Einleitung
Am 21. Februar 1916, 18 Monate nach Beginn des Ersten Weltkrieges, griffen deutsche Truppen französische Stellungen nördlich und nordöstlich von Verdun an, der alten Festung an der Maas (französisch: Meuse) im Nordosten Frankreichs. Damit leiteten sie die »Symbolschlacht des ganzen Krieges 1914–1918« ein, wie der Romanautor und Kriegsveteran Maurice Genevoix es formulierte. Der zehnmonatige Stellungskrieg, der mit dem Begriff »Verdun« verbunden ist, hat dem Ort eine besondere Größe verliehen, und schon vor dem Ende der Schlacht fiel auf die in Trümmern liegende Stadt und ihre Umgebung der erste Glanz eines posthumen Ruhmes. Es gibt immer wieder Kriegsschauplätze, die eine weit über ihren strategischen Wert hinausgehende Bedeutung und einen geradezu legendären Symbolcharakter erlangen. Die Verteidiger von Saragossa im Jahr 1808 und von Stalingrad 1942/43 etwa wurden zu nationalen Rettern stilisiert. Auch Verdun, ein Ort, an dem so viele Franzosen und Deutsche ihr Leben verloren – insgesamt 300000 –, dass das riesige Beinhaus, das dort nach dem Krieg errichtet wurde, nur einen Bruchteil der zersplitterten und verstreuten Überreste aufnehmen konnte, wurde zum nationalen Symbol. Daher musste Genevoix seinen Ausspruch nicht weiter erklären: Niemand hätte gewagt, den Glorienschein, der die gemarterte Stadt umgab, anzukratzen.[1]
Auf den ersten Blick scheint der Rang, den die Franzosen Verdun beimessen, unbestreitbar. Die Schlacht dauerte länger als jede andere des Ersten Weltkrieges – mindestens bis Dezember 1916, als die Franzosen den größten Teil des im Februar verlorenen Terrains zurückerobert hatten. Doch auch danach gingen die Kämpfe weiter, so dass die Schlacht ein Sinnbild für das unaufhörliche und eintönige Blutvergießen des gesamten Krieges wurde. Zweitens stand Verdun als Abwehrschlacht, die die Franzosen nicht begonnen hatten, stellvertretend für ihre Lage in einem Krieg, den sie ebenfalls nicht angefangen hatten. Und drittens war es eine einsame Schlacht, denn sie wurde von den Franzosen ohne Verbündete ausgefochten. Die Briten bereiteten in einem anderen Sektor der Westfront ihre eigenen Offensiven vor, Russen und Italiener kämpften an weit entfernten Fronten, und die Amerikaner traten erst in den Krieg ein, als die Schlacht um Verdun bereits vorüber war. Das unterschied Verdun von den meisten anderen großen Schlachten und spiegelte eine weitere Realität des Ersten Weltkrieges wider: In seinem Verlauf verloren die Franzosen weit mehr Männer als ihre Bündnispartner an der Westfront, fast doppelt so viele wie die Briten und über zwölfmal so viele wie die Amerikaner. Verdun stand in der Tat sinnbildlich für die französische Kriegserfahrung.
Obwohl Verdun also eng mit der französischen Geschichte verbunden ist, reicht der Rang der Schlacht doch weit darüber hinaus. »Verdun wird einst als das Schlachthaus der Welt in die Geschichte eingehen«, schrieb ein amerikanischer Sanitätsfahrer nach seiner Ankunft im August 1917, als die Franzosen endgültig die Rücken der Höhe 304 und des Toten Mannes von den Deutschen zurückeroberten. Wenn man das Geschehen etwas nüchterner betrachtet, dann wundert man sich jedoch ein wenig über die Berühmtheit der Schlacht, sogar aus französischer Sicht. Es war keine Entscheidungsschlacht – kein Waterloo, Sedan oder Kursk, die allesamt für einen Moment des Krieges stehen, in dem eine Seite die Initiative verlor und in der Folge nicht mehr wiedererlangte. Die frühere Schlacht an der Marne hatte eine entscheidendere Bedeutung gehabt und das Land auf dramatischere Weise gerettet: Sie hatte die vorrückenden deutschen Truppen gestoppt und sogar zurückgedrängt. Das Gleiche galt für die Gegenoffensiven von 1918, die außerdem im Gegensatz zur Erfahrung von Verdun die künftige französische Militärdoktrin mit ihrer Betonung langer, aus der Defensive geführter Kriege und einer methodischen Kampfführung prägten. Und auch die tatsächliche strategische Bedeutung Verduns erschien manchen Verteidigern schon zweifelhaft, während sie noch die Angreifer abzuwehren versuchten.
Weder die Franzosen noch die Deutschen erholten sich jemals wieder von ihren Verlusten bei Verdun. Dennoch ist im Krieg alles relativ: Hatte diese Schlacht eine Seite mehr als die andere geschwächt? Die Antwort auf diese Frage, die im selben Jahr an der Somme gegeben werden sollte, erwies sich als längst nicht eindeutig. Und Verdun war auch nicht die blutigste Episode des Krieges, die sich durch das Ausmaß des Gemetzels von allen anderen abhob. Im Bewegungskrieg um die Ardennen und die belgische Grenze im August und September 1914 starben viel mehr Soldaten. Die französischen Verluste bei ihren Offensiven zuvor in der Champagne 1915 und danach an der Aisne im Jahr 1917 übertrafen ebenfalls phasenweise die in Verdun. »Aus Gründen, die nicht schwer zu finden sind«, hatte Jules Romains, wie er selbst sagt, Verdun ins Zentrum seines gewaltigen, historischen Romanzyklus »Les Hommes de bonne volonté« (»Die guten Willens sind«) gerückt. Je genauer man hinschaut, desto schwerer fällt es jedoch, diese Gründe auszumachen, und die Vorrangstellung Verduns erscheint alles andere als selbstverständlich.[2]
Verdun hatte keine großen politischen Auswirkungen. Weder rettete die Schlacht einen Herrscher, noch führte sie zu seinem Sturz – sie war kein Bouvines anno 1214, das einen französischen Monarchen, Philipp August, stärkte, noch war sie ein Rossbach anno 1757, das dazu beitrug, einen anderen, nämlich Ludwig XV., zu schwächen, und sie war schon gar kein Waterloo 1815 oder Sedan 1870, die zwei weitere entthronten: die eine Napoleon, die andere dessen Neffen. Die Dritte Republik sah nach der Schlacht von Verdun nicht wesentlich anders aus als zuvor. Der Ministerpräsident (oder Président du Conseil, wie er damals genannt wurde) Aristide Briand blieb im Amt, wie auch das Staatsoberhaupt Raymond Poincaré. Die Schlacht schwächte die Stellung General Joseph Joffres, des Generalstabschefs, dem seine Kritiker im Abgeordnetenhaus vorwarfen, er habe Verdun nicht mit genügend starken Kräften verteidigt. Dass Joffre abgesetzt wurde, war aber letztlich eher auf die enttäuschende französisch-britische Offensive an der Somme im Sommer und Herbst desselben Jahres zurückzuführen als auf Verdun. Vorübergehend beförderte Verdun zwar die Karriere General Robert Nivelles, der Joffre ablöste, allerdings behielt er das Kommando nur bis zur kläglich gescheiterten Offensive am Höhenzug Chemin des Dames im Frühjahr 1917. Aus politischer Sicht hatte die lange Schlacht keine Folgen.
Wenn Verdun tatsächlich Frankreich »gestaltete«, so geschah dies nicht durch eine unmittelbare militärische oder politische Auswirkung, eine Kapitulation oder einen Rücktritt, eine Krise oder einen Aufstand, aus dem ein anderes Land hervorgegangen wäre. Es geschah vielmehr langsam, über Jahrzehnte hinweg, indem die nachfolgenden Generationen den Ort mit immer mehr Bedeutungen aufluden. Sein Einfluss auf das Nationalbewusstsein entwickelte sich erst im Lauf der Zeit, weil sich nach und nach herausstellte, dass Verdun der letzte große Sieg französischer Truppen in einer Schlacht bleiben sollte. Etwas Vergleichbares ereignete sich nie wieder, weder 1917 oder 1918 noch zwischen 1939 und 1945 und schon gar nicht während der schmutzigen Kolonialkriege, die darauf folgten. Damit erlangte die Schlacht sogar eine größere Bedeutung als der Erste Weltkrieg selbst. Diejenigen, die das sogenannte kollektive Gedächtnis – beziehungsweise die öffentliche Auffassung von Geschichte – prägen, verklärten Verdun konsequent und lösten es aus dem zeitlichen Kontext. Die Schulbücher, politischen Reden, Presseartikel und audiovisuellen Berichte, Gedenkfeiern, populären Geschichten, Filme, Romane und Lieder – all jene Medien, die den Millionen, die kaum etwas darüber wussten, den Eindruck eines großartigen Ereignisses vermittelten – sprachen von »Einigkeit«, »Volk«, »Vaterland«, »Widerstand«, »Boden«, als handle es sich um einen Moment der Wiedergeburt. Verdun wurde zu einem beliebten Bezugspunkt für jeden – und das waren viele –, der in den Jahren und Jahrzehnten nach 1918 die These belegen wollte, dass das Land dabei sei, vom Kurs abzukommen. Keine andere Schlacht, weder eine aktuelle noch eine historische, erfüllte diesen Zweck. So gesehen, ist die Frage, inwiefern Verdun Frankreich »gestaltete«, gleichbedeutend mit der Frage, was Frankreich aus Verdun machte. Und die zweite Frage wäre: Wie weit entfernte sich das so entstandene Konstrukt von der Schlacht selbst?
Die Deutschen befassen sich ihrerseits ebenfalls intensiv mit Verdun, das ihnen mehr Kopfzerbrechen bereitet als etwa die Schlacht an der Somme, deren Ausgang für sie günstiger war. Sie verloren bei Verdun fast ebenso viele Männer wie die Franzosen, unter ebenso grauenhaften, wenn nicht noch schlimmeren Bedingungen: Im Gegensatz zu den Franzosen hatten ihre Soldaten kaum Forts, in denen sie Schutz vor dem Artilleriefeuer, den Granatsplittern und dem Wetter suchen konnten. Ebenso sehr wie die Franzosen leiteten die Deutschen aus dem Gemetzel eine Parabel menschlicher Willenskraft ab. Anders als die Schlacht an der Somme brachte Verdun jedoch keinen Ernst Jünger...