine Zweihundertseelengemeinde, in der mein Vater einst, als frisch gebackener Junglehrer, seine ersten Sporen verdient hat.

Döringsdorf – dieses, für den Rest der Welt völlig unbedeutende Fleckchen Erde, ist für mich von „Historischer Bedeutung“!

Hier haben, am 8. November 1924, meine Eltern, Oma, Opa und der Rest der Sippe, mir, dem allerersten Enkelkind, die „gebührende Bewunderung“ gezollt.

Wir dampfen weiter durch das beschauliche Thüringer Land, passieren kleinere Orte, die vom Krieg anscheinend verschont geblieben sind und nähern uns der Stadt, wo die Eltern und Bruder Manfred, das „Inferno“ glücklicherweise überstanden haben – Erfurt.

Ehemals bekannt als die „Blumenstadt im grünen Herzen Deutschlands“.

Meine Ankunft steht in den Sternen und dass ich noch vierzehn Tage in einem Quarantänelager „einsitzen“ muss, ahnt meine Familie nicht.

Die Lokomotiven beginnen das Tempo merklich zu drosseln, während mein Puls mehr und mehr an Fahrt aufnimmt.

Erste Häuser…Straßen… Grünanlagen… Einfahrt in den Bahnhof… Bremsen quietschen… ein Ruck…der Zug steht!

Erfurt – Hauptbahnhof

Bahnsteig A

Mir verschlägt es die Sprache!!

Das Bahnhofsgebäude verkommen… auf den Gleisen verstreuter Müll… verrostete Hinweisschilder… überall Berge von Schutt!

Auf dem Bahnsteig einige Reisende, zumeist Frauen und Alte.

Ärmlich gekleidet, abgemagert, die Gesichter verhärmt, kaum ein Lächeln.

Manche blicken verstohlen zu uns herüber.

Was mag in ihnen vorgehen?

Vielleicht ist der Mann, Sohn oder Bruder vermisst, gefallen oder noch irgendwo in Gefangenschaft?

Ein Mädchen winkt.

Offensichtlich gilt der Gruß mir.

Ich winke, leicht verkrampft, zurück.

Im Wagon herrscht Stille…die Kameraden sind ebenfalls geschockt.

Ein alter Schaffner zückt seine Trillerpfeife, hebt die Kelle und langsam setzt sich unsere „Heimkehrerschlange“ wieder in Bewegung, Richtung Saalfeld-Unterwellenborn, der letzten Station meiner Odyssee.

Das Qurantänelager diente während des Krieges französischen „Fremdarbeitern“, die im benachbarten „Stahlwerk Unterwellenborn“ für den „Endsieg“ schuften mussten, als Unterkunft.

Die Barackenwände „verraten“ es.

Überall französische Sprüche und Verse, zum Teil mit erotischem Hintergrund.

Das Lager umsäumt ein hoher, verrosteter Stacheldrahtzaun.

Den Eingang „ziert“ ein Schlagbaum, daneben ein verlassenes Postenhäuschen.

Ich teile mein spartanisch eingerichtetes „Apartment“ mit drei sogenannten „Grenzgängern“.

Zwielichtige, ausgebuffte Geschäftemacher, die einem zeitgemäßen „Gewerbe“ nachgehen.

Bei Nacht und Nebel stehlen sie sich über die „grüne Grenze“, kaufen in den drei „Westzonen“, der amerikanischen, französischen und englischen ein, um es möglichst gewinnbringend in der „Ostzone“ zu verscherbeln.

Ihr Habitus entspricht kaum dem armseligen, gegenwärtigen „Modetrend“ und im Gegensatz zu den meisten Lagerinsassen, verrät ihre...

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