1
Wer ein Buch über diese Weltgegend schreibt, wird scheitern. Israel und Palästina, das ist ein Brandherd, der nicht aufhört zu lodern. Seit über sechzig Jahren entzündet er die Gemüter. Und keine Vision weit und breit, um die zwei Völker zu versöhnen. Unfassbar viele Vernagelte, auf beiden Seiten, versperren den Weg. Unfassbar viele Bücher wurden inzwischen darüber geschrieben. Und keines schien mitreißend genug, sie alle zur Einsicht zu verführen. Ich riskiere es trotzdem: noch ein Buch abzuliefern. Weil mich inzwischen jede Illusion – die Antwort zu finden – verlassen hat. Und weil ich nichts als Geschichten erzählen will. Von den einen, die andere quälen und erniedrigen. Und den anderen, die gequält und erniedrigt werden. Und die Geschichten von Heldinnen und Helden, die es herzzerreißend zäh und tapfer mit ihrer Wirklichkeit aufnehmen. Von Frauen und Männern eben, von denen jeder – all wir anderen – etwas erfahren könnten: über Würde, über Stolz, über schiere Tapferkeit. Und über die Sehnsucht, ein passables Leben zu führen. Klar, vom Irrsinn und der Lächerlichkeit wird auch die Rede sein. Denn das muss man dem winzigen Erdteil lassen: Storys hat er zu bieten, an jedem Eck, zu jeder Stunde.
2
Ruhiger Flug nach Tel Aviv, Ankunft um 2.35 Uhr morgens. Schon auf der ersten Treppe der Ankunftshalle, noch bin ich keine dreißig Sekunden in Israel, werde ich von einem Bewaffneten angehalten. »Your passport!« und »Why are you here?«. Am liebsten würden sie das Land sperren, so unwillkommen scheint man. Dann auf einen hübschen Menschen zugehen, der offiziell und hinter Glas die Pässe prüft. Ich will eisern heiter bleiben. Ich nähere mich lächelnd und bilde mir ein, auf dem Gesicht der jungen Frau für Sekundenbruchteile eine Irritation zu bemerken. Denn eigentlich sollte sie finster sein, den Fremden spüren lassen, dass er unerwünscht ist, nur geduldet. Aber ich bin augenblicklich in Bestform, mein unbeschwertes Grinsen landet und sie lächelt zurück. Sicher bereut sie es gleich. Aber mit einem Lächeln ist es wie mit einem Wort: Jetzt ist es da und nicht wieder wegzumachen. Natürlich muss auch sie die kriegerische Frage stellen: »Why are you here?« Und jetzt antworte ich eiskalt und ernsthaft: »’Cause I like your country.« Den Satz hat sie sicher nicht oft gehört von einem Goi, denkt wohl, dass der Rest der Menschheit Israel für einen Schurkenstaat hält, der mitverantwortlich ist für den Unfrieden in der Welt. Doch jetzt saust der Stempel, begleitet von einem scheuen Wohlwollen. Ich bin entlassen.
3
Glück gehabt. Morgen werde ich in der Zeitung lesen, dass man Touristen – wieder einmal – die Einreise verweigert hat und sie nach stundenlangem Verhör in ein Flugzeug Richtung Heimat verfrachtete. Wer von den Abgeschobenen sein E-Mail-Passwort (sic!) nicht preisgab, galt als jemand, so die Behörden, »der etwas zu verheimlichen hat«. Ich werde auf dieser Reise erfahren, dass der Staat Israel erstaunlich viel zu verbergen hat. Jeder Ausländer gilt folglich und a priori als verdächtig, als Schnüffler, als einer, der Zustände wahrnimmt, die – verhalten ausgedrückt – nachdenklich stimmen.
4
Mit einem Sherut, einem Sammeltaxi, ins siebzig Kilometer entfernte Jerusalem. Ich steige mit einem Rucksack ein und weiß, was jeder (heimlich) denkt: Bombe oder keine Bombe? Die absurde Frage gehört hier zum Alltag. Weil zu oft Selbstmordattentäter vorbeikamen: um Vergeltung zu üben für die Besatzung Palästinas.
Vor mir sitzt ein orthodoxer Jude, Vollbart, Schläfenlocken, man in black: Hut, Jacke, Mantel (im Sommer!), Hose, Strümpfe, Schuhe, alles dunkelschwarz, alles direkt vom Leichenbestatter. Schon die Kleidung – von Kopf bis Fuß – sieht wie eine Rüstung aus, wie eine Barriere nach allen Fronten: um sich vor dem Leben in Sicherheit zu bringen, dem sündenteuflischen. Missmut steigt in mir hoch. Wie immer, wenn ich sehe, wie Religion das Leben in Verruf bringt. Ich würde gern einen Glauben entdecken, der sich nicht nach der »Wiederkunft des Messias« (oder eines anderen göttlichen Rächers) sehnt, nicht nach dem Tod, nicht nach dem – gewiss sterbensfaden – Himmel. Eine Religion, bitte, die das Diesseits verherrlicht und die Liebe zur Welt.
Fahrt über ein schönes Land, die warme Morgensonne hinter den Hügeln. Mein trancemüder Körper, der an Häusern vorbeifährt, deren Fenster bis hinauf in den dritten Stock vergittert sind. Wer durch Israel reist, wird irgendwann die Angst, die unheimliche Angst, verstehen, die hier umgeht. Sie scheint, nein, sie ist der Schlüssel zum »Nahostkonflikt«.
5
Nach einer guten Stunde in Jerusalem. Einchecken in ein Hotel, das im östlichen, muslimischen Teil liegt. Den Israel 1980 annektierte. Dieser Vorgang wird von der internationalen Staatengemeinschaft nicht anerkannt, denn die Palästinenser bestehen ihrerseits auf Ostjerusalem als der künftigen Hauptstadt Palästinas. Dieser Streitpunkt ist eines der entscheidenden Motive der Zwietracht. Keine Seite will nachgeben. Als Außenseiter weiß man nie genau, welches der beiden Lager – Israelis oder Palästinenser – sich bornierter aufführt. Schwer zu sagen, denn sie haben ein Maß an Starrsinn erreicht, das scheinbar nicht mehr zu überbieten ist. Kein Wunder, denn er ist religiös motiviert. Ebenfalls auf beiden Seiten. Denn Jerusalem ist die »heilige« Stadt, mitten im »heiligen« Land. Das klingt nach Realsatire. Müsste man doch lange darüber nachdenken, ob es – wo auch immer – ein Gebiet gibt, auf dem es die letzten paar tausend Jahre unheiliger, mörderischer und erbarmungsloser zugegangen wäre als hier. Mit den drei Monotheismen – Judentum, Christentum und Islam – als Hauptdarsteller. Rastlos verkeilt in »heilige« Kriege.
6
Das Wunder des Reisens. Ich verlasse das Hotel und darf nun alle fünfzig Schritte neue »Bilder« sehen, darf mein Herz bereichern, ja, Gefahr laufen, dass ich etwas nicht verstehe, dass ich überrascht und, wenn ich Glück habe, überwältigt werde. Und ich werde es. Ich gehe durch das Damascus Gate, hinein in den Souk der Altstadt: hundert Gassen, Hunderte Händler, eng, verwinkelt, mit der schönen Aussicht, sich an jeder »Kreuzung« zu verirren. Oder in eine Gruppe Soldaten zu laufen. Mit Sturmgewehren. Das klingt logisch: Wer sich ungesetzlich Besitz aneignet, muss ihn bewachen. Tag und Nacht. Jeder Reisende erfährt gleich zu Beginn, wie schwer bewaffnet das »heilige« Land auftritt. Ach ja, »holy arms« haben sie hier auch.
Aber bald kommt das Warme, so Menschliche: Neben jedem zehnten Stand sitzt ein Mann und verkauft Büstenhalter. Auf keinem Erdteil werden mehr BHs verkauft als auf dem arabischen. Berge von Büstenhaltern verraten Berge von Sehnsüchten. Leider hat Herr Allah beschlossen und als ewige Weisheit von Mohammed verkünden lassen, dass nur verheiratete Brüste angestarrt und geküsst werden dürfen. So liegt er auf jeder dritten Auslage da, der Schwung Spitzenwäsche. Und so gehen minütlich Vulkane voller Lust daran vorbei. Eben jene geschundenen jungen Männer, die stillhalten müssen, bis zur Ehe. Statt Schönheit küssen: immer nur davon träumen. Täglich, nächtlich.
Außerhalb des Bazars, ganz in der Nähe des Jaffa Gate, sehe ich einen Ausschnitt aus dem modernen Leben. Er ist ungeheuer banal und fasziniert gerade deshalb. Direkt vor der Mauer der Altstadt wird im Freien ein Nichts inszeniert, das der Veranstalter, ein Werbefuzzi, pompös »Speeding« nennt. Man denkt an Geschwindigkeit, an Rasen, an Luftanhalten. Und was passiert? 250 Standräder wurden aufgestellt, ungemeine Kräfte walten, Musik plärrt, via Lautsprecher erfolgen Anweisungen, Menschenschlangen bilden sich, Angestellte, Arbeiter und Sicherheitsleute verbreiten die Aura letzter Wichtigkeit, noch mehr Räder treffen ein, Gedränge beim Einlass, Schwitztücher und Mineralwasser stehen bereit, endlich schiebt jemand die Gitter beiseite, das Volk rennt los, man will noch immer glauben, dass eine Sensation – ein Tollkühner segelt mit tausend Luftballons durch die Luft – zum Vorschein kommt, nein, sie schwingen sich auf die Sättel und treten los. Ich frage nach und höre, dass jetzt eine Stunde lang gestrampelt wird. Gemeinsam. Im Stand. Das ist eine hinreißende Metapher, man kann so vieles in ihr lesen.
Ich mache mich auf den Weg zu meinem Hotel. Am Anfang der Salah-an Din Street, gegenüber der Polizeistation, steht eine Gruppe Palästinenser, sie diskutieren. Irgendetwas fällt vor, fünf israelische Soldaten, darunter eine Frau, nähern sich und greifen sich einen Halbwüchsigen heraus. Da ich um Sekunden zu spät kam, kann ich nicht sagen, warum. Der vielleicht Siebzehnjährige wird abgeführt, aber er reißt sich los und verbittet sich, ihn anzufassen. Um die Explosivität der Situation zu verstehen: Jeder Palästinenser, der in Ostjerusalem lebt, betrachtet diesen Stadtteil als den seinen und empfindet nichts als blanke Wut auf die fremde Macht. Natürlich wird Arif – inzwischen hat jemand seinen Namen gerufen – von den fünf überwältigt und Richtung Kommissariat gezerrt. Sie sind in Eile, um dem Volkszorn zu entgehen. Arif wehrt sich weiter, schreit sie an. Mut hat der Junge. Wie eine Stichflamme schießt der Hass aus seinen Augen. Mitten in die Augen seiner Feinde.
In Japan haben sie ein kluges Sprichwort: »Wenn dein einziges Werkzeug ein Hammer ist, dann sieht alles wie ein Nagel aus«, sprich: Wenn man von keinem...