2 Geankert
Sechs Monate lang hatte ich Zeit, Nepal und Indien zu bereisen. Ich war Anfang 20 und allein mit dem Rucksack unterwegs. Nach meiner Reise wartete ein Studienplatz für Fotografie an einer Designschule in Rom auf mich. Auf dem Weg zurück nach Kathmandu wollte ich mir unbedingt Benares, auch Varanasi genannt, die heilige Stadt der Hindus, ansehen – Kashi, die Stadt des Lichts, so wurde Benares in den alten Schriften genannt, und so heißt auch noch heute der sakrale Kern der Stadt. Für Hindus ist sie das Zentrum des Universums, eine der ältesten Städte der Welt. Nach den Schriften ist sie 3500 Jahre alt, nach der Geschichtsschreibung 2500 Jahre. Dort wollte ich eine Bootsfahrt auf dem heiligen Fluss Ganges erleben.
Benares ist Himmel und Hölle auf einen Blick, verlockend und abstoßend, die schiere Überforderung der Sinne. Ein gewaltsames Chaos aus Menschen, Tieren, Gerüchen, Geräuschen, alles gleichzeitig und unaufhörlich. Elend, Schmutz und Armut, ziselierte Paläste und reiche Tempel. Nach meiner ersten Rikschafahrt durch Menschenmassen, wie ich sie zuvor noch nie gesehen hatte, kam ich abgekämpft endlich in Dasaswamedh Ghat, dem Ziel aller Pilger, an. Hier wollte ich mir ein am Ufer gelegenes Guesthouse suchen.
Noch vor den Treppen, die zum Ufer des Ganges hinunterführen, setzte ich mich in einen Chaishop, einen Teeladen, der am Wegesrand lag. Der süße, nach Zimt und Kardamom duftende Milchtee wurde mir in einem Tontöpfchen gereicht, und ich beobachtete das Leben auf dem schmalen Pilgerweg. Neben dem Teeladen reihten sich kleine Souvenirshops aneinander, alles Bretterbuden, schnell auf- und abgebaut. Dieser »Ladenzeile« gegenüber saßen Bettler.
Eine endlose Flut von Pilgern strömte den Weg entlang. Mal waren es einzelne, oft aber ganze Schwärme, manche auch barfuß und singend, in der Hand hielten sie Opfergaben wie Blumenketten, Lichter, Kokosnüsse oder Früchte.
Aus den Radios der Verkaufsstände plärrte Bollywoodmusik. Kühe mischten sich unter die Menschen und trotteten den schmalen Weg entlang, sie fraßen vom Boden weg, was sie fanden. Räudige und schmutzverkrustete Straßenhunde lagen am Rand des Weges. Sie schliefen trotz des Getöses um sie herum. Ihre große Stunde schlug erst bei Dunkelheit.
Ich hätte dem bunten Treiben noch viel länger zuschauen können, doch schließlich stand ich auf und lief die Treppen zum heiligen Fluss hinunter. Ganga war viel breiter, als ich sie mir vorgestellt hatte, ein wirklich mächtiger Strom. Eine Lebensader. Große und kleine Ruderboote voller Pilger waren auf dem heiligen Wasser unterwegs, und am Ufer standen Tausende bis zur Hüfte in den Fluten und beteten. Dann sah ich in der Flussmitte einige Hausboote. Mein Herz tat einen Freudensprung – ein Hausboot auf der heiligen Ganga ist doch viel reizvoller als ein schnödes Hotelzimmer. Bald hatte ich die Bootsmänner entdeckt, die in einem Pulk herumstanden und ihre Dienste laut anpriesen. Mein Blick fiel auf einen jungen Bootsmann, der nicht aus voller Kehle schrie und mir schon deswegen gleich sympathisch war. Ich fragte ihn, ob ich eines dieser Hausboote mieten könne, und wir wurden sofort handelseinig. Der Bootsmann hieß Avan. Ich solle warten, er mache das Boot klar und hole mich dann ab, übersetzte ich mir sein gebasteltes Englisch und die ausladenden Gesten. Er brachte das Hausboot in die Mitte des Flusses, dann ruderten wir mit einem kleinen Boot hinüber.
Ich war glückselig. Bei sommerlichen Temperaturen im März war ich das erste Mal auf Mutter Ganga und zog auch gleich bei ihr ein. Mit jedem Ruderschlag wurde es ruhiger, und das Gefühl des Bedrängtseins fiel von mir ab. Die Masse Mensch blieb hinter mir, ans Ufer gebannt. Auf Ganga waren nicht mehr viele unterwegs, ab und an ein Boot, sonst nur Wasser, Wind und Wellen.
Mein Hausboot war klein, hellblau bemalt und ganz aus Holz. Der Innenraum bot Fensterläden und rundherum eine Sitzbank, sonst aber gar nichts. Ich kaufe mir eine Schilfmatte zum Schlafen, dachte ich. Innen wie außen war mein schwimmendes Zuhause mit farbigen Götterfiguren verziert, die einmal vier, einmal sechs Arme hatten und jeweils drei Augen, in dicken Pinselstrichen aufgemalt.
So saß ich zufrieden im Schatten des Baumwolltuchs, das ich mir als Sonnensegel auf dem Bootsdach aufgespannt hatte. Mein Boot lag an einem langen Ankerseil, es schaukelte träge und drehte sich, und mein Blick fiel manchmal auf das Ufer mit der prächtigen, alten Stadt und dann wieder auf das gegenüberliegende, naturbelassene.
Benares erstreckt sich über sechs Kilometer am Ufer der Ganga entlang, jedem Uferabschnitt kommt eine andere Bedeutung zu, Charakter und Atmosphäre wechseln alle 100 Meter. Von weitem mutete die Stadt wie ein Panorama aus dem Mittelalter an, ich konnte mich gar nicht sattsehen. Auf den ersten Blick war die Uferpromenade von prunkvollen Tempeln und alten Palästen, langen Treppenfluchten und abertausenden badenden Pilgern bestimmt, doch an manchen Uferabschnitten lagen Herden von Wasserbüffeln im Schlamm, spielten die Jungen Kricket, oder es wurden dort die Toten auf gewaltigen Scheiterhaufen verbrannt. An einem der Ghats weiter links wuschen mindestens 20 Männer in einer langen Reihe Wäsche im Fluss. Ich beobachtete, wie sie ihren ganzen Körper einsetzten und mit weit ausholender Schleuderbewegung die nasse Wäsche auf die am Ufer eingelassenen flachen Steine schlugen. Seifenschlieren sammelten sich an der Wasseroberfläche. Das rhythmische Aufklatschen klang fast wie ein Trommelwirbel, die Ankündigung von etwas Aufregendem. Dieses gesamte Ghat gehörte der Wäsche. An langen Seilen flatterten weiße und bunt leuchtende Kleidungsstücke und Laken, Saris in den farbenfrohesten Mustern waren zum Trocknen auf den Stufen ausgebreitet und leuchteten um die Wette. Kaum ein Stückchen Treppe, das nicht von Stoffen belegt war. Dazwischen hüpften die Kinder der Wäscher und sammelten Getrocknetes ein. In großen Stapeln trugen sie es zur Mutter, die in einem kleinen Shop am Straßenrand mit dem stets heißen Kohlebügeleisen darauf wartete, die frische Wäsche zu pressen und zu falten.
Das gegenüberliegende Ufer bestand aus hellem Sand, so weit man schauen konnte, fast eine Dünenlandschaft, gesäumt von grünen Bäumen. Ab und zu ragte eine Palme heraus. Die Einheimischen glaubten, dass dieses Ufer verwunschen sei und von bösen Geistern heimgesucht werde, deshalb baute hier niemand sein Haus. Träge lagen dort die Hunde halb eingegraben im feuchten Sand in der Sonne, und etwas weiter sah ich zahllose mächtige Aasgeier dösen, das erste Mal, dass ich diese archaischen Geschöpfe in freier Wildbahn zu Gesicht bekam.
Am Abend lud Avan mich zum Essen ein, das er auf dem Hausboot zubereiten wollte. Er kam mit einem kleinen Jungen, den er als Sohn seines ältesten Bruders vorstellte. Er hatte alles dabei: einen kleinen Pumpofen, gefüllt mit stinkendem Kerosin, Kochtöpfe, Pfannen und eine Menge Reis, dazu dal und subji, Linsen und Gemüse. Zuletzt packte er die Gewürze aus, die in Zeitungspapierfetzen gewickelt waren: grüner und schwarzer Kardamom, Lorbeerblätter, Koriandersamen, Ingwer, Kümmel und gelbleuchtendes haldi powder, Gelbwurz. In einem anderen Zeitungspapier lagen ein Bund Koriander und frischer Knoblauch, alles zusammen verströmte den verheißungsvollen Duft der indischen Küche. Avan zündete eine weitere Funzel an, er benutzte selbstgemachte aus alten Hustensaftfläschchen, in deren Verschluss er ein Loch bohrte und einen Docht hindurchführte. Mit Kerosin gefüllt gab das Fläschchen ein paar Stunden Licht. Als das Bootsinnere schwach, aber ausreichend beleuchtet war, machte er sich an die Arbeit und startete mit wildem Pumpen den fauchenden, verbeulten Kerosinkocher, bis eine Flamme blau hochschlug. Mir fiel auf, dass die Töpfe ohne Henkel waren, da entdeckte ich eine massive Greifzange, mit der Avan dann auch geschickt die glühenden Pfannen jonglierte. Ich konnte sehen, dass er das Essen mit Hingabe zubereitete. Sorgfältig schnitt er die Zwiebeln in perfekte Würfel, zerstieß frische Gewürze im Mörser und brachte so ihren Duft und Geschmack ganz zur Entfaltung.
Avans Haar sah dabei aus wie mit einem dicken Kohlestift gezeichnet, schwarz leuchtend und dicht. Wie viele Inder benutzte er Senföl für Haut und Haar, und deshalb glänzten sie stets, selbst im Schein der Funzel.
Wir saßen im Schneidersitz vor dem Kocher und versuchten, mit Händen und Füßen eine Unterhaltung zu führen. Ich wollte von ihm wissen, warum er Bootsmann geworden sei, da schaute er mich verdutzt an, schüttelte den Kopf und antwortete: »No why. This natural. My father boatsman, my brothers boatsman, my sisters marry boatsman, my mother father also boatsman. Everybody boatsman my family. Me of course boatsman. Born boatsman.« Und so erfuhr ich, dass das Leben in Benares doch noch dem strengen Kastendenken folgte, auch wenn das Kastensystem in Indien offiziell schon lange als abgeschafft galt. Die Brahmanen bildeten als Priester und Gelehrte die höchste Kaste, ihnen folgte die Kriegerkaste, dann die Händler und Bauern. Das Schlusslicht der vier Kasten bildeten die Arbeiter, zu denen auch die Bootsmänner zählten. Man konnte die Kasten nicht wechseln. Anders als meine Freunde und ich konnte Avan sich nicht aussuchen, wie sein Lebensweg verlaufen soll, was er arbeiten will, was seinen Talenten entspricht. Das alles ist vorbestimmt und mit der Geburt festgelegt: Er macht das, was die Familie macht.
Dann erzählte Avan, dass er nie über Benares hinausgekommen sei, es habe sich nicht ergeben, aber er wolle gern einmal mehr von Indien sehen. Da schämte ich mich fast ein bisschen. Jede Rupie, die er verdiene,...