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Utopie und Zeitsemantik - Zur gesellschaftlichen Konstruktion der Zeit

Zur gesellschaftlichen Konstruktion der Zeit

AutorChristof Niemann
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl184 Seiten
ISBN9783638780643
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis11,99 EUR
Magisterarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Soziologie - Wissen und Information, Note: 1,7, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg (Institut für Soziologie), 76 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Was traut der Mensch sich zu? Wie definiert er seine Rolle in der Geschichte? Die Debatten über 'das Ende der Geschichte', über den 'Kampf der Kulturen' und selbstverschuldeten Klimawandel, über die 'neue Unübersichtlichkeit', die Individualisierung und das Auseinanderdriften von gesellschaftlichen Sub- und Staatensystemen scheinen das Damoklesschwert über dem menschlichen Selbstbewusstsein schweben zu lassen. Wer will, findet ohne weiteres eine Vielzahl von Indizien, die den Schluss nahe legen, 'wir', also die Menschen, hätten den 'göttlichen Auftrag' einer vernünftigen Weltbemächtigung und -bestellung verfehlt oder zumindest noch nicht vollendet. Die Suche nach einem Ausweg aus dem Dilemma führt zu einem altbekannten Wettstreit, nämlich dem zwischen den konservativen und den nach Fortschritt eifernden Kräften. Die einen suchen in der Vergangenheit und in tradierten Vorstellungen nach Lösungen, die anderen glauben an einzigartige Herausforderungen, die nur mit neuen Entwürfen gemeistert werden können. Auch heute erhitzen derartig antagonistische Positionen, beispielsweise in Gestalt der Bestrebungen zur Reaktivierung der mittelalterliche Landwirtschaft ('biologischer Landbau') gegen die Umsetzung 'fortschrittlichen' Gen-Foods, die Gemüter und liefern den Stoff für nicht selten polemische Auseinandersetzungen. Muss es also weitergehen oder sollte es wie früher sein? Eine erschöpfende Antwort auf diese Frage wird wohl nicht möglich sein. Aber tatsächlich ist zu beobachten, dass in den meisten Abschnitten der Geschichte eines der beiden Topoi den Zeitgeist bestimmt hat. Das menschliche Selbstvertrauen - wie auch sein Selbstmisstrauen - wächst und schwindet im Einklang mit den Blüte- und Wartezeiten der Historie, wobei es insgesamt durch einen in der Vorstellungskraft zunehmend überblickbaren, zeitlichen Horizont eine größere Projektionsfläche bekommt. Damals wie heute wird mit solchen Projektionen - optimistischen wie pessimistischen Visionen - Politik gemacht, also mit gesellschaftlich vermittelten Ideen Gesellschaft geformt. Das vorherrschende Konzept von Zeitlichkeit ist im pragmatischen Ringen um Lösungen als (vielleicht) Voraussetzungsloses oft auch das nicht explizit Miteinbedachte. Es strukturiert das Denken und das Denkbare unbemerkt, stillschweigend, solange es nicht zum Gegenstand von Reflexionen wird (wobei auch diese durch eine vorgeschaltete Zeitkonzeption strukturiert sind). Vielleicht traut sich der Mensch umso mehr zu, je mehr er die Zeit zu beherrschen oder wenigstens zu verstehen glaubt. Als Zirkelkonstruktion, die als Selbstgeschaffenes das Schaffen strukturiert, um dann wiederum das Geschaffene zu verzeitlichen, hat sie jedenfalls einfache wie komplexe Antworten zum Problem 'Werden und Vergehen' inspiriert. Außerdem ist die Konzeption, welche der Mensch von Zeit hat, ein mächtiges - wenn nicht das mächtigste - Strukturmerkmal seiner individuellen wie auch sozialen Existenz. Der Letzteren widmet sich diese Arbeit.

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Leseprobe

2 Theoretisch-Methodische Grundlegung

 

 In diesem Abschnitt sollen die zur Bearbeitung des Themas notwendigen theoretischen und methodischen Vorbereitungen getroffen werden. Neben der Erarbeitung von Begriffsdefinitionen und der Hypothesenbildung werden dabei auch die zu benutzenden Ansätze von Elias und Mayring dargestellt.

 

2.1 Definitionen

 

Einige der zentralen Kategorien dieser Arbeit bieten hinsichtlich ihrer Semantik große Spielräume und damit die Gefahr von Missverständnissen. Zudem werden im Text Modifikationen im Gebrauch sowie Vereinnahmungen dieser begrifflichen Kategorien detailliert geschildert, was die Übersicht erschweren kann. Deshalb gebe ich an dieser Stelle übergreifende Definitionen der Kategorien an.

 

1) Zeit

 

Unter Zeit verstehe ich, Norbert Elias folgend, eine menschliche Synthesetätigkeit, eine Beziehungsstiftung zwischen mindestens drei Kontinuen: „zwischen Menschen, die verknüpfen, und zwei oder mehr Wandlungskontinuen, von denen eines […] jeweils die Funktion eines Standardkontinuums, eines Bezugsrahmens für das andere erhält.“[32] Der Mensch setzt demnach gleichzeitig oder nacheinander (gleichmäßig) ablaufende Vorgänge miteinander in Beziehung und gelangt dadurch zur Vorstellung einer Dauer („so lange wie“), dessen Standardisierung (z.B. an regelmäßigen Naturereignissen wie dem Verlauf der Gestirne) sich unter anderem als adäquates Mittel zur Koordination von sozialem Verhalten herausstellt. Die mathematische Abstraktion der Verhältnisse  der Wandlungskontinuen ist „die Zeit“.

 

Zeitgeist

 

Zeitgeist, das „sind die in einer bestimmten Phase in einer Gesellschaft zur Dominanz gelangten milieuübergreifenden Sinnmuster, die das gesellschaftliche Selbstverständnis weitgehend formen.“[33]

 

2) Zeitkonzeption

 

Ich verstehe unter einer „Zeitkonzeption“ einen zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Geschichte zu gesellschaftlicher Dominanz strebenden oder gelangten gedanklichen Entwurf zur Beschaffenheit von Zeit, der auf ein Gefüge informeller und/oder explizierter Urteile über den Gegenstand zurückgeht und der sich allmählich zu einem nur noch mittelbar wahrnehmbaren Konstitutionsschema der Realitätskonstruktion und –gestaltung verfestigt hat. Eine Zeitkonzeption beinhaltet Annahmen bzw. Modifikationen zu mindestens einer der folgenden Kategorien(komplexe), wobei gleichzeitig weitere derselben implizit oder explizit vorausgesetzt werden:

 

Philosophische Zeit (Wesenheit), physikalische Zeit (abstrakte Zähleinheit, Variable), psychologische Zeit (inneres Zeiterleben: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft), soziale Zeit (gruppenspezifische Zeit, Sozialisation, Synchronisierung/Planung), kulturelle Zeit (Geschichte und Fortschritt von Menschengruppen, Zivilisation), religiöse Zeit (Ursprung und Ende – individuell/universell), biologische Zeit (Lebenszyklus und Evolution) und kosmologisch-astrophysikalische Zeit (raumzeitliche Ordnung des Weltalls).

 

3) Utopie

 

Utopie bezeichnet eine „die Realitätsbezüge ihrer Entwürfe bewusst oder unbewusst vernachlässigende Denkweise sowie eine literarische Denkform, in der Aufbau und Funktionieren idealer Gesellschaften und Staatsverfassungen eines räumlich und/oder zeitlich entrückten Ortes, oft in Form fiktiver Reiseberichte, konstruiert werden.“[34]

 

4) Fortschritt

 

Fortschritt bezeichnet „die Aufeinanderfolge von Formen oder Zuständen in dem Sinn, dass die zeitlich späteren zugleich die wertmäßig höheren sind.“[35] Fortschritt wird als durch menschliche Aktivität bewirkt verstanden (im Ggs. zur „Entwicklung“) und ist eine Kulturleistung, die auf einem linearen Zeitkonzept beruht.

 

Fortschrittsglaube

 

Bezeichnet den Glauben an eine durch die Wirklichkeit verbürgte Gesetzmäßigkeit stetigen Fortschritts, der philosophisch (kosmologisch, metaphysisch, religiös) oder weltanschaulich (als den Dingen inhärente Tendenz) begründet ist.[36]

 

Fortschrittseuphorie

 

Unter „Fortschrittseuphorie“ verstehe ich die in einer historischen Phase unhinterfragte bzw. unhinterfragbare Dominanz des Fortschrittsglaubens, die zur unreflektierten Annahme und Legitimation aller mit Fortschrittlichkeit in Verbindung gebrachter Denk- und Handlungsimpulse führt. 

 

2.2 Hypothesenbildung und Nahtstellen der Analyseebenen

 

„Das Ganze einer Kultur erfasst man nur, wenn man sowohl die manifesten Inhalte als auch die latente Struktur der kulturellen Phänomene in Betracht zieht.“[37] Nach dieser psychoanalytischen Prämisse gelangt man also über die Analyse der Kulturproduktion zu einer derselben zu Grunde liegenden Struktur, die für das Verständnis des Ganzen entscheidend ist. Derartige Analysen müssen angesichts der Masse „kultureller Phänomene“ zwangsläufig exemplarisch sein, zudem einen inhaltlichen Schwerpunkt verfolgen, um sich nicht in der Vielschichtigkeit der genannten Phänomene zu verlieren. In Kenntnis dieser Überlegungen ist also auch die Aussagekraft dieser Arbeit kritisch zu verfolgen. Des Weiteren erscheint das Vordringen zur „latenten Struktur“ als ein für Fehlinterpretationen anfälliges Unterfangen, wenn nicht das „makrologische Verweisungsganze“[38], also die Entstehungsgeschichte sowie der Entstehungskontext, in die Untersuchung mit einfließt.

 

Die aus der Dramaturgie ausgewählter Utopien herauszuarbeitenden zeitlichen Grundmuster und      -annahmen werden in dieser Arbeit als „latente Struktur“ der jeweils als realhistorisch dominant rekonstruierten Zeitkonzeption gegenübergestellt. Meine Hypothese ist, dass sich beide derart unterscheiden, dass der durch einen spezifischen Zeitgeist sozialisierte Autor nicht nur das „alltagsweltliche“ Zeitverständnis seiner Mitmenschen in seiner Utopie aufgreift, sondern dieses auf eine neue Ebene hebt und so einen leicht zugänglichen, erweiterten zeitlichen Horizont schafft.[39] Eine breite Rezeption dieses neuen Horizonts – auch wenn sie nicht explizit in der Reflexion der zeitlichen Dimension, sondern vielmehr in einem durch die Überspannung derselben erst geöffneten erweiterten (Un-)Möglichkeitsraum einer planbaren Zukunftsgestaltung stattfindet – kann ein kulturelles Sinnsystem maßgeblich verändern und letzten Endes gesellschaftlichen Wandel herbeiführen. Ich vermute also weiterhin, dass die genannte „latente Struktur“, die eine „Weiterentwicklung“ der bereits in der Alltagswelt angelegten Zeitkonzeption ist, selbige mehr oder weniger reflektiert verändert und so neben anderen Einflussgrößen die Konstruktion der zeitlichen „Wirklichkeit“ bestimmt. Die bewusste Vereinnahmung zeitlicher Annahmen über Manifestationen derselben, z.B. in den Ideen von „Geschichte“ oder „Fortschritt“, deren Ausformung Grundlage sozialer Entscheidungen sein kann, deutet auf ihre Wirkungsmacht hin. Eine derart verstandene „zeitlich-latente Struktur“ ist also nicht nur über analytische Verfahren aus einem populären kulturellen Objekt destillierbar, sie findet zusätzlich über eben dieses Objekt „Wiedereingang“ in die Alltagswelt und verändert diese über einen kurzfristigen „Rummel“ um ein solches Werk hinaus – expliziert wie vor allem auch informell. Die Bedeutung einer utopischen Zeitkonzeption ergibt sich aus ihrer insofern historisch nachvollziehbaren Wirkungsintensität und aus ihrer Überlebensdauer als dominante Schablone zur Realitätskonstruktion. Diese kann dann z.B. eher optimistische oder pessimistische, eher rückwärts gewandte oder progressive Kulturauffassungen und Verhaltensweisen von unterschiedlicher zeitlicher Reichweite prägen, die sich in den auf die Utopie folgenden Ereignissen und Strömungen niederschlagen.

 

Um die Perspektive einer im Rahmen meiner Arbeit hinreichenden Stützung dieser Hypothese zu eröffnen, werde ich sie an drei Beispielen überprüfen, wobei eines dieser Beispiele die Umkehrung derselben an einer sog. „Dystopie“, also einer negativen Zukunftsvision, darstellen wird. Es muss noch einmal unterstrichen werden, dass ich keinesfalls eine monokausale Abhängigkeit zwischen utopischer und realer Zeitkonzeption unterstelle; vielmehr soll in dieser Arbeit der Nachweis geführt werden, dass dennoch ein Zusammenhang beider erkennbar ist, und dass die Utopie neben anderen Einflussgrößen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Zeit spielt. Wenn dies zutrifft, müsste es sich an und in den Verläufen der Vergleichsperioden zeigen lassen. Kurz: An drei Stellen der im ersten Schritt zusammengefassten, die Konstruktion der Alltagswelt leitenden zeitkonzeptionellen Entwicklung, überprüfe ich im zweiten Schritt, ob und inwieweit diese als von literarischen Utopien beeinflusst gelten kann.

 

2.3...

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