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Unsagbare Dinge. Sex Lügen und Revolution

Nautilus Flugschrift

AutorLaurie Penny
VerlagEdition Nautilus
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783864381737
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Laurie Penny spricht das Unsagbare aus: Fucked-up Girls und Lost Boys, sexuelle Gewalt, Liebe und Lügen sind ihre Themen. Sie zeigt, dass Feminismus ein Prozess ist: Egal, wie man sich nennt - wichtig ist, wofür man kämpft. Laurie Penny zerlegt gnadenlos den modernen Feminismus und die Klassenpolitik, wenn sie von ihren eigenen Erfahrungen als Journalistin, Aktivistin und in der Subkultur berichtet. Es ist ein Buch über Armut und Vorurteile, Online-Dating und Essstörungen, Straßenkämpfe und Fernsehlügen. Der Backlash gegen sexuelle Freiheit für Männer und Frauen und gegen soziale Gerechtigkeit ist unübersehbar - und der Feminismus muss mutiger werden! Laurie Penny spricht für einen Feminismus, der keine Gefangenen macht, dem es um Gerechtigkeit und Gleichheit geht, aber auch um Freiheit für alle. Um die Freiheit zu sein, wer wir sind, zu lieben, wen wir wollen, neue Genderrollen zu erfinden und stolz gegenüber jenen aufzutreten, die uns diese Rechte verweigern wollen. Es ist ein Buch, das jenen eine Stimme gibt, denen das Sprechen verboten wird - eine Stimme, die das Unsagbare ausspricht.

Laurie Penny, 1986 in London geboren, hat Englische Literaturwissenschaft in Oxford und Harvard studiert. Heute lebt sie als Journalistin und Autorin wieder in Großbritannien und schreibt u.a. für den 'Guardian', die 'New York Times', den 'New Statesman' und für 'New Inquiry' sowie auf Twitter, wo sie über 170?000 Follower hat. Ihre Bücher 'Fleischmarkt' (2012), 'Unsagbare Dinge' (2015), 'Babys machen & andere Storys' (2016) und 'Bitch Doktrin' (2017) machten Penny zur Ikone des jungen Feminismus.

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Leseprobe

1


Abgefuckte Mädchen


»Sie werden mich lieben für das, was mich zerstört.« Sarah Kane, 4.48 Psychose

Der Teppich hat die Farbe von Rotz und stinkt nach Bleiche. Ich weiß das, weil ich mein Gesicht hineinpresse. Ich liege reglos da, damit mich die Krankenschwestern nicht finden, auf dem schaurig schnodderfarbigen Boden, aus dem der Schmutz menschlicher Schädel herausgeschrubbt wurde, bis in die tiefste Faser, wie überall auf der Station. Kein Staubkrümel, kein Fettfleck ist in diesem Krankenhaus erlaubt, in dem sogar die Freundlichkeit klinisch rein ist und mich erstickt wie eine desinfizierte Zudecke. Ich bin siebzehn Jahre alt und verstecke mich unter dem Bett.

Es ist das Jahr 2004, und ich müsste mich in der Schule auf meine Prüfungen vorbereiten. Stattdessen bin ich auf einer psychiatrischen Station für Menschen mit lebensbedrohlicher Magersucht und verwende meine gesamte Energie darauf, mich immer wieder vor den Krankenschwestern zu verstecken, die Tag und Nacht alle zehn Minuten vorbeikommen und nachsehen, ob wir unser Proteinpulver ausgekotzt oder eine CD zerbrochen und mit den Splittern wütende Worte tief, sehr tief in das Fleisch unseres Unterarms geritzt haben. Beides ist in den vergangenen Wochen vorgekommen. Ich weiß es noch, weil das mit dem Ritzen meine Zimmergenossin war und sie meine Sleater-Kinney-CD dafür benutzt hat. Ich habe nichts so Groteskes vor. Ich will nur mehr als zehn Minuten am Stück allein sein mit meinem Notizbuch, allein mit meinen Gedanken, irgendwo, wo mich niemand ansehen kann.

So liege ich zitternd unter dem Bett. Auf meinem Rücken wächst ein feiner weicher Flaum; das geschieht, wenn du in einem kalten Land lebst und gefährliches Untergewicht hast. Der Körper versucht sich auf jede erdenkliche Weise warm zu halten. Deshalb kauerst du, hemmungslos schlotternd, an einer Heizung und bemühst dich erfolglos, gegen die Kälte anzukommen, die dir mit eiskalten Fingern in die Knochen stochert. Deine Persönlichkeit rinnt davon. Du bist zu einer Kreatur geworden, die hungert, scheißt, kotzt und zittert, und das war’s auch schon. Du kannst nicht klar denken. Dein Äußeres verschreckt deine Freunde und deine Familie. Wegen des Nährstoffmangels treibt dich nur noch das Adrenalin an, du wirst zu einem primitiven Ding, das, ohne es zu wollen, jeder Art von Nahrung nachjagt, Mülleimer durchwühlt, sich mit den Händen Müsli in den Mund stopft, um es gleich darauf in Panik wieder zu erbrechen. Du bist ein Häuflein Elend. Die Haare werden dünn und fallen aus. Du machst zwanghaft Sit-ups und Liegestütze, rennst mehrere Kilometer am Tag, obwohl du nicht mehr als ein paar Löffel dünnen Haferschleim im Magen hast.

Du machst das nicht um der Schönheit willen. Du weißt, du siehst grauenhaft aus. Du tust es, weil du verschwinden willst. Du willst nicht mehr angeschaut werden. Du bist es leid, angesehen und beurteilt und für mangelhaft befunden zu werden. Du willst nicht erwachsen werden, fülliger werden, dich auf gesunde und positive Weise auf Sex einlassen. Vor allem bist du es leid, beobachtet zu werden. Du hast das dir Mögliche getan, artig zu sein, und trotzdem hast du versagt, und nun bist du eins dieser abgefuckten weißen Mädchen, die den Bach runtergehen.

Abgefuckte weiße Mädchen. Die Buchauslagen und Zeitschriftenständer in den Städten quellen über von Geschichten über abgefuckte weiße Mädchen, schöne kaputte Püppchen, die mit der Freiheit und den Chancen, die sie geerbt haben, nicht zurechtkommen, die armen Dinger. Wir fetischisieren diese Mädchen, fotografieren sie, retuschieren ihren geblähten Bauch und ihre spitzen Knochen, legen Glanz auf die matte Haut und die starren Gesichtszüge und bleichen sie mit dem Blitzlicht der klickenden Kamera, gerade so, als stimmte der alte Aberglaube und die käferschwarzen Geräte raubten einem Menschen mit jedem Schnappschuss die Seele. Das Scheitern ist zu einem Modeaccessoire geworden, einem Luxus. Dem Leben nicht gewachsen zu sein, ist cool. Das Koksen, das Saufen, die Essstörungen, die hauchdünne transzendente Schönheit einer jungen Frau, die reich genug ist, um sich im Falle eines Zusammenbruchs eines Unterstützungssystems gewiss sein zu können: Das ist mittlerweile ein fester Bestandteil des neoliberalen Weiblichkeitsmythos, und der Konsum – das junge Mädchen, in den Wahnsinn getrieben, beginnt, sich selbst zu konsumieren, Knochen zehren Muskeln auf, die sich ihrerseits von Drogen und Narzissmus nähren, eine prachtvolle Neurose –, dieser Konsum ist der Gipfel und die Verkörperung dessen, was Frauen sein sollen, was das moderne Leben sein soll: Wir essen uns von innen heraus auf. Wir streben nach Perfektion und sind kreuzunglücklich dabei. Alles zu haben, schließt die Selbstverwirklichung nicht unbedingt ein. Dafür sind ja die Läden da.

Das elegante Sichauflösen ist das Spiel des reichen Mädchens, das Spiel des weißen Mädchens, das Spiel des Modemädchens. Das macht uns jedenfalls die Klatschpresse weis. Natürlich ist das Schwachsinn. Wenn man der Sache auf den Grund geht, bis auf das Fleisch, den Rotz und die Knochen, interessiert sich absolut niemand für das Innenleben des abgefuckten Mädchens, ihre unglamourösen alltäglichen Zusammenbrüche, das echte Bemühen, sich auf den Druck, die Widersprüche und die täglichen Demütigungen einzustellen, aus denen die weibliche Realität im Westen des 21. Jahrhunderts besteht, nicht nur in Chelsea und der Upper West Side, sondern überall. Im richtigen Leben erwischt es Mädchen verschiedenster Herkunft, in Vorstädten und in Gettos, in Provinznestern und auch auf der Südhalbkugel; sie schlucken ihre Wut hinunter und lassen sie an ihrem Körper aus, und überall wird es schlimmer.17 Nicht zufällig wird auch eine andere klinische Diagnose Frauen viel öfter gestellt als Männern: Anpassungsstörung.18 Du hast es eben nicht geschafft, dich angemessen den sozialen Erwartungen anzupassen.

Raum einnehmen


Acht Jahre später. Frühling in New York City. Das Mädchen, das mir am Tisch gegenübersitzt, macht seltsame Sachen mit einem Sandwich. Sie hat es in vier gleich große Teile geschnitten und nimmt jetzt mit spitzen Fingern jedes Viertel auseinander, als wäre es eine Bombe, die gleich explodiert; sie wischt die Mayonnaise mit einer Serviette vom Brot, stapelt Schinken und Salat sorgfältig zu gleich großen Häufchen, gibt auf jedes einen winzigen Tupfer Senf und isst sie dann hastig und mit zitternden Händen. Man sollte meinen, dass das den anderen Leuten im Café auffällt, aber wir sind in New York, wo der Anblick hungriger, hohläugiger, rituell fastender Frauen zur Gewohnheit geworden ist.

Ich betrachte das Spiegelbild des Mädchens im Fenster des Cafés. Ich habe nichts mit ihr gemein, außer, dass ich zufällig dieselbe Person bin. Oder besser gesagt waren wir dieselbe Person, vor einer Ewigkeit, damals, als ich mit Magersucht in die Klinik kam. Es ist drei Jahre her, seit ich wieder vollständig genesen bin, doch hin und wieder, immer um diese Jahreszeit, schleichen sich die alten bizarren Gewohnheiten wieder ein: Essen wird zum Feind, jeder Spiegel zum Verräter. Ich weiß nicht genau, was mit der mageren unglücklichen Siebzehnjährigen, die ich einst war, geschehen ist. Ich glaube fast, ich habe sie aufgegessen in den langen Monaten, in denen ich gelernt habe, dass es in Ordnung ist, wenn ich Raum einnehme. Aber in den Straßen der größeren Städte sehe ich jeden Tag Menschen wie sie, Geistermenschen, die ins Leere starren, mit spindeldürren Gliedern, angetrieben von manischer Energie, dick eingepackt gegen die Kälte, gegen die sie nicht ankommen, Frauen aller Altersstufen, und mindestens 15 Prozent sind Männer.

Essstörungen gelten nach wie vor als typische Erkrankungen hübscher junger weißer Frauen, und das erklärt wohl, warum nach den vielen Jahren, in denen »ein Bewusstsein dafür geschaffen« wurde, jede Menge Glamour und eine rätselhafte Aura diese tödlichste aller psychischen Krankheiten umgeben, aber herzlich wenig Erkenntnisse dazu vorliegen. Auch nach Tausenden dramatischer Zeitschriftenartikel, die praktischerweise mit Fotos halbnackter traurig dreinblickender Models illustriert werden können, nimmt die Zahl der Erkrankungen noch zu, und wir sind der Lösung eines der großen Rätsel des modernen Lebens keinen Schritt näher gekommen: Warum hungern sich eigentlich so viele der klügsten und besten jungen Menschen langsam zu Tode?

Ein besserer Schuldiger als »die Zeitschriften« fällt uns dazu nicht ein. Das sagt mehr darüber aus, welche Gedanken die Gesellschaft im Kopf weiblicher Teenager vermutet, als über die Ursache einer Epidemie, die jedes Jahr Tausende junger Menschen umbringt und unzählige weitere dazu bringt, in einem Leben dahinzuvegetieren, in dem die schönsten Träume auf die Größe eines Tellers geschrumpft sind.

Über Essstörungen sollte man vor allem eines wissen: Hungern,...

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