„Die Entwicklung der jungen Menschen zu sozialistischen Persönlichkeiten ist Bestandteil der Staatspolitik der Deutschen Demokratischen Republik und der gesamten Tätigkeit der sozialistischen Staatsmacht.“[59]
Richert und Draht[60] wiesen bereits 1963 darauf hin, daß kommunistische Regime anstreben, ein verändertes Wertesystem zu ihren Gunsten durchzusetzen und daß sie darauf angewiesen sind, daß die Bevölkerung dieses Wertesystem zumindest partiell übernimmt. Diese Verinnerlichung ist ein wichtiger Aspekt der politischen Sozialisation, denn schließlich hängen davon auch Legitimation und Fortexistenz dieser Systeme ab. Es wird „herausgestellt, daß die Etablierung kommunistischer Systeme nicht nur bedeute, daß die politischen Institutionen transformiert würden, sondern daß auch angestrebt werde, die Wert- und Einstellungsstrukturen der Bevölkerung umzuformen“ (Lemke[61], 33). Stammer[62] begriff die frühe DDR als totalitäres System, das besonders auf die junge Generation eine gewisse Anziehungskraft ausübte. Er begründet das mit der kommunistischen Wert- und Gesellschaftsorientierung, die das Leben erleichtert hätte, da die Welt rational, kalkulier- und beherrschbar erschien und jedem Menschen einen festen Platz zuwies. Außerdem wirkte das System durch soziale Mechanismen: den Jugendlichen wurden Chancen geboten, schnell zu höherem Verdienst, zu verantwortlicher Tätigkeit und gesellschaftlichem Ansehen zu kommen. „Ein Moralkodex von Arbeits-, Partei-, Gruppenmoral und Patriotismus, verbunden mit einem ‚System von Anspornungen’, sorgte zudem für die psychologische Befestigung des Wertesystems“ (ebd.).
In den 60er Jahren trat eine „graduelle und an die Erfordernisse der modernen Industriegesellschaft angepaßte politische Sozialisation stark in den Vordergrund“ (ebd.). Die Modernisierung führte zu Reformen in Wirtschaft und Gesellschaft und ließ die politische Erziehung nicht unberührt – ein enges Korsett starrer Ideologie erschien dysfunktional, wobei sich das politische System trotz aller Ausdifferenzierungen stets seiner Herrschaft versichern mußte. Dies führte zu einem „widersprüchlichem Wechselprozeß von modernen, fachlich-rationalen und ideologischen Akzentuierungen in der politischen Sozialisation“ (a.a.O., 34).
Schöbel[63] faßt die politische Sozialisation in der DDR als eine „politisch-ideologische Erziehung“ (Schöbel, 448) zusammen. Die in der DDR angestrebte Systemakzeptanz[64] war zwar nicht gänzlich erfolgreich, sicherte aber gewisse Werte- und Politikprioritäten. Die Sozialisation wurde durch mehr oder weniger vorgegebene und fremdgelenkte Berufs- und Lebensentwürfe bestimmt und für die jüngere Generation in vorschulischen Einrichtungen, Schule, Ausbildung und Studium organisiert, ebenso in den Jugendverbänden Junge Pioniere (JP) und Freie Deutsche Jugend (FDJ). (Vgl. ebd.) Darüber hinaus trugen aber auch soziale und politische Erfahrungen im Freundes- und Familienkreis, die Kirche und andere formelle, nicht-staatliche und alternative Gruppen zur politischen Sozialisation bei. Diese Verknüpfung führte dazu, daß die politische Sozialisation vornehmlich im Jugendalter stattfand. (Vgl. Lemke, 15)
Im Bildungs- und Jugendgesetz und im Parteiprogramm der SED waren die politische Sozialisation betreffenden pädagogischen Zielvorstellungen fixiert: sie galten „der ideologisch-politisch-staatsbürgerlichen Einstellung und Haltung, dem beruflichen bzw. beruflich verwertbaren Wissen und Können sowie dem Verhalten der Menschen im Umgang miteinander“ (Freiburg[65], 277 f.). Präziser ausgedrückt, war damit gemeint, daß man den Sozialismus verinnerlichen und von ihm überzeugt sein sollte, daß man ihn überzeugend zu vertreten habe und daß man die Statuten des Marxismus-Leninismus[66] kennen und nach ihnen leben sollte. Neben der „Liebe zur Deutschen Demokratischen Republik“ wurden auch die „Liebe zur Arbeit, zur Achtung der Arbeit und der arbeitenden Menschen“ als Erziehungsziele genannt. Körperliche und geistige Arbeit zu leisten galt als unabdingbar für das Wohl der Gesellschaft. Schüler, Lehrlinge und Studenten sollten darauf vorbereitet werden „sich im gesellschaftlichen Leben zu betätigen, Verantwortung zu übernehmen und sich im Leben zu bewähren“. Im Bildungsgesetz wurden auch die „Charaktereigenschaften der sozialistischen Persönlichkeit“ genannt: „Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit, Höflichkeit und Zuvorkommenheit, Achtung gegenüber (den) Eltern und allen älteren Menschen sowie ehrliche und saubere Beziehungen zwischen den Geschlechtern“[67]. Um diese Ziele realisieren zu können, wurde allen Schulen eine verbindliche Schulordnung gegeben, die die Kompetenzen, Rechte und Pflichten des Lehrpersonals und der Schüler festlegte und für Fälle „besonders guter Erfüllung“ auch Auszeichnungen auslobte, denen „Schulstrafen“ gegenüberstanden, die in besonderer Schwere öffentlich gemacht wurden (auch in den Betrieben betroffener Eltern) und schlimmstenfalls dazu führten, daß ein höherer Bildungsabschluß vorenthalten wurde (vor allem bei ‚politisch unwürdigem’ Verhalten). (Vgl. a.a.O., 301 ff.) Die ‚richtigen’ Verhaltensweisen waren demnach nicht nur erwünscht, sondern durch diese Anerkennungs- und Disziplinierungsmaßnahmen mehr oder weniger erzwungen, wobei damit aber nicht unbedingt echte (sozialistische) Prinzipienverinnerlichung und nach ihnen ‚gelebte’ moralische Credos einhergehen mußten.
Von Kindheit an waren die Bürger dazu angehalten – besonders in den Anfangsjahren der DDR[68] –, auch ihre Freizeit organisierten gesellschaftlichen Aktivitäten zu widmen, so daß sie stets im Einzugsbereich offizieller Sozialisationseinrichtungen waren und somit so oft wie möglich nicht zu kontrollierenden privat-gesellschaftlichen Einflüssen entzogen waren. (Vgl. Dengel, 83 f.) Gefördert wurden Anpassung, Unterordnung und letztlich die Konformität der Bevölkerung. Versucht wurde dies vor allem durch Kontrollen (Staatssicherheit) und Strafen, aber auch, wie Schöbel betont, durch eine umfangreiche soziale Sicherung und Versorgung der Bürger. Letzteres wurde (und wird) positiv beurteilt, während die Überwachung und die Sanktionierung nonkonformer Bürger mißbilligend betrachtet wurden und zu einer, besonders ab den 80er Jahren, immer stärkeren Ablehnung des Systems führten. (Vgl. Kap. 3.7) Im Zuge dessen wurde die politisch-ideologische Erziehung weiter intensiviert. Diese „umfassende Reideologisierung“ (Lemke, 11) ging nicht einher mit einer Modernisierung und Öffnung des Systems – selbst die von Gorbatschow eingeleitete Sozialismus-Neubestimmung wurde abgelehnt; es blieb bei den überkommenen Politik- und Entscheidungsmustern und die DDR schottete sich mehr und mehr nach außen und innen ab.
In der DDR gab es zudem wenig Freiraum, mit Gegenständen und Inhalten umzugehen, die offiziell als politisch relevant angesehen wurden. Die Politik machte Vorgaben zu den Sozialisationszielen[69] – nicht die Gesellschaft. Doch ist das erziehungsstaatliche Anliegen schnell in Frage gestellt, führt man sich die oben angeführten Sozialisationseinflüsse vor Augen, die staatlich kaum beeinflußbar sind. Dazu kommen Prägungseffekte, die aus politischem bzw. sozialem Wandel oder politisch-historischen Erfahrungen resultieren, wobei die Prägekraft der herrschenden Weltanschauungen und politischen Überzeugungseffekte nicht zu unterschätzen ist, die für die grundsätzlichen, stabilen Überzeugungen in die Legitimität eines Regimes verantwortlich gemacht werden können. (Vgl. Dengel, 21 ff.)
Unter Führung und Kontrolle der SED sollte das Bildungswesen den ‚neuen’ Menschen erziehen. Der staatsbürgerlichen Erziehung lag das marxistische Menschenbild[70] zugrunde. Dessen Theorie wurde einseitig im Sinne des Machterhalts und der Legitimation ausgelegt. Die „allseitig entwickelte sozialistische Persönlichkeit“[71] war dabei das Ziel der Erziehung (Vgl. Biskupek, 11 ff.), um letztlich die ideologische Einheitlichkeit der Gesellschaft zu erreichen (was bedeutete, daß gesellschaftliches Engagement nur in vorgeschriebenen Bahnen möglich war). (Vgl. Dengel, 359)
Die politische Erziehung in der DDR war also als stete Einwirkung in die alltägliche und private Umwelt v.a. von Kindern und Jugendlichen konzipiert, mit dem Ziel, Unterstützung für den Sozialismus zu erreichen und das politische Bewußtsein zu stärken. Die SED überlegte sich dazu sorgfältig altersgerechte Strategien, die im Folgenden dargestellt werden.
Schon Zwei- bis Dreijährige sollten durch die Erziehungsarbeit in Kinderkrippen zu ‚Persönlichkeiten’ geformt werden – dies war Ziel der gesamten staatlichen Entwicklung und somit auch Arbeitsgrundlage für die Einrichtungen der Kleinkindbetreuung, die nominell zum Bildungssystem zählten. Die politische Klasse war davon überzeugt, daß „nur dann tatkräftige, schöpferische und allseitig gebildete Sozialisten herangebildet werden können, wenn der komplizierte Prozess der Erziehung und Bildung vom ersten Tag bis weit hinein ins Erwachsenenalter einheitlich und kontinuierlich gestaltet...