1 Stilrichtungen der Kapitalanlage heute
Value-Investing ist wieder in Mode gekommen. Im Verlauf des Aktienwahns der späten 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts suchte eine Minderheit von Anlegern aus reiner Gewohnheit nach Aktien, deren Kurs unter ihrem Wert lag. Sie vermieden so die Verluste, die die meisten Anleger hinnehmen mussten, die an der Börse ein gewisses Risiko akzeptierten. Während die letztere Gruppe mit scheinbar hohen kurzfristigen Gewinnen prahlen konnte, hatten die Value-Investoren langfristig die Nase vorn. Trotz der Renaissance des Value-Investing haben viele keine klare Vorstellung davon, worum es dabei überhaupt geht. Genau diese Vorstellung möchte dieses kleine Buch Ihnen vermitteln.
Derzeit dominieren fünf Anlagestile:
1) Value-Investoren verlassen sich auf die Fundamentanalyse der finanziellen Leistungen eines Unternehmens, um Aktien auszumachen, deren Kurse unter ihrem intrinsischen Wert liegen, also dem aktuellen Wert der künftigen Cashflows eines Unternehmens, über den wir in den folgenden Kapiteln noch sprechen werden. Diese Strategie geht auf Benjamin Graham und David L. Dodd zurück, die in den 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts an der Columbia University lehrten. Seit den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts gewann diese Strategie zunehmend Sympathien, weil Warren Buffett, der CEO und Präsident von Berkshire Hathaway Inc., sie sich zu Eigen gemacht hatte.
2) Wachstums-Investoren suchen Unternehmen, deren Gewinnzuwachs verspricht, den intrinsischen Wert schnell zu erhöhen. Der Investor und Autor Philip A. Fisher war der Erste, der diese Version des Value-Investing in den späten 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts praktizierte. Peter Lynch, der Manager des Magellan-Fonds, erweiterte diese Strategie in den 80er-Jahren auf gewagte Weise.
3) Index-Investoren kaufen Wertpapiere, die ein großes Marktsegment abbilden, etwa den Standard & Poor’s 500. Graham befürwortete die Vorteile dieser Strategie der Aktienauswahl, insbesondere für defensive Anleger. Diese Methode wurde in den 80er-Jahren von John C. Bogle, dem Gründer des Vanguard-Fonds, populär gemacht.
4) Technische Investoren benutzen Charts, um ein Marktverhalten aufzudecken, das andeutet, ob die Erwartungen steigen oder fallen, und sie erkunden Trends und andere Indikatoren eines »Momentums«. Diese Technik wurde in den späten 90er-Jahren weithin praktiziert; sie wird von William J. O’Neil, dem Gründer des Investor’s Business Daily, favorisiert.
5) Portfolio-Investoren akzeptieren ein gewisses Risiko bei der Kapitalanlage und stellen ein Portfolio aus verschiedenen Wertpapieren mit dem entsprechenden Risikoniveau zusammen. Diese Theorie wurde in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt, in den 70ern von einigen Nobelpreisträgern im Bereich der Wirtschaftswissenschaften perfektioniert und durch den Ökonomen Burton G. Malkiel von der Princeton University in seinem berühmten Buch A Random Walk Down Wall Street bekannt gemacht.
Alle Anlagephilosophien stellen das wahrgenommene Verhältnis zwischen Kurs und Wert in den Mittelpunkt. Value-Investoren und Wachstums-Investoren sind der Meinung, dass Wert und Kurs zwei verschiedene Dinge sind, Index-Investoren sind sich nicht sicher, ob sie dieses Verhältnis herausfinden können, technische Investoren machen sich nur um den Kurs Gedanken, nicht aber um den Wert, und Portfolio-Investoren glauben, der Kurs sei zugleich der Wert.
Diese Überzeugungen haben verschiedene Strategien zur Folge:
1) Value-Investoren suchen Aktien von Unternehmen, deren Kurs unter ihrem Wert liegt;
2) Wachstums-Investoren suchen Aktien von Unternehmen, deren kurzfristiges Wachstum auf Wert hindeutet, was den aktuellen Kurs rechtfertigt;
3) Index-Investoren glauben, die sicherste Strategie sei es, Aktien zu kaufen, die im Wesentlichen den gesamten Markt abbilden;
4) Technische Investoren suchen nach Aktien, die schon sehr schnell zu höheren Kursen verkauft werden können;
5) Portfolio-Investoren glauben, dass Kurs und Wert identisch sind und deshalb Kursänderungen das Risiko messen und Anleger eine Mischung von Wertpapieren auswählen sollten, die das bevorzugte Risikoniveau darstellen.
Tabelle 1.1 zeigt die wesentlichen Grundsätze dieser fünf Anlagestile.
Um dies zu verdeutlichen, gehen wir davon aus, dass die Aktien von IBM gestern an der Börse von New York (New York Stock Exchange = NYSE) mit einem Kurs von 50 Dollar schlossen. Ob man diese Aktie kauft, ist bei jeder Anlagephilosophie von verschiedenen Faktoren abhängig. (Ob man verkaufen sollte, wird durch jeweils umgekehrte Überlegungen beeinflusst, auf die wir in Kapitel 8 eingehen werden.)
Stil | Beispiel | Kurs-Wert-Verhältnis | Beschreibung |
Value | Graham/Dodd, Buffett | Variabel und bestimmbar | Konzentration auf Wert, Suche nach Werten, die höher sind als der aktuelle Kurs |
Wachstum | Fisher/Lynch | Variabel und bestimmbar | Konzentration auf Wachstum, Suche nach Aktien, deren Wert schneller steigt, als der Kurs reflektiert |
Index | Bogle | Unsicher und nicht bestimmbar | Ignoriert das Kurs-Wert-Verhältnis und kauft »den Markt« |
Technisch | O’Neil | Kann in Beziehung zueinander stehen, ist jedoch nicht relevant | Konzentration auf Kurstrends |
Portfolio | Malkiel | Identisch | Stimmt das Risiko auf das Maß des Kurs-Wert-Verhältnisses ab |
Tabelle 1.1 Stilrichtungen der Kapitalanlage
Value-Investoren (a) fragen sich, wie hoch der Gegenwartswert der prognostizierten künftigen Cashflows heute ist und ob er mehr oder weniger als 50 Dollar je Aktie beträgt, und (b) kaufen nur, wenn die Antwort mindestens 60 Dollar lautet. {Die Differenz von 10 Dollar zwischen Wert und Kurs kennzeichnet eine »Sicherheitsspanne« von 20 Prozent (10 Dollar / 50 Dollar = 20 Prozent); sehr konservative Value-Investoren fordern ein noch dickeres Polster.}
Wachstums-Investoren (a) legen großen Wert auf das wahrscheinliche relative Wachstum des Umsatzes, der Gewinne und der Cashflows von IBM und (b) kaufen die Aktie dann, wenn sie überzeugt sind, dass ihr Wert in der nächsten Zeit auf 60 Dollar steigen wird.
Index-Investoren runzeln die Stirn, wenn sie den Kurs mit dem Wert einer Aktie gleichsetzen sollen, und bevorzugen es, ihre Anlagen breit zu streuen. Sie kaufen Anteile eines Fonds, der wiederum IBM-Aktien, aber auch die Aktien Hunderter anderer Unternehmen kauft.
Technische Investoren (a) achten genau auf Hinweise, die an den Börsen kursieren, um die Wahrscheinlichkeit beurteilen zu können, ob der Kurs von IBM sich innerhalb kürzester Zeit über oder unter 50 Dollar bewegen könnte, und (b) kaufen die Aktie, wenn es Gerüchte gibt, dass der Kurs sich in einen Aufwärtstrend begeben könnte. (Sie könnten aber auch Leerverkäufe tätigen, wenn sie von einem Abwärtstrend ausgehen, den Kurs von 50 Dollar jetzt festhalten und beschließen, die Aktie in der Zukunft zu einem – hoffentlich niedrigeren – Kurs zurückzukaufen).
Portfolio-Investoren (a) sagen, dies alles sei nur Zeitverschwendung, denn der Kurs von 50 Dollar repräsentiere den aktuellen Wert der IBM-Aktie, und (b) die wichtige Frage sei, ob das Marktrisiko von IBM, gemessen an den früheren Kursschwankungen, im Vergleich zu den Kursschwankungen des Gesamtmarktes der Risikoaffinität eines Investors entspricht.
Die Philosophien des Value-Investings und des Wachstums-Investings überschneiden sich. Sie vertreten dieselbe Ansicht über das Wert-Kurs-Verhältnis. Allerdings betonen sie verschiedene Sichtweisen der Zukunft.
Value-Investing betont bekannte Werte und vergleicht sie mit dem Kurs. Wachstums-Investing betont die erwarteten Werte, die sich aus dem Wachstum ergeben, und vergleicht diese mit dem Kurs. In dieser Hinsicht ist Wachstums-Investing quasi ein »Vetter« des Value-Investings. Die jeweiligen Anhänger dieser Philosophien stimmen darin überein, dass es einem Aktienanalysten möglich ist, den Wert zu bestimmen und ihn dann mit dem Kurs zu vergleichen.
Das Index-Investing ist für Anleger geeignet, die das »Investieren« eigentlich nicht beherrschen oder es nicht beherrschen wollen. Es sind keine besonderen Fertigkeiten erforderlich, und man muss auch keine besonderen »Hausaufgaben« machen. Die Gewinne spiegeln die Gesamtperformance wider, nicht die Performance einzelner ausgewählter Aktien. Die Anhänger des Value-Investings oder des Wachstums-Investings sind der Überzeugung, dies sei die bevorzugte Methode für Anleger, denen die Fertigkeiten dafür fehlen oder die keine Zeit haben, eine saubere Analyse durchzuführen. Doch für Index-Investoren ist es sicherlich nicht uninteressant zu verstehen, wie die Value- und Growth-Investoren denken und agieren – durch Nachdenken erhält man Einblick und ein Grundverständnis für die treibenden Kräfte in...