(Forschungsstand des theoretischen Teils der Arbeit)
In der Folge soll nun der für die Prävention und Intervention von Unterrichtsstörungen relevante Forschungsstand skizziert werden, der vor allem Studien zu Classroom Management und Führungsstil einschließt. Die im nächsten Kapitel angeführten Strategien basieren zu großen Teilen auf diesen Studien, weshalb sie an dieser Stelle Beachtung finden.
Nach Evertson und Weinstein war William Chandler Bagley (1907) einer der ersten, der Studien zu Classroom Management erhob. An dem Glauben festhaltend, dass Schule Kinder auf das zivilisierte Leben vorbereiten sollte, propagierte er für diesen Zweck die Verwendung von „management principles“ in der Schule. Anhand der Beobachtungen von Lehrern, die er als erfolgreich und effizient betrachtete, sowie seiner eigenen Erfahrungen und generellen psychologischen Grundsätzen stellte er Managementprinzipien auf, die hilfreich für das Formen und Ausbilden des Schülerverhalten waren (Everston/ Weinstein 2006, S. 19)
Die Tatsache, dass die Klassenführung und damit verbunden präventive Strategien neben der Intervention immer stärker in den Fokus der Forschung rückten, ist auf die Untersuchungen Jacob Kounins in den 70er Jahren zurückzuführen. Aufgrund der hohen Bedeutung seiner Studien, sollen diese an dieser Stelle genauer vorgestellt werden.
Der Ursprung seiner Untersuchungen lässt sich auf einen Zwischenfall zurückzuführen. In einer von ihm gehaltenen Vorlesung rügte er verärgert einen Studenten, der während seines Vortrages in einer weit aufgeschlagenen Zeitung las. Die Maßregelung zeigte Erfolg. Der Student unterließ es, die Zeitung zu lesen. Bemerkenswerter für Kounin war aber die beobachtbare Wirkung auf die übrigen Studenten. Diese zeigten sich ebenso von der Maßnahme betroffen, wenngleich sie nicht gegen sie selbst gerichtet war. Diesen „Welleneffekt“ versuchte er in der Folge an verschiedenen Schulen näher zu untersuchen und ging der Frage nach, welche Zurechtweisung in Reaktion auf eine Störung den bestmöglichen Effekt habe (vgl. Kounin 2006, S. 17 ff.).
Trotz zahlreicher Untersuchungen mit verschiedenen Forschungsmethoden gelangten seine Kollegen und er nur zu widersprüchlichen Befunden ohne eindeutige Ergebnisse. Es konnte keine Korrelation zwischen dem Zurechtweisungsverhalten der Lehrer und der Mitarbeit bzw. dem Störverhalten der Schüler festgestellt werden. Was bei Lehrer A Erfolg zeigte, erwies sich bei Lehrer B wirkungslos. Ermahnungen, die in einer Klasse für Ruhe sorgten, misslangen in den Parallelklassen. Die Art der Reaktion auf eine Störung erwies sich folglich als wenig bedeutsam. Erst als die Forscher durch Videoanalyse verschiedener Klassen den Fokus auf das Geschehen vor der Störung legten, statt nur auf die Lehrerhandlung danach, kamen sie zu nützlichen Ergebnissen. Demnach steht der angestrebte Effekt weniger in Abhängigkeit der Zurechtweisung als vielmehr in Abhängigkeit anderer Dimensionen des Lehrerverhaltens, die belegbar mit dem gewünschten Schülerverhalten korrelierten. Kounin stellt auf Grundlage dessen vier Dimensionen auf, die in der Folge genauer beschrieben werden und sich an Noltings begrifflich vereinfachter Einteilung orientieren (vgl. Kounin 2006, S. 84).
Die erste Dimension bezeichnet er im Original als „withitness and overlapping“, das mit „Allgegenwärtigkeit und Überlappung“ übersetzt wird (vgl. Kounin 2006, S. 85). Damit ist die Fähigkeit des Lehrers gemeint, den Schülern das Gefühl zu vermitteln, er sähe alles, was sich im Klassenzimmer abspielt und ihm nichts entgehe. Besonders relevant in Hinblick auf Störungen erwies es sich dabei, keine „Zeit- und Objektfehler“ zu begehen. Zeitfehler entstehen bei zu später Reaktion der Lehrkraft auf eine einsetzende oder bereits vorliegende Störung hin, welche sich in der Folge ausbreitet und auf andere Schüler übergeht. Wird der falsche Schüler ermahnt, der lediglich ein Zuschauer oder „Mitangesteckter“ der eigentlichen Störungsquelle ist, spricht Kounin von einem „Objektfehler“ (Kounin 2006, S. 90 ff.). Allgegenwärtigkeit beinhaltet ebenso die „Überlappung“. Damit ist die Fähigkeit der Lehrkraft gemeint, sich um zwei Dinge synchron kümmern zu können, beispielsweise einer Gruppe eine Aufgabe zu erklären und fast gleichzeitig einen störenden Schüler zu ermahnen.
Die zweite Dimension „Reibungslosigkeit und Schwung“ bezieht sich vor allem auf flüssige Übergänge einzelner Aktivitäten innerhalb des Unterrichtsgeschehens. Unnötige Verzögerungen, unvermittelte Übergänge sowie thematische Sprünge behindern den Unterrichtsfluss und sind daher möglichst zu unterlassen. Dazu zählen auch lange „Predigten“ der Lehrkräfte in Reaktion auf banale Vorkommnisse, abrupte Wechsel der Aufgaben oder Ablenkungen durch belanglose Reize (Wo ist denn Susi heute?). Kounin betont, dass die erfolgreiche Klassenführung durch einen Lehrer von einem außenstehenden Beobachter kaum wahrgenommen wird und als leicht erscheint, während schlecht geführte Klassen Gelegenheit bieten, Fehler zu erkennen. So ist auch die Beachtung der Dimension „Reibungslosigkeit und Schwung“ nach außen kaum erkennbar, erfülle aber ihren Zweck (vgl. Kounin 2006, S. 101 ff.).
Als dritten Punkt führt Kounin die „Aufrechterhaltung des GruppenFokus“ an. Dieser sorgt dafür, dass sich nicht nur einzelne zur Mitarbeit bewegt fühlen, sondern alle Schüler gleichzeitig aktiviert werden, auch wenn sie gerade nicht „dran“ sind. Vor allem zwei Aspekte erweisen sich dabei als ausschlaggebend: die „Gruppenmobilisierung“ und das „Rechenschaftsprinzip“. Erstere beschreibt, in welchem Ausmaß es dem Lehrer gelingt, die Aufmerksamkeit der nichtaufgerufenen Schüler aufrecht zu erhalten. Dies wird beispielsweise erreicht, wenn der Schüler damit rechnen muss, aufgerufen zu werden. Möglich ist auch die Erzeugung von Spannung vor dem Aufrufen der Schüler durch einen schweifenden Blick in die Klasse oder eine Ankündigung wie: „Jetzt lasst uns doch mal sehen, wer…“ (Kounin 2006, S. 124). Den zweiten Aspekt stellt das „Rechenschaftsprinzip“ dar. Es beschreibt, in welchem Ausmaß die Schüler hinsichtlich ihrer Leistung Rechenschaft ablegen müssen und kontrolliert werden. Wenn die Lehrkraft etwa die Schüler zum Hochhalten der Aufgabenhefte auffordert oder die Klasse um Meldungen bittet, um dann mehrere aufzurufen, werden gleichzeitig mehrere Schüler aktiviert und das Prinzip erfüllt (vgl. Kounin 2006, S. 117 ff.).
Die letzte Dimension bezeichnet Kounin als „programmierte Überdrussvermeidung“. Danach gilt es den Überdruss auf Seiten der Schüler durch „negative Motivation“ in Form von häufigen Wiederholungen zu vermeiden. Stattdessen sind durch Abwechslung in Bezug auf Methoden, Inhalt und kognitive Herausforderungen die Schüler zu stimulieren, um die Wahrscheinlichkeit für das Aufkommen von Störungen zu vermindern (Kounin 2006, S. 131 ff.).
Nun liegen Kounins Befunde bereits über vierzig Jahre zurück. Seine Untersuchungen fokussierten lediglich das Verhalten des Lehrers und einen lehrerzentrierten Unterricht, was nicht mehr der heutigen Unterrichtsqualität entspricht. Dennoch stellen sie Meilensteine in der Erforschung des Classroom Managements dar und sind auch aktuell noch von großer Bedeutung. Seine Ergebnisse lenken die Aufmerksamkeit weg von der Kontrolle und dem Sanktionieren des Verhaltens einzelner Schüler hin zum effektiven Unterrichten der gesamten Klasse, die Vorrang vor dem Einzelnen hat. Überdies stellten sie den Anstoß für weitere Forschungen dar, die Kounins Befunde überwiegend bestätigten und durch neue Erkenntnisse erweitern konnten.
Die Befunde Kounins konnten in nachfolgenden Forschungen größtenteils repliziert werden (vgl. Brophy 2006, S. 28 ff.). Zahlreiche Studien dazu wurden vor allem durch Emmer, Evertson und Sanford zu Beginn der 80er Jahre an Grund- und weiterführenden Schulen gemacht. Evertson und Harris (1992) fassten die Erkenntnisse innerhalb der Prozess-Produkt-Forschung zusammen. Demzufolge zeigten Lehrkräfte mit effektivem Classroom Management folgenden Verhaltensweisen:
1. Möglichst effektive Zeitnutzung
2. Implementierung von Gruppenstrategien mit hohem Involviertheitsgrad und niedrigem Störungsniveau
3. Wahl der Aufgaben, die zu einer hohen Beschäftigung der Schüler führt
4. Kommunizieren klarer Regeln zur Partizipation
5. Implementierung eines Regelsystems zu Jahresbeginn (Evertson/ Harris 1992, S. 76)
Die Dimensionen Kounins wurden durch die Herstellung beständiger Ordnungsstrukturen, besonders durch die Einführung von Regeln ergänzt. Diese stellen innerhalb der effektiven Klassenführung einen bedeutenden Teil dar, deren Bedeutung empirisch gut belegt ist (vgl. Nolting 2011, S. 39).
Auf Grundlage der Ergebnisse aus der Effektivitätsforschung konzipierte Evertson ein Programm für Lehrer und veröffentlichte die Bücher „Classroom Management for Elementary School Teachers“ (Evertson et al. 2002) und...