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Unternehmenskritische Kampagnen

Politischer Protest im Zeichen digitaler Kommunikation

AutorAnnegret März, Johanna Niesyto, Sigrid Baringhorst, Veronika Kneip
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl441 Seiten
ISBN9783531924175
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis35,96 EUR
'Gendreck weg', 'Lidl ist nicht zu billigen', 'Mit Tempo in die Armut': Politische Protestakteure appellieren in netzgestützten Kampagnen zunehmend an die Macht politisierter Konsumenten. Normverletzungen bekannter Markenfirmen werden skandalisiert und wirtschaftliches Handeln von Unternehmen wie Verbrauchern moralisch und politisch aufgeladen. Im netzbasierten unternehmenskritischen Protest zeigt sich eine Vielfalt innovativer, nicht institutionalisierter Formen politischer Partizipation, in denen die Grenzen zwischen öffentlicher und privater Sphäre ebenso verschwimmen wie zwischen kollektivem und individualisiertem Handeln. Neue Deutungsmuster einer wertorientierten 'Lifestyle-Politik' mit dem Einkaufswagen werden in aktuellen Formen netzvermittelter Mobilisierung und Vernetzung politischen Protests artikuliert. Der Band präsentiert eine umfassende Studie unternehmenskritischen Protests im deutschsprachigen Web und spürt dem Wandel von Protest in Online- und Offline-Räumen komplexer Kampagnenkommunikation nach: Inwiefern bietet das Internet neben politischen und ökonomischen Strukturen eine mediale Gelegenheitsstruktur für konsumeristische Protestpolitik, die auch über nationalstaatliche Grenzen hinausreicht?

Prof. Sigrid Baringhorst ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Siegen und Leiterin des Teilprojekts 'Protest- und Medienkulturen im Umbruch. Transnationale Anti-Corporate Campaigns im Zeichen digitaler Kommunikation' im Rahmen des SFB/FK 615 'Medienumbrüche'.
Veronika Kneip war wissenschaftliche Mitarbeiterin im o.g. Forschungsprojekt 'Protest- und Medienkulturen im Umbruch'.
Annegret März war wissenschaftliche Hilfskraft im o.g. Forschungsprojekt 'Protest- und Medienkulturen im Umbruch'.
Johanna Niesyto ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im o.g. Forschungsprojekt 'Protest- und Medienkulturen im Umbruch'.

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Leseprobe
8 Integrieren/Vernetzen: Kampagnen im Zeichen des Netzwerkparadigmas – ein Paradoxon (S. 262-263)

Johanna Niesyto


Anti-Corporate Campaigns als Netzwerke

Mit dem Begriff des Netzwerks werden paradigmatisch gesellschaftliche, ökonomische und politische Wandlungsprozesse beschrieben, die bis in die 1960er/ 1970er Jahre zurückverfolgt werden können. So zeichnen etwa Luc Boltanski und Éve Chiapello mittels eines qualitativen Vergleiches der französischen Management- Literatur der 1960er-Jahre und der 1990er-Jahre Prozesse der Neuorganisation wirtschaftlicher Produktion nach, welche, so die Autoren, schließlich in einen „neuen Geist des Kapitalismus“ münden, der von Flexibilität, Mobilität, Kreativität und Eigenverantwortung charakterisiert ist. In ihrer Analyse wird die Kapitalismuskritik der 1960er/1970er Jahre als entscheidendes Moment in der Umorganisierung gesellschaftlichen Lebens hin zu netzförmigen Formen benannt.

So habe insbesondere die Künstlerkritik der sozialen Bewegungen der 1960er Jahre einen eben solchen ‚neuen‘ Geist ermöglicht, welcher sich weniger aus grenzziehenden, sondern vielmehr aus inkludierenden Codes speise (Boltanski/Chiapello 2003). Auch Manuel Castells sieht, wenngleich aus anders gelagerten Gründen, die spezifischen Konstellationen der 1970er Jahre als entscheidendes Moment gesellschaftlicher Reorganisierung hin zu einer Netzwerkgesellschaft. Wesentliche Ermöglichungsbedingung für raumzeitliche Flexibilität, Dezentralität und Mobilität ist seiner Auffassung nach die Entwicklung neuer Informationstechnologien. Während Manuel Castells einerseits die Bedeutung ortloser Informationsströme insbesondere für die Finanzmärkte herausstreicht, weist er andererseits auf die Strukturanalogie von sozialen Bewegungen und dem Internet hin (Castells 2001; 2002; 2003b).

Ähnlich wie der Geist des Kapitalismus resultiere der ‚Geist des Informationalismus‘ aus einem Spannungsverhältnis von Netzwerkökonomie und netzwerkförmigen sozialen Bewegungen. In beiden Ansätzen wird schließlich die demokratische Hoffnung in die Stärkung sozialer Bewegungen bzw. in die Erneuerung von Kritik als Gegengewicht zu einem globalisierten Kapitalismus gesetzt: „Die ‚Netz‘-Form dient natürlich nicht nur dazu, Profit zu machen, selbst wenn wir feststellen, dass sie mehr und mehr dahingehend benutzt wird, und zwar auch auf illegale Art und Weise (man denke nur an das ökonomische Gewicht der kriminellen Märkte).

Der Erfolg dieser Form im ökonomischen Feld, der insbesondere mit der Verfügbarkeit von Fernkommunikationsmitteln verknüpft ist, die diese Art der Kommunikation ohne Kontrollverlust ermöglichen, ruft auf der Gegenseite die Entwicklung kritischer Kräfte hervor, die ihrerseits in Netzwerken funktionieren und dieselbe Plastizität und Ausdehnung besitzen wie der Kapitalismus. Wie ließe sich denn auch ein kapitalistischer Prozess, der sich dezentral und netzwerkartig ausbreitet, durch hierarchische und mit Planungsspitzen versehene Organisationen bekämpfen?

Es läge also ganz in der Ordnung der Dinge, wenn sich […] die Entwicklung einer immer stärkeren Konfrontation zwischen den beiden Netzwerktypen (kapitalistischen und kritischen Netzwerken) beobachten ließe […]“ (Boltanski/Chiapello 2000). „Da Macht zunehmend in globalen Netzwerken funktioniert und weitgehend die Institutionen des Nationalstaats umgeht, stehen die Bewegungen der Notwendigkeit gegenüber der globalen Reichweite der etablierten Mächte über die Medien durch symbolische Aktionen etwas Gleichwertiges entgegenzusetzen“ (Castells 2005: 154).

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