Nach Erikson gibt es acht Stufen der psychosozialen Entwicklung, welche sich über den gesamten Lebenslauf erstrecken. Diese Stufen markieren Veränderungen in der Orientierung zum Selbst und gegenüber anderen. Jede repräsentiert die Lösung einer besonderen Krise und ist wichtig für den erfolgreichen Verlauf späterer Stufen.
Die Bewältigung der Krisen bringt in der Kindheit Vertrauen, Autonomie, Initiative und Kompetenz hervor, in der Jugend führt sie zur Identität, zur Intimität im frühen Erwachsenenalter, zur Generativität im mittleren Erwachsenenalter und schließlich zur Ich-Integrität im hohen Alter.
Das Jugendalter ist ein Abschnitt wachsender Unabhängigkeit und Selbstdefinition, in welcher das Individuum damit beginnt, seine Identität als Erwachsener zu formen. Identitätsfindung schließt verschiedene Aufgaben ein, unter anderem die Entwicklung einer sexuellen Identität, den Erwerb der Autonomie von den Eltern und größere Identifikation mit Gleichaltrigen, sowie Entscheidungen über den beruflichen Werdegang. Das mittlere Erwachsenenalter und das höhere Lebensalter bringen neue Herausforderungen und weitere Veränderungen. Wie bereits erwähnt, unterscheidet Erikson „acht Hauptstadien während des Lebenslaufes, die er alle als spezifische Konflikte oder Krisen charakterisiert“:[1]
(1) Oral-sensorische Phase: Vertrauen versus Misstrauen
(2) Muskulär- anale Phase: Autonomie versus Selbstzweifel
(3) Lokomotorisch-genitale Phase: Initiative versus Schuld
(4) Latenzphase: Kompetenz versus Minderwertigkeit
(5) Pubertät und Adoleszenz: Identität versus Rollenkonfusion
(6) Frühes Erwachsenenalter: Intimität versus Isolierung
(7) Erwachsenenalter: Generativität versus Stagnation
(8) Reife: Ich-Integrität versus Verzweiflung
Diese Arbeit bezieht sich auf Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter, deshalb werde ich im folgenden Text nur die ersten fünf Entwicklungsphasen näher erläutern.
Diese Stufe hat eine Spanne von der Geburt bis circa zum 2. Lebensjahr. Erikson umschreibt diese Phase als das psychosoziale Kernproblem der Persönlichkeitsentwicklung und sieht das Kind hierbei als besonders gefährdet an. Der Mensch benötigt eine gewisse Verhaltenslenkung. Er ist erziehungs- und bildungsbedürftig. Bis eine relative Selbständigkeit erreicht ist, bedarf es einer intensiven Hilfe, Fürsorge und Pflege.
Hauptaugenmerk in der ersten Stufe liegt auf der Entwicklung eines Urvertrauens. Durch die Interaktion mit seinen Bezugspersonen wird ein Urvertrauen zur Umgebung gebildet. Dieses Vertrauen stellt sich ganz natürlich ein, wenn eine starke und stabile Bindung zu den Eltern besteht, welche das Kind mit Nahrung, Wärme und körperlicher Nähe und Geborgenheit versorgen. Ein Kind jedoch, dessen Grundbedürfnisse nicht befriedigt werden, das erlebt, dass man sich nur gelegentlich mit ihm beschäftigt, dem Körperkontakt und Nähe vorenthalten werden und dessen erwachsene Bezugsperson häufig nicht vorhanden ist, entwickelt möglicherweise ein grundlegendes Misstrauen, ein Gefühl der Unsicherheit und Angst. Die ergänzenden Ausführungen werden dies weiter verdeutlichen.
In dieser ersten Stufe sind die Wahrnehmungen und die Empfindungen des Kindes auf sich (das Körperinnere) bezogen. Es sollten Umweltreize auf den Säugling einströmen, damit diese Selbstisolation verloren geht. Vor allem von der Bezugsperson werden soziale Verhaltensweisen gefordert, die zur Befriedigung der Bedürfnisse beitragen. Darunter zählen zum Beispiel die biologische und hygienische Versorgung (Ernährung, Windeln). Die Reize sollten kontinuierlich und angepasst dosiert sein. Neben diesen rein psychischen Zuwendung brauchen wir aber auch Emotionen, um das Urvertrauen aufzubauen.
Nach einem Zitat von Spitz ist der Mensch ein „Sozialwesen“, das sich nur im Kontakt zu anderen Menschen gesund entwickeln kann. Das Kind fühlt sich nur wohl, wenn es von seiner Umwelt Liebe, Zuwendung, Bestätigung und Ermutigung erfährt. Ihm wird ermöglicht, Vertrauen zu einer Person aufzubauen, was für die weitere Entwicklung und die Ich-Stabilität von großer Wichtigkeit ist. Dieses Urvertrauen gibt dem Kind die Möglichkeit, zu sich, anderen Personen und seiner Umwelt eine positive Einstellung zu entwickeln und sich mit Unbekanntem auseinanderzusetzen. Dieses Gefühl ist gleichzusetzen mit einer geordneten und vorhersehbaren Umwelt. Werden die Bedürfnisse des Kindes nicht in ausreichendem Maße befriedigt, fehlen positive Entwicklungsvoraussetzungen, sind der Sozialisationsprozess sowie die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes gefährdet. Dadurch kann es zur Ausbildung eines Urmisstrauens kommen, was folglich mit einer negativen Einstellung zu sich selbst, aber auch zu anderen Personen sowie der Umwelt einhergeht. Die Auseinandersetzung mit unbekannten Personen und Dingen wird behindert, was zur Folge hat, dass sich das Kind vor Neuem und Unbekanntem verschließt.[2] Es ist somit nicht für die Herausforderungen der nächsten Phasen gerüstet.
Nach Aussagen von Erikson führt das Fehlen des Urvertrauens zu Entwicklungsbeeinträchtigungen.[3] Einschneidende negative Erfahrungen mit primären Bezugspersonen und traumatische Lebensereignisse in diesem frühen Stadium ziehen in der Regel besonders schwerwiegende Persönlichkeitsstörungen nach sich. Folgeerscheinungen bei fehlender Zuneigung können sensorische Deprivationen sein, welche primär auf mangelnde emotionale Zuwendung, stereotype Umwelt und das Fehlen von Spielsachen zurückzuführen sind.[4] Als Folge sind vor allem negative Verhaltensäußerungen, geringe Kontaktaufnahme bis hin zur Kontaktverweigerung, Regression, als auch Ängste und Aggressionen zu beobachten. Nach Erikson muss das Kind eine gute Balance zwischen Vertrauen und Misstrauen aufbauen. Das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Zuneigung seiner Bezugsperson lässt das Kind zu einer starken Persönlichkeit heranwachsen. Es gewinnt Selbstvertrauen und Sicherheit zu sich und anderen Personen. Kleinkinder mit gesundem Urvertrauen zeigen weder Ernährungsstörungen noch Schlafschwierigkeiten.[5] Für das Kind ist es aber auch von Vorteil, wenn es ein gewisses Maß an Misstrauen, im Sinne von Vorsicht, behält. Denn damit ist das Kind befähigt, Gefahren zu erkennen und sich gegenüber nicht vertrauenswürdigen Menschen angepasst zu verhalten.[6]
Wenn das Kind zu laufen und sprechen beginnt, erweitern sich die Möglichkeiten des Kindes, Gegenstände zu erforschen und zu manipulieren. In dieser Phase wird das Kind fähig, sich selbst zu kontrollieren und erlernt eine gewisse Unabhängigkeit. Diese Aktivitäten sollten von einem Gefühl der Autonomie und des Anerkanntseins als fähige und wertvolle Person begleitet sein. Übertriebene Kontrolle oder Kritik auf dieser Stufe können dazu führen, dass stattdessen Selbstzweifel entstehen. Bei Überbehütung oder mangelnder Fürsorge kehrt sich nach Erikson der „Erkenntnis- und Forscherdrang des Kindes gegen sich selbst“, primär dann, wenn das Urvertrauen geschwächt wird. Resultat ist möglicherweise die Entwicklung eines „frühreifen Gewissens“, das heißt, eine übermäßige Selbstbezogenheit mit dem Versuch, die Umgebung auf sich zu lenken und durch „eigensinnige Forderungen Macht ausüben“.[7]
Werden die Fähigkeiten des Kindes überfordert, wie im Falle einer zu frühen oder zu strengen Sauberkeitserziehung, so fehlt ihm dadurch der Mut, seine Anstrengung beim Bewältigen neuer Aufgaben aufrechtzuerhalten. Es kann durch solche Überforderungen auch zu wilden Szenen der Konfrontation kommen, welche die enge und schützende Eltern- Kind- Beziehung zerstören, die das Kind braucht, um Risiken eingehen und neue Herausforderungen annehmen zu können. Ein Zweijähriger, der darauf besteht, dass ein bestimmtes Ritual vollzogen wird oder der das Recht verlangt, irgendetwas ohne Hilfe tun zu dürfen, handelt aus einem Bedürfnis heraus, seine Autonomie und seine Selbständigkeit im Handeln zu bestätigen.
Gegen Ende der Vorschulzeit ist aus einem Kind, das zunächst zur unmittelbaren Umgebung und dann zu sich selbst ein Urvertrauen entwickeln konnte, eine Person geworden, die nun sowohl intellektuelle als auch körperliche Aktivitäten initiieren kann. Die Eltern nehmen in dieser Phase eine sehr wichtige Rolle ein. Die Reaktionen der Eltern auf die Aktivitäten, die das Kind von sich aus unternimmt,...