Vorwort zur Taschenbuchausgabe
Das vierzigjährige Jubiläum der 68er-Revolte erforderte eine Streitschrift. Prompt reagierten viele der gealterten Weltverbesserer gereizt. Es reichten ein paar spitze Bemerkungen über längst vergangenen Irrungen und Wirrungen, versehen mit einem nostalgischen Titel, »Unser Kampf« eben, schon gerieten die Antiautoritären von vorgestern aus dem Häuschen. Aufgescheucht riefen sie: Unverschämtheit! Widerwärtig! Das geht zu weit!
In Grüppchen untergehakt rückten die Kampfgefährtinnen und Kampfgefährten zu meinen etwa 40 Lesungen an. Humorfrei und stahlgrau nahmen sie Platz und legten los: »Renegat! Konvertit! Geschäftemacher! Nein, lesen werden wir das Machwerk nicht!« Anwürfe wie »Verräter« und »Denunziant« wurden engagiert von Hocherregten vorgetragen, die gleichzeitig den »ausschließlich aufklärerischen Charakter unserer Bewegung« und ihre eigene Unschuld beteuerten. Wie sollte ich aus dieser reinen Welt der Menschlichkeit und allseitigen Emanzipation irgendjemanden denunzieren oder verraten können?
Meiner Buchvorstellung im wendländischen Hitzacker ging ein Boykottaufruf voraus. Verfasst hatten ihn einige der im Landkreis Lüchow-Dannenberg geballt vertretenen Alt-Alternativen. Sie kämpfen für gerechte Ressourcenverteilung, gegen Atomstrom und belegen gut und gern 150 Quadratmeter Wohnfläche pro Person. Immerhin erschienen etwa 30 der Vorgewarnten. Wut und Empörung hatten sie unter ihren Reetdächern hervorgetrieben. Gegen Ende des Abends trat eine straffe Seniorin an mich heran (»Ich bin die Edelgard«) und blickte vorwurfsvoll. Kommentarlos überreichte sie mir ihr Büchlein »Zusammen mehr erreichen – Kleiner Ratgeber für Bezugsgruppen«. Das Werk beginnt mit einem frischfröhlichen »Hallo allerseits!« und endet auf der Rückseite mit dem Rüstspruch »Die Chemie muss stimmen«. Klingt das nicht nach Volksgemeinschaft? Unmöglich, so etwas gibt es in Edelgards feindesreiner Bezugsgruppenheimat nicht.
Im Verlauf solcher Begegnungen setzten meine Kontrahenten in der Regel vier Abwehrargumente ein: 1. Wer nicht dabei war, kann über diese Zeit nicht urteilen. 2. Wir wollten das Neue. 3. Nicht alles war schlecht. 4. Wir lassen uns unsere Biographie nicht rauben. So ähnlich hatten nach 1945 schon die Eltern der 68er geredet und nach 1989 nicht wenige DDRler. Nach den ersten Zusammenstößen mit meinen bekennenden NichtleserInnen war das Motto für die weiteren Veranstaltungen gefunden: Gegen den Muff von 40 Jahren.
Nicht alle, aber viele der Oldies erwiesen sich in den Diskussionsrunden als selbstgewisse Meister der Erinnerungsflucht und Schönfärberei. Da wurde ernsthaft behauptet, die seit Februar 1968 massenhaft skandierte Parole »USA-SA-SS«, die den Drang der Nazi-Kinder zur Schuldverschiebung so sinnfällig dokumentiert, sei aus Frankreich importiert worden. Wie die Parole auf Französisch geklungen haben soll, bleibt das Geheimnis der Geschichtenerzähler. Von solchen Details abgesehen beschränkten sich die einst aktiven 68er auf zwei Ausreden: 1. In Frankfurt war alles ganz anders als in Westberlin, in Tübingen ohnehin. 2. Ich war ein paar Jahre zu jung (wahlweise zu alt), um die »schlimmsten Auswüchse« mitzumachen. Immerhin gab es solche, nur scheinen sie aus den Gedächtnissen entschwunden.
Vergessen gemacht wird zum Beispiel von den Grünen, dass sich zum Zeitpunkt ihrer Gründung mindestens die Hälfte des Führungspersonals aus revolutionären Sponti-Vereinigungen und doktrinär-marxistischen Gruppen rekrutierte. Stattdessen sind sich dieselben Leute – ob sie nun Antje Vollmer, Joschka Fischer, Jürgen Trittin oder Claudia Roth heißen – einig, dass jene Gruppen nur als bedauerliche Randerscheinung des allgemeinen »Aufbruchs« anzusehen seien. Man muss solche Rätsel nicht lösen; tatsächlich ist der spätere Hang Zehntausender westdeutscher Studenten zum sowjetunionfreundlichen MSB Spartakus, zum Stamokap der Jungsozialisten oder zur soundsovielten trotzkistischen Internationale lebensgeschichtlich nicht günstiger gewesen.
Die linken Buchhandlungen, die mich mit den Büchern zum Nationalsozialismus gerne eingeladen hatten, wollten ihrem Publikum den Autor dieses für manche unaussprechlichen oder »saugefährlichen« (Jutta Ditfurth) Buches nicht zumuten – bis auf eine Ausnahme: die Buchhandlung Roter Stern in Marburg. Viele linke Buchhändler beschimpften die Vertreter des S. Fischer Verlags und warnten ihre Stammkunden und Treuekartenbesitzerinnen vor dem Kauf. Bei diesen kamen seelenvolle Titel wie »Rudi und Ulrike« oder »Mein ’68« besser an, gerne genommen wurde das Zeitzeugenwerk »Vom Duft der Revolte«, die Sehschwachen schenkten einander den Bildband »Wir waren dabei«, versehen mit »ganz lieben Grüßen«. Die Leitung der Universität Göttingen lehnte im Sommersemester 2008 den studentischen Antrag ab, mich zum Thema »1968« einzuladen. Sie versagte die sonst übliche kleine finanzielle Förderung solcher Veranstaltungen, versehen mit dem ausdrücklichen Hinweis, das Buch »Unser Kampf« sei für die akademische Jugend ungeeignet. Sie hat es trotzdem interessiert gelesen.
Etwas einsichtigere 68er arbeiten weniger konfrontativ, sie bevorzugen die leisen Legenden, in erster Linie die Behauptung, sie hätten – bei aller notwendigen Kritik und Selbstkritik im Detail – wesentliche Reformprozesse in Gang gesetzt. Manche vertreten die Meinung, damals wäre die Bundesrepublik Deutschland zum zweiten Mal konstituiert, ihr erst mit der Revolte ein freiheitlicher Geist eingehaucht worden. [1]
Darin spiegelt sich maßlose Selbstüberschätzung. Tatsächlich setzten die wichtigsten Reformen in der Bundesrepublik in den frühen 1960er-Jahren ein. Träger dieser Mühen waren viele der heute 75- bis 85-Jährigen, die mit Remigranten, Antifaschisten und auch mit geläuterten Nazis gemeinsame Sache machten. Das von Fritz Bauer, Hans Bürger-Prinz, Hans Giese und Herbert Jäger herausgegebene Manifest »Sexualität und Verbrechen – Beiträge zur Strafrechtsreform« erschien 1963 und brachte das Thema in den Bundestag. Ralf Dahrendorf redete mit seinem Buch »Gesellschaft und Demokratie in Deutschland« 1965 einer neuen Debattenkultur das Wort. Mit zwei Koitusszenen stellte der Film »Das Schweigen« von Ingmar Bergman den gültigen Sittenkodex massiv in Frage. Die Bundesprüfstelle ließ den Film im Namen der künstlerischen Freiheit 1964 ungekürzt passieren, elf Millionen Deutsche gingen hin. Zum fröhlicheren Liebesleben ermunterte nicht Rainer Langhans, sondern der 1928 geborene Journalist und Filmemacher Oswalt Kolle. Sein Film »Wunder der Liebe« enthielt schlichte Hinweise, wie sich die zumeist mit einer milchigen Deckenlampe beleuchteten, ungeheizten und sehr kärglich eingerichteten Schlafzimmer gemütlicher machen ließen. Den unmittelbar Beteiligten, namentlich den Männern, legte er nahe, wie sich einseitige Glücksminuten zu beidseitigen glücklichen Stunden erweitern ließen und regte an, Dies oder Das experimentell herauszufinden. Angesichts der von 68ern geprägten Männerparole »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment« darf Oswalt Kolle vorbehaltlos zu den aufgeklärten Humanisten der frühen Bundesrepublik gezählt werden.
Ähnliche Übergänge fanden in der Parteipolitik statt. Den starken Einfluss alter Nazis in der FDP, die sich in den 1950er Jahren noch einen so bezeichneten Gauleiterflügel leistete, überwanden die Nachwuchskräfte der Partei. Zu den damals jugendlichen Helden des Umsturzes zählen Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher oder Liselotte Funke. Parallel dazu bildete sich seit 1961 unter den bundesdeutschen Wahlberechtigten Prozent für Prozent jene Mehrheit heraus, die sich Willy Brandt als Bundeskanzler vorstellen konnte – einen Mann also, den Konservative als »Vaterlandsverräter« schmähten. Diese rasanten Veränderungen in der deutschen Gesellschaft bildeten die Grundlage für 1968. Die Revoltierenden wurden zu Nutznießern, nicht zu Schöpfern des reformerischen Zeitgeistes. Folglich konstatierte der Kultursoziologe Wolfgang Eßbach, der selbst dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund angehört hatte, im Jahr 2006: »Man wird sagen müssen, dass viele der reformerisch Aktiven, die um 1930 geboren wurden und die um 1960 die Bundesrepublik neu zu gestalten begonnen hatten, in der historischen Erinnerung heute von den Achtundsechzigern um ihren Ruhm betrogen worden sind.« Eßbach weist darauf hin, »dass es nicht in erster Linie Altnazis waren, mit denen die Achtundsechziger zu kämpfen hatten«, sondern vor allem »junge, reformfreudige und konfliktfreudige Ordinarien mit neuen Ideen«. [2]
Viele davon werden auf den folgenden Seiten gewürdigt, die Reihe reicht von Wilhelm Weischedel bis Christian Graf von Krockow. Die Galerie lässt sich leicht verlängern. So wandte sich der ursprünglich sympathisierende Philosoph Odo Marquard 1967 von der Neuen Linken ab, weil ihm die Teach-ins »zu viel Ähnlichkeit mit NS-Schulungsabenden« aufwiesen, an denen er als Jugendlicher teilgenommen hatte. Aus anderen Gründen reagierte der Holocaust-Überlebende und -Historiker Joseph Wulf allergisch. Er bemerkte in Berlin rasch, wie sich...