In diesem Kapitel wird untersucht, welche Formen die Verhaltensauffälligkeiten bei Gehörlosen annehmen können. Dazu zählen verschiedene Aspekte. Zunächst einmal die Prävalenz, also die Häufigkeit, die innerhalb eines bestimmten Zeitraumes festgestellt wird. Ausgehend von Studien zur Häufigkeit von Mehrfachbehinderungen bei Gehörlosen wird anschließend untersucht, ob die in Kapitel 1 erwähnte Zunahme der Verhaltensauffälligkeiten bei Gehörlosen tatsächlich der Realität entspricht und sich in entsprechenden Zahlen widerspiegelt. Außerdem wird gezeigt, ob es bei dieser Zielgruppe typische Auffälligkeiten gibt, die besonders gehäuft vorkommen. Die häufig verwendete Bezeichnung „Psychologie der Gehörlosen“ scheint diesen Umstand anzudeuten. Gibt es aber wirklich einige Arten von Verhaltensauffälligkeiten, die nur bei Gehörlosen oder zumindest mit einer signifikant höheren Häufigkeit bei ihnen auftreten? Das wird im zweiten Teil dieses Kapitels untersucht.
3.1 Häufigkeit von Auffälligkeiten bei Gehörlosen
3.1.1 Gehörlose mit Mehrfachbehinderungen
Warum wird an dieser Stelle zunächst die Häufigkeit von Mehrfachbehinderungen untersucht, wenn es in dieser Arbeit doch speziell um Verhaltensauffälligkeiten geht? Die Recherche zu empirischen Daten von Verhaltensauffälligkeiten war allerdings schwieriger als zunächst erwartet. Zumeist wurde bei Untersuchungen der zusätzlichen Behinderungen bei Gehörlosen nicht speziell nach den einzelnen Arten unterschieden. Oder es wurde einfach aufgezählt, welche negativen Eigenschaften und Verhaltensweisen bei Gehörlosen auftreten.[52] Deswegen werden an dieser Stelle auch erst die Daten zu Mehrfachbehinderungen vorgestellt, bevor die Ergebnisse zu der Häufigkeit von Verhaltensauffälligkeiten bei gehörlosen Kindern und Jugendlichen genannt werden. Mehrfachbehinderungen bei Gehörlosen sind keineswegs nur eine Randerscheinung, wenn man der folgenden Aussage glauben kann:
„Wenigstens 35 % aller vorsprachlich gehörlosen Kinder und etwa 25 % aller vorsprachlich schwerhörigen Kinder weisen gefährliche zusätzliche Störungen auf, die sowohl den Unterricht als auch die Erziehung wesentlich erschweren, bis hin zum völligen Versagen. Letzteres braucht aber in der Regel nicht der Fall zu sein“ (van Uden 1988, S. 5).
Van Uden befasste sich ausgiebig mit der Erziehung gehörloser Kinder und Jugendlicher und untersuchte auch Lern-, Verhaltens- und Teilleistungsstörungen. Er bezieht sich mit diesen Zahlen also nicht explizit auf Verhaltensauffälligkeiten bei gehörlosen Kindern und Jugendlichen, sondern allgemein auf zusätzliche Störungen bei Gehörlosen. Dennoch ist festzuhalten, dass auch bei der Zusammenfassung der verschiedensten Behinderungen, die zusätzlich zur Schwerhörigkeit bzw. Gehörlosigkeit auftreten, die Häufigkeit von 25 % bis 35 % ein sehr hoher Wert ist. Demnach wären ein großer Teil der gehörlosen Kinder und Jugendliche mehrfachbehindert. Dies sei auch zu erwarten, wenn man die erschwerten Lebensbedingungen gehörloser Kinder und Jugendlicher berücksichtigt.[53] Die angeführten Angaben zu Mehrfachbehinderungen bei Gehörlosen sind allerdings schon beinahe 20 Jahre alt. Wie sieht es mit neueren Zahlen aus?
Leonhardt, Professorin für Gehörlosen- und Schwerhörigenpädagogik an der Ludwig-Maximilians-Universität München, eine führende Persönlichkeit im Bereich der deutschsprachigen Hörgeschädigtenpädagogik, stellt folgendes fest:
„Folgt man den Erfahrungsberichten von Pädagogen, Sonderschullehrern, Erziehern, Psychologen und Sozialarbeitern, die in den verschiedenen pädagogischen Einrichtungen, insbesondere in Frühförder- und Beratungsstellen, Sonderkindergärten bzw. Sonderkindertagesstätten und Schulvorbereitenden Einrichtungen sowie Sonderschulen (bzw. Schulen für Behinderte oder Förderschulen) tätig sind, so verändert sich mehr und mehr das Erscheindungsbild der Kinder, die in diesen Einrichtungen betreut, gefördert und gebildet werden. Zunehmend wird von »Mehrfachbehinderung«, »Zusatzbehinderung«, »Schwerstbehinderung«, »Komplexbehinderung« oder auch »Schwerstmehrfachbehinderung« gesprochen. […] Die gleiche Tendenz läßt sich bei einer Analyse der internationalen Fachliteratur erkennen“ (1998b, S. 15).[54]
Sie nennt dabei zwar keine Zahlen, allerdings ist diese Schilderung dennoch sehr eindrucksvoll. Ähnliches stellt auch Hintermair fest. Er ist Professor für Hörgeschädigtenpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, und hat sich intensiv mit der Lebenssituation und Identitätsentwicklung Gehörloser beschäftigt und dazu bereits zahlreiche Artikel und Bücher veröffentlicht.[55] Ein Großteil seiner Untersuchungen befasste sich mit mehrfachbehinderten Gehörlosen und auch mit den Belastungen und Ansprüchen ihrer Angehörigen. Zu welchen Ergebnissen kam er bezüglich der Prävalenz von Mehrfachbehinderungen und speziell von Verhaltensauffälligkeiten bei Gehörlosen? Zunächst berichtet er von Untersuchungen anderer Wissenschaftler zur Häufigkeit von Mehrfachbehinderungen bei gehörlosen Kindern:
„Die Zahlen, die vorliegen, schwanken je nach Bezugsgruppe zwischen ca. 20 % und 35 % aller hörgeschädigten Kinder. Nimmt man als Vergleichsgruppe hörgeschädigte Kinder aus dem vorschulischen Bereich, so wird die Anzahl der Kinder mit einer zusätzlichen Beeinträchtigung zumeist im Bereich um die 20 % genannt. Nimmt man hingegen als Vergleichsgruppe hörgeschädigte Kinder im Schulalter, bewegen sich die Zahlen im Bereich von 30 % und mehr“ (Hintermair, Hülser 2004b, S. 12–13).
Hintermair, Hülser nimmt dabei eine andere Unterscheidung vor als van Uden. Letzterer differenzierte nach dem Hörstatus, Ersterer nach dem Alter der untersuchten gehörlosen Kinder und Jugendlichen. Er kommt dabei ebenfalls zu ziemlich hohen Werten. Im Vorschulalter weist demnach jedes 5. Kind und im Schulalter sogar jedes 3. Kind mit einer Hörschädigung eine zusätzliche Behinderung auf. Allerdings soll an dieser Stelle nicht ausschließlich die Häufigkeit von mehrfachbehinderten gehörlosen Kindern und Jugendlichen erörtert werden. Auch Verhaltensauffälligkeiten sind ein Teil der hier angeführten häufig auftretenden Mehrfachbehinderungen. So ergänzt Hintermair diese Zahlen um die folgende Anmerkung: „Entsprechend halten wir hier lediglich fest, dass die am häufigsten auftretenden zusätzlichen Behinderungen, die genannt werden, Lernbehinderung, geistige Behinderung, Hirnfunktionsstörungen, Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom, Sehbeeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten sind“ (2004b, S. 13, Hervorhebung F. A.).
Auch in eigenen – allerdings nicht repräsentativen – Studien zur Häufigkeit von Mehrfachbehinderungen, kommt er zu vergleichbaren Ergebnissen: Im Schnitt treten sie bei 20 % der gehörlosen Kinder und Jugendlichen auf – unabhängig vom Alter.[56] Schon alleine dadurch wird deutlich, dass auf Hörgeschädigtenpädagogen eine wesentlich schwierigere und forderndere Arbeit zukommt, als sie es im Laufe ihres Studiums bzw. ihrer Ausbildung erwarten. Auf diesen besonderen Umstand müssten sie rechtzeitig vorbereitet werden. Für diese Vorbereitung ist jedoch eine differenzierte Sichtweise auf die Gruppe der mehrfachbehinderten Gehörlosen notwendig, die sie in ihrer Heterogenität wahrnimmt und anerkennt. Erst dann ist auch ein sinnvolles Denken über und Arbeiten mit diesen Personen möglich. Dementsprechend und in Übereinstimmung mit der Fragestellung dieser Arbeit wird nun auf die Häufigkeit von Verhaltensauffälligkeiten eingegangen.
3.1.2 Gehörlose mit Verhaltensauffälligkeiten
Zu welchen Daten kommt man demnach, wenn man die Auftretenshäufigkeit von Verhaltensauffälligkeiten bei Gehörlosen untersucht? Schließlich wird wiederholt konstatiert – um nicht zu sagen, beklagt –, dass ihre Erziehung immer schwieriger wird. In der Einleitung wurde bereits erwähnt, dass Wissenschaftler und vor Allem Praktiker der Hörgeschädigtenpädagogik immer häufiger mit Verhaltensauffälligkeiten bei gehörlosen Kindern und Jugendlichen konfrontiert werden. So berichtet Wisnet über ihre Erfahrungen als Lehrerin und Leiterin in verschiedenen Schulen für Hörgeschädigte: „Verhaltensauffällige Kinder und unsoziales Schülerverhalten sind für Lehrkräfte derzeit Belastungsfaktor Nummer eins“ (2003, S. 247). Sie beschreibt dabei zwar keine gesteigerte Häufigkeit, sondern lediglich die zunehmend belastende Wirkung der Verhaltensauffälligkeiten auf die Lehrer in Einrichtungen für Hörgeschädigte. Jedoch kann herausgelesen werden, dass dies früher nicht der Fall war. Und die gesteigerte Belastung ließe sich gut durch ein gesteigertes Auftreten der Verhaltensauffälligkeiten erklären. Wisnet nennt auch keine...