Einführung
Der Schriftsteller Erich Kästner war eines, ebenso der Nobelpreisträger Wilhelm Conrad Röntgen, der Renaissance-Maler Leonardo da Vinci und das Sex-Symbol Marilyn Monroe. So unterschiedliche Temperamente wie Indira Gandhi, Josef Stalin, Königin Victoria, Alexander der Große, Brooke Shields, Elvis Presley, Iris Murdoch, Frank Sinatra – sie alle sollen, weil sie ohne Geschwister aufwuchsen, Einzelkind-typische Charakterzüge ausgebildet haben, selbstsüchtig, asozial und eigenbrötlerisch sein? Bei berühmten Einzelkindern wirkt diese Vorstellung ziemlich absurd. Bei »normalen« Einzelkindern hingegen ist es gang und gäbe, dass man sie alle in den gleichen Topf wirft und ihnen das Etikett »typisch Einzelkind« anhängt. Einzelkinder als einheitliche Gruppe zu verstehen, ist ein verbreiteter Reflex. Die Geschwisterlosigkeit, so die Meinung, soll sie alle gleichermaßen geprägt haben – in erster Linie negativ.
Die Tatsache, dass Einzelkinder ohne Geschwister aufwachsen, gilt bis in die Gegenwart als etwas »Unnatürliches«. Die Vorstellung vom armen, einsamen Einzelkind ohne Freunde zum Spielen, das bei Schuleintritt zum ersten Mal einer größeren Gruppe Gleichaltriger gegenübersteht und wegen seiner dürftig ausgebildeten sozialen Kompetenzen überall aneckt, diese Vorstellung stammt aus dem 19. Jahrhundert, als Einzelkinder rar gesät waren. Um 1900 hatte gerade mal jedes 13. Paar nur ein Kind. Die »richtigen« Familien, die der Norm entsprachen, brachten es auf durchschnittlich sechs Kinder [1]. In Anbetracht dieser Menge galten Kinder ohne ein einziges Geschwister als bemitleidenswerte Kreaturen, deren Eltern höchstwahrscheinlich durch höhere Gewalt (Tod oder Krankheit eines Ehegatten) weiteren Nachwuchs entbehrten. »Es wäre besser für die Einzelnen und für die Menschheit, wenn es keine Einzelkinder gäbe«, schrieb 1912 der österreichischamerikanische Psychoanalytiker Abraham A. Brill.
Heute gilt: zwei Kinder oder gar keine. Vorurteile gegenüber einem Kind sind noch immer sehr verbreitet, wie mehrere Untersuchungen zeigen:
Schon Kinder von acht Jahren sind sich der Vorurteile über Einzelkinder bewusst und glauben, dass Einzelkinder einsamer, verwöhnter und verhaltensgestört sind und von Freunden herumkommandiert werden. [2]
College-Studenten und -Studentinnen bezeichnen Einzelkinder als »auf sich selbst fixiert, verwöhnt, alleine und abhängig«. [3]
Bei den Erwachsenen sieht es nicht besser aus. Sie erachten Einzelkinder als einsam, überbehütet und sozial wenig kompetent. [4]
Eltern mit mehreren Kindern schätzten Einzelkinder als verwöhnt, akademisch und am wenigsten liebenswert ein. [5]
Selbst die Eltern von Einzelkindern äußerten sich negativ – wenn sie gefragt wurden, wie sie generell Einzelkinder fänden, also nicht ihr eigenes. [6]
Ähnlich absurd sind die Vorurteile der erwachsenen Einzelkinder selbst: Sie stufen den Einzelkindstatus negativ ein, obwohl sie ihre persönliche konkrete Situation ohne Geschwister durchaus als angenehm empfinden. [7]
Bleiben noch die Psychologen und Therapeuten. Auch sie, die ihre Ansichten eigentlich berufshalber kritisch hinterfragen müssten, lassen sich von Vorurteilen gegenüber Einzelkindern leiten. [8]Vertreter dieser Berufsgruppen rechneten bei einem fingierten Klienten damit, dass dieser – sobald er als Einzelkind bezeichnet wurde – »mit großer Wahrscheinlichkeit« Schwierigkeiten haben werde.
Die Vorurteile gegenüber Einzelkindern sind in den letzten dreißig Jahren gleich geblieben, obwohl sich die Gesellschaft seither stark gewandelt hat und Einzelkind-Sein heute ganz anders ausschaut als früher. Gerade in Bereichen, die Geschwisterlose betreffen, hat sich besonders viel verändert.
Erstens hat sich die Scheidungsrate erhöht; sehr wahrscheinlich sind davon nicht nur Einzelkinder betroffen – deren Eltern sich in den 80er Jahren häufiger scheiden ließen als Eltern mit mehreren Kindern –, sondern alle Paare, sodass Scheidungskinder weit weniger stigmatisiert sind als früher.
Zweitens hat sich das Alter, in dem Paare an eine Familiengründung denken, nach oben verschoben. Insbesondere gut ausgebildete Frauen lassen sich oft bis Mitte dreißig Zeit, wollen erst ihre Ausbildung abschließen und im Beruf Fuß fassen, bevor sie an Kinder denken. Häufig haben sie dadurch weniger Kinder, nicht selten nur eines.
Drittens hat sich die Stellung der Frau in der Gesellschaft stark verändert. Bei Frauen von heute stößt die traditionelle Rolle als Hausfrau und Mutter mit der dazugehörenden Aufopferungsbereitschaft auf wenig Verständnis. Die meisten Frauen wollen auch mit Kindern erwerbstätig sein, in Teilzeit oder – sofern ihre Kinder gut betreut sind – in Vollzeit.
Gerade das ist aber ein Bereich, in dem sich in den letzten dreißig Jahren zu wenig getan hat. Zu wenig, als dass es die Paare dazu animiert hätte, mehr Kinder in die Welt zu setzen – wie allerorten in Europa gefordert wird. Wo es für Mütter schwierig ist, mit Kindern weiterhin zu arbeiten, findet man besonders geringe Geburtenraten von durchschnittlich weniger als 1,3 Kindern pro Frau. [9]Das bedeutet, dass dort die meisten Paare keine Kinder haben; und jene, die Kinder haben, lassen es bei ein bis zwei Kindern bewenden. Das ist in Norditalien, Spanien, Griechenland und Ländern des ehemaligen Ostblocks wie in der ehemaligen DDR der Fall.
In einigen Ländern ist die Arbeitsmarktlage so prekär geworden, dass die berufliche Unsicherheit viele Paare davon abhält, an Nachwuchs zu denken.
Nehmen wir als Beispiel Deutschland: Eine Befragung des deutschen Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung im Jahr 2006 zeigte, dass die meisten Deutschen einen »sicheren Arbeitsplatz« für sich selbst oder für den Partner für eine unabdingbare Voraussetzung halten, um Kinder zu haben. Viele junge Männer und Frauen empfinden ihre berufliche Situation jedoch als so unsicher, dass sie die Familiengründung auf bessere Zeiten verschieben. [10]Doch nicht immer klappt es dann später, wenn die Rahmenbedingungen für Kinder besser wären, mit der Fruchtbarkeit der Paare. Viele finden sich in ihren Vierzigern kinderlos oder mit einem Kind wieder, obwohl sie in jungen Jahren einer größeren Familie nicht abgeneigt waren.
Wo zu wenige Kinder auf die Welt kommen, überaltert die Bevölkerung, mit allen negativen Auswirkungen, die das mit sich zieht. Will die Politik Paaren einen Anreiz geben, mehr Kinder zu bekommen, schreibt die deutsche Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim, sollte sie die Eltern darin unterstützen, ganz selbstverständlich trotz Kindern arbeiten zu können, statt darauf hinzuwirken, dass Frauen von heute Werte von gestern wie Selbstlosigkeit und Aufopferung für die Familie für sich neu entdecken. [11]Die Botschaft der Experten ist klar: »Wenn die moderne Gesellschaft mehr Kinder will, muss sie dafür mehr Gleichberechtigung bieten. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben.« [12]Solange sich in diesem Bereich nichts Wesentliches ändert, werden wir in vielen Ländern weiterhin – wie in den letzten zehn Jahren – eine beachtliche Minderheit von Einzelkindern haben. Das wäre an sich nicht weiter schlimm, wenn Einzelkinder nicht als »zu Vermeidende« betrachtet würden.
Die Vorurteile gegenüber Einzelkindern haben wie alle Diskriminierungen die Eigenschaft, zäh und langlebig zu sein. Sie zwängen die Geschwisterlosen in ein Korsett, aus dem es fast kein Entrinnen gibt. Stereotypisierungen machen nicht nur den Betroffenen das Leben schwer, sie bedeuten auch eine Wahrnehmungsverarmung für jene Menschen, die die Vorurteile hegen. Wer anderen mit vorgefassten Meinungen begegnet, signalisiert immer auch: Ich will dich gar nicht kennenlernen, ich weiß bereits, wie du bist: Du bist anders als ich, ich bin besser. Letzten Endes sind Stereotypisierungen die Abwehr von unbekannten Größen und von deren Qualitäten, mit denen man sich lieber nicht konfrontieren will, weil sie einen selbst unangenehm hinterfragen könnten. [13]Dieses Buch möchte aufzeigen, dass Einzelkinder sehr wohl über Qualitäten verfügen, die es lohnt kennenzulernen.
Die andere Absicht besteht darin, zu präsentieren, was die Wissenschaft zu Einzelkindern bisher herausgefunden hat. Und das ist eine ganze Menge. Seit 110 Jahren haben Forscherinnen und Forscher aus Psychologie, Soziologie und Pädagogik die ganze Palette an Befürchtungen, die der Volksmund gegenüber Einzelkindern hegt, untersucht. Tausende von Fragebogen wurden verteilt, von Einzelkindern und deren Eltern und Lehrern ausgefüllt, und von den Wissenschaftlern ausgewertet.
Das Erstaunlichste ist, dass oft herauskam, dass sich Einzelkinder gar nicht stark von Geschwisterkindern unterscheiden – die Vorurteile jedoch frisch und munter weiterbestehen. Weshalb das so ist, möchte ich mit diesem Buch ebenfalls herausfinden.
Vielleicht wird einigen Leserinnen und Lesern im Laufe der Lektüre auffallen, dass ich mich vor allem auf amerikanische und chinesische Studien beziehe. Das ist deshalb der Fall, weil die USA früher als Europa vom Geburtenrückgang betroffen waren, und weil China am meisten Einzelkinder hat. In den USA verkündeten bereits 1977 zwei Soziologen, dass die Zeit für...