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Untergetaucht

Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940 - 1945

AutorMarie Jalowicz Simon
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl416 Seiten
ISBN9783104028972
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Berlin 1942: Die Verhaftung durch die Gestapo steht unmittelbar bevor. Die junge Marie Jalowicz will leben und taucht unter. Über 50 Jahre danach erzählt Marie Jalowicz Simon erstmals ihre ganze Geschichte. 77 Tonbänder entstehen - sie sind die Grundlage dieser einzigartigen Geschichte.  »In diesem Winter 1941 spürte ich die Bedrohung wie eine Schlinge um den Hals, die sich immer weiter zuzog. Ich wollte mich retten, aber ich wusste nicht wie. Ich hatte Angst. Genauer gesagt: Die Angst hatte mich. Sie hatte mich gepackt und würgte mich«, so beschreibt sie ihren Entschluss, sich zu verstecken, bevor sie deportiert wird. Offen und schonungslos schildert Marie Jalowicz, was es heißt, sich Tag für Tag im nationalsozialistischen Berlin durchzuschlagen: Sie braucht falsche Papiere, sichere Verstecke und vor allem Menschen, die ihr helfen. Vergeblich versucht sie, durch eine Scheinheirat mit einem Chinesen zu entkommen, ein anderes Mal reist sie nach Bulgarien, um von dort nach Palästina zu fliehen. Doch sie muss nach Berlin zurückkehren. Sie findet Unterschlupf im Artistenmilieu und lebt mit einem holländischen Fremdarbeiter zusammen. Immer wieder retten sie ihr ungewöhnlicher Mut und ihre Schlagfertigkeit - der authentische Bericht einer außergewöhnlichen jungen Frau, deren unbedingter Lebenswille sich durch nichts brechen ließ. Mit einem Nachwort von Hermann Simon, Sohn von Marie Jalowicz Simon, Historiker und Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum.

Marie Jalowicz, Tochter eines jüdischen Anwalts, geboren 1922 in Berlin, überlebte die Zeit des Nationalsozialismus untergetaucht mitten in Berlin. Nach der Befreiung 1945 blieb sie in Berlin und wurde Professorin für Antike Literatur- und Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität.Ihr Sohn Hermann Simon, Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum, bat sie kurz vor ihrem Tod, die Geschichte ihres Überlebens auf Band zu sprechen. Auf dieser Grundlage hat die Autorin Irene Stratenwerth zusammen mit Hermann Simon die hier veröffentlichte Fassung erstellt. Marie Jalowicz Simon starb 1998 in Berlin.

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Leseprobe

Prolog, 1942


Es war sehr kalt draußen und schon dunkel geworden. Die Kneipe lag in der Wassertorstraße, einer Gegend von Kreuzberg, in der ich noch nie gewesen war. Ich betrat den noch ganz leeren Raum. »Hallo?«, rief jemand aus einem Hinterzimmer. Durch die offene Tür sah ich eine Frau, die dort saß und an einem Pelz herumnähte. Sie schien diese Beschäftigung nur sehr ungern aufzugeben, um zu mir nach vorn zu schlurfen.

Benno Heller hatte mich hierhergeschickt. Ich sollte mich in der Kneipe an die einzige Bedienung, eine Frau namens Felicitas, wenden. Sie war eine seiner Patientinnen. Eigentlich hätte sie als sogenannte Halbjüdin den gelben Stern tragen müssen, doch das tat sie nicht. Der Frauenarzt hatte mich schon ein paarmal irgendwo untergebracht, aber diesmal hatte er mich gewarnt: diese Felicitas mache nur krumme Dinger. Gern hatte er mir ihre Adresse nicht gegeben. Aber er wusste niemand anderen mehr, der mir helfen konnte.

In mir stieg ein furchtbares Grauen, eine tiefe Angst auf: Alles in dieser Situation und in dieser Gegend war mir fremd. Dennoch überwand ich mich dazu, Felicitas in wenigen Worten zu erklären, warum ich gekommen war.

Sie dachte kurz nach. Dann verkündete sie: »Ick hab’s! Der Jummidirektor muss bald kommen. Der jehört hier abends zu den Ersten. Det könnte wat sein.« Ich sollte mich einstweilen an den Tresen stellen und mich verhalten wie ein gewöhnlicher Gast, der sein Glas Bier trinkt.

Nach kurzer Zeit betrat der Mann, den sie »Gummidirektor« nannte, die Kneipe. Ich war entsetzt. Er war, grob geschätzt, Anfang fünfzig und schwer gehbehindert. Er bewegte sich, als ob seine Beine aus Gummi wären. Seinen Spitznamen trug er wegen dieser eigenartigen Motorik und weil er, wie ich später erfuhr, tatsächlich der Direktor eines kleinen Betriebes war.

Seine Sprache war wie sein Gang. Er brachte eine Art Wortsalat oder Wortbrei hervor, und das erst nach diversen Anläufen. Um verstanden zu werden, sagte er immer wieder dasselbe, in der Hoffnung, dass es nun deutlicher herauskäme. Mich packte erneut eine entsetzliche Angst. Eine Ärztin aus unserem Bekanntenkreis hatte mir einmal von den sogenannten Tabespatienten erzählt, die sie in der Psychiatrie betreute: Menschen, die unter Spätfolgen einer Syphilis litten. Von ihr wusste ich, dass diese liefen, als hätten sie Gummibeine, und dass sie sich nicht mehr richtig artikulieren können. Sie sagen nicht »Topflappen«, sondern »Topfappen«, dann verbessern sie sich zu »Opfappen«– genau wie dieser Mann, der nun vor mir stand.

Was Felicitas mit ihm besprach, konnte ich nicht hören. Aber nachträglich wurde mir klar, dass sie mich für fünfzehn Mark an ihn verkauft hatte. Sie wollte zwanzig, er bot zehn, und dann einigten sie sich in der Mitte. Bevor ich das Lokal mit ihm verließ, schenkte Felicitas ihrem Stammgast noch ein Bier ein und sagte zu mir: »Ach, komm doch noch mal eben mit.« Im Hinterzimmer erzählte sie mir, was sie ihm für eine Geschichte aufgetischt hatte: Ich sei eine alte Bekannte von ihr. Mein Mann sei an der Front, ich wohne bei den Schwiegereltern. Das Verhältnis zu diesen Leuten sei für mich so unerträglich geworden, dass ich sie gebeten habe, mich unterzubringen, ganz egal, wo. Sie raunte mir auch noch zu, dass Karl Galecki, der Gummidirektor, ein bis an den Rand des Wahnsinns fanatisierter Nazi war.

Dann gingen wir los. Draußen war es so eisig, dass es uns den Atem verschlug. Er bot mir seinen Arm. Wir sprachen kein Wort miteinander.

Der Schnee war überfroren und glitzerte hell. Es war annähernd Vollmond. Ich hob meine Augen zum Himmel: Riesengroß war das Gesicht vom Mann im Mond zu erkennen, ein feistes Antlitz mit einem hämischen Grinsen. Ich war todunglücklich. Hunde können wenigstens den Mond anheulen, dachte ich, ich darf nicht einmal das.

Und dann riss ich mich zusammen. Ich dachte an meine Eltern und begann im Stillen mit ihnen zu sprechen: »Ihr braucht euch nicht die geringsten Sorgen um mich zu machen«, sagte ich: »Eure Erziehung hat mich tief geprägt. Was ich hier erlebe, hat auf mich, auf meine Seele, auf meine Entwicklung nicht den geringsten Einfluss. Ich muss es einfach nur überleben.« Das tröstete mich ein bisschen.

Das Domizil des Gummidirektors lag nicht weit von der Kneipe entfernt. Doch wegen seiner schweren Gehbehinderung kamen wir nur sehr langsam voran. Schließlich standen wir vor einer großen Mietskaserne mit einem Torbogen. Der Durchgang führte auf einen Hof. Dort stand die langgestreckte Baracke, in der er wohnte. Etwas weiter entfernt sah ich eine zweite Baracke, in der seine Werkstatt untergebracht war.

Marie Jalowicz, 1942, im Alter von zwanzig Jahren.

Mit einer Taschenlampe leuchtete er unsicher die Eingangstür ab, um das Schlüsselloch zu finden – es herrschte ja Verdunkelung. Ich erblickte das Namensschild neben der Klingel. Und dann machte ich meinen ersten Fehler. Um meine schreckliche Angst zu überspielen, versuchte ich es mit einer humoristischen Einlage, machte eine scherzhafte Verbeugung und sagte: »Guten Abend, Herr Galezki.«

Er stutzte. Ich war offenbar der erste Mensch in seinem Leben, der ihn nicht »Galekki« nannte. Aber woher konnte ich wissen, wie man ein polnisches »c« aussprach? Um das zu erklären, musste ich mir schnell eine Lüge ausdenken: In meiner Kindheit habe bei uns gegenüber ein Herr Galecki gewohnt, der Pole war und auf »Galezki« bestand. Der Gummidirektor fragte prompt bohrend nach: Ob das ein Verwandter von ihm sein könnte? Welchen Beruf der hatte? Und so weiter.

Und dann betraten wir das Innere der Baracke. Er lebte dort ganz allein. Seine Frau, so teilte er mir stammelnd mit, habe ihn verlassen, weil sie nicht mit einem Krüppel zusammenleben wollte. Jahre seines Lebens hatte er in Krankenhäusern und Sanatorien verbracht. Und hier frönte er nun der Leidenschaft, die ihm half, seine Einsamkeit zu ertragen: seinen Fischen. In dem langgestreckten Raum waren die Wände rechts und links mit Aquarien zugepflastert. Ab und zu war eine Stelle ausgespart, an der ein Möbelstück stand. Aber im Großen und Ganzen lebten in dieser Baracke vor allem Fische. Ich fragte ihn, wie viele es seien. Er konnte sie längst nicht mehr zählen, es waren unermesslich viele verschiedene Arten.

Dann klärte er mich langwierig und immer wieder um die Aussprache von einzelnen Wörtern ringend darüber auf, dass er feste Lebensgewohnheiten habe und daran auch nichts ändern wolle. Ich reagierte sehr tolerant darauf: »Selbstverständlich gehst du jeden Abend in deine Stammkneipe. Wir tun uns zusammen, aber wir wollen uns doch nicht gegenseitig stören«, beruhigte ich ihn, und: »Selbstverständlich isst du wie immer bei deiner Mutter zu Mittag.« Wir duzten uns von Anfang an. Es war dieses spontane Kneipen-Du des Pöbels.

Ganz hinten in seiner langgestreckten Baracke stand sein Bett zwischen den Aquarien, ganz vorne eine Couch. Dort sollte ich schlafen. Er zeigte mir, wo ich eine Decke, Kopfkissen und Bettwäsche fand.

 

Dass er ein fanatischer Nazi war, hätte ich auch ohne Felicitas schnell herausbekommen. Denn stolz erzählte er mir nun, dass er im Sanatorium ein Modell der Marienburg aus Streichhölzern zusammengeklebt und dem Führer übereignet habe. Ich sollte raten, wie viele Streichhölzer er dafür gebraucht hatte. Ich nannte irgendeine sehr hohe Zahl, die aber natürlich noch viel zu niedrig war. Begeistert korrigierte er mich und zeigte mir ein paar Zeitungsartikel, in denen dieses kleine Wunderwerk abgebildet war und gerühmt wurde. Ich rühmte es ebenfalls.

Ziemlich weit hinten in dieser merkwürdigen Wohnstätte hing ein Bilderrahmen mit einem leeren Passepartout an der Wand. »Ach Gott«, dachte ich, »da hat einer vielleicht auf diese Art und Weise das nihil darstellen wollen oder eine ähnliche Verrücktheit.« Beim Einrahmen war offenbar ein Haar in das Passepartout geraten: Es lag diagonal auf der freien Fläche und hatte einen merkwürdigen Farbverlauf.

»Ahnst du, was das ist?«, fragte er mich und deutete darauf.

»Nein«. Selbst wenn ich es geahnt hätte, hätte ich das niemals preisgegeben. Schließlich rückte er damit heraus: Er habe dieses Stück auf komplizierte Weise beschafft und es sich durchaus etwas kosten lassen, sagte er mit geschlossenen Augen. Es sei ein Haar von des Führers Schäferhund.

»Ach«, sagte ich, »ich habe es nicht gewagt, so eine Vermutung zu äußern, um dich nicht zu kränken, wenn es nicht zutrifft. Aber das ist ja wunderbar!«

Er zeigte mir dann noch die Küche und etwas, was ich in diesem irrsinnigen Aquarium gar nicht erwartet hatte: eine Seitentür führte zu einem normalen, anständigen Badezimmer.

Dann saßen wir noch zusammen. Ich hatte mich an den Wortbrei, den er herauswürgte, gewöhnt und starrte ihn auch nicht neugierig an. So legte er allmählich alle Hemmungen ab und ließ seiner Nazigesinnung völlig freien Lauf. Ich aber hatte schreckliche Angst, mich zu verraten. Ich konnte mir zwar verkneifen, etwas Falsches zu sagen, aber meine körperlichen Reaktionen hatte ich nicht alle unter Kontrolle. Zum Beispiel sagte er: »Die Uden, die Uiden, die Jueden muss man alle umbringen.« Ich spürte, wie ich errötete, sprang auf, zeigte auf ein Aquarium und sagte: »Schau mal, die Fischchen haben sich gerade anders getummelt als sonst.« Da klatschte er in die Hände: Bravo! Wie gut ich doch seine Lieblinge beobachtete!

Ich geriet in eine solche Angst und Verzweiflung, dass ich mit den Fischen Kontakt aufnahm. Ich kannte keine Broche, keinen hebräischen...

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