Tinbergens vier Fragen und das Gerüst der Verhaltensbiologie
Verhalten zu definieren mag trivial erscheinen, Kappeler (2006) zitiert einige Versuche dazu, am besten finde ich noch Folgendes: „Verhalten ist das, was tote Tiere nicht mehr tun.“
Weniger leicht zu umreißen ist, was die Verhaltensbiologie oder Ethologie tut. Denn es gibt eine ganze Reihe von Wissenschaften, von der Psychiatrie bis zur Soziologie, die sich auch mit dem Thema Verhalten beschäftigen. Das spezifisch Biologische an der Ethologie muss also schon genauer beschrieben werden. Richtungsweisend dafür war eine Arbeit von Nico Tinbergen (1963), in der er erstmals seine inzwischen sehr berühmt gewordenen vier Fragen als Forschungsrahmen der Verhaltensbiologie aufstellte.
| Erst wenn alle vier Fragen von Tinbergen für ein Merkmal, sei es Verhalten, Organ oder Aussehen eines Tieres beantwortet sind, könnte man dieses als erklärt betrachten. |
Verfahren zur Überprüfung eines Verhaltens
Beschreibung eines Phänomens
Vorausgehen muss jedoch eine ganze Menge Vorarbeit: Zunächst gilt es, das zu erklärende Phänomen exakt und umfassend und so interpretationsarm wie möglich zu beschreiben. Diese Beschreibung ist eine notwendige Voraussetzung für die wissenschaftliche Erklärung, aber nur durch Beschreiben und Begriffsbildung allein ist überhaupt nichts erreicht.
Aufstellen von Hypothesen
Hat man das Phänomen, etwa ein bestimmtes Verhalten („männliche Hunde heben zum Pinkeln meist das Bein, weibliche selten“), exakt beschrieben (das heißt, wie genau tun beide Geschlechter das), dann geht es darum, testbare Hypothesen aufzustellen, also Erklärungsversuche, die überprüfbar sind. Auch das Aufstellen von Hypothesen und Spekulationen ist noch keine Wissenschaft, behaupten lässt sich schließlich viel.
Eine gute Hypothese muss daher mehrere Anforderungen erfüllen:
▶ Sie muss allgemeingültig für das zu erklärende Phänomen sein,
▶ sie muss testbar sein,
▶ sie muss einen biologischen Sinn ergeben,
▶ sie muss eine Gegenhypothese haben, das heißt, es muss möglich sein, durch die folgende Datensammlung zwischen ihr und einer alternativen Erklärungsmöglichkeit zu unterscheiden.
Aufstellen von Alternativ- bzw. Nullhypothesen
Meist stellt man seine Hypothese, die oft als H1 bezeichnet wird, einer Alternativhypothese H2 gegenüber, die ein anderes Erklärungsmodell zur Grundlage hat oder eine Nullhypothese H0, die besagt, dass der behauptete Effekt keinen erkennbaren Einfluss im Sinne meines Überlegens auf das zu erklärende Phänomen hat.
Versuche, Langzeitbeobachtungen und Experimente
Hat man die Hypothesen testbar gemacht, geht es an die Überprüfung durch systematische und unabhängige Datensammlung, sei es durch Versuche, Langzeitbeobachtungen oder Experimente.
Am Ende steht die Annahme oder Zurückweisung beziehungsweise Nichtbestätigung der Hypothese(n). Erst dann, wenn die Hypothesen zweifelsfrei bestätigt werden, kann man die Sache als in diesem Aspekt erklärt betrachten.
Das Sparsamkeitsprinzip
Zu diesem gängigen wissenschaftlichen Standardverfahren gehören noch einige weitere einschränkende Aspekte. So ist es ein seit Jahrhunderten gepflogenes Verfahren, das sogenannte „Sparsamkeitsprinzip“ oder „Prinzip der sparsamsten Erschließung“ walten zu lassen. Dieses besagt, dass im Zweifelsfall von mehreren alternativen Erklärungen diejenige zu bevorzugen ist, die mit den wenigsten (vor allem den wenigsten derzeit nicht testbaren) Hilfsmaßnahmen auskommt. Dies gilt zum Beispiel für die Annahme sogenannter höherer geistiger Leistung als Erfolg. Außerdem ist, und das gilt für die Verhaltensbiologie ganz besonders, die Biologie in weiteren Bereichen eine sogenannte probabilistische Wissenschaft, also eine, die mit Wahrscheinlichkeiten arbeiten muss, im Gegensatz etwa zur klassischen Physik, deren Ergebnisse als Naturgesetze von Zeit und Raum unabhängig sind. Zwar folgen auch Lebewesen den Naturgesetzen, aber durch die biologiespezifischen Einflüsse der Vorgeschichte jeden Tieres einerseits und der hierarchischen Organisation und Wechselwirkungen (zwischen Zellen, von Zellen zu Organen, von Organen zu Organkomplexen, zu ganzen Tieren, die wieder in ein Sozialsystem, dann eine Population und schließlich ein Ökosystem eingebunden sind) andererseits, kommt es eben hier zu mehr Variabilität. Deshalb sind die Aussagen der Verhaltensbiologie grundsätzlich nur mithilfe analysierend-schließender Statistik zu überprüfen und dazu bedarf es vor allem größerer Datenmengen. Wer sich genauer zu diesen wissenschaftstheoretischen Aspekten und dem methodischen Vorgehen informieren will, dem sei hier Lamprecht (1999) zur Methodik und Mayr (2000) empfohlen. Ich habe diese Zusammenhänge als kleinen Umweg an den Anfang des Kapitels gestellt, weil gerade im Bereich des Hundeverhaltens viele sogenannte Erklärungen und Konzepte, meist in Buchform und auf Vorträgen, mit viel Erfolg verkauft und angeboten werden, die diesen simplen Anforderungen einer wissenschaftlichen Arbeit überhaupt nicht gerecht werden.
Beschreibung von Verhalten
Schon die Beschreibung des Verhaltens ist ausgesprochen schwierig, wenn man es wirklich exakt definieren will. Das sichtbare Verhalten sollte in messbare Einheiten zerlegt werden. Es ist nicht nur die Struktur jedes Verhaltens zu erfassen, sondern auch die Latenz (Zeitabstand zu vorigem Verhalten des äußeren Ereignisses), die Dauer, die Häufigkeit und wenn möglich die Intensität (Kappeler 2006, Wehnelts Beyer 2002). Und schließlich gibt es, sobald man diese Beschreibungen für jedes erkennbare Verhalten erstellt hat, verschiedene Aufzeichnungsmethoden.
| Elemente sollten bei Beschreibungen immer neutral sein („Kopf hoch bei gespitzten Ohren“), nicht interpretierend („Überlegenheitsgeste“). |
Erst wenn zum Beispiel die Statistik zeigt, dass mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Hund B, nachdem Hund A dieses Verhalten gezeigt hat, jenen Platz verlassen oder sonstige seiner eigenen Interessen nicht ausüben wird, darf man festlegen, dass dieses Verhalten die Überlegenheit von A auszudrücken scheint, der statistische Wahrscheinlichkeitswert sowie die Stichprobe, also auf wie viel Beobachtungen meine Aussage beruht, sollte angegeben sein! Ich überlasse es den Lesern, mithilfe dieser Qualitätskriterien die einschlägigen Hundeverhaltenstheorien genau zu überprüfen.
Tinbergens vier berühmte Fragen
Die ersten beiden der vier Fragen von Nico Tinbergen befassen sich mehr mit den geschichtlichen beziehungsweise mit den evolutionsbiologischen Aspekten.
Frage drei und vier befassen sich mit den Mechanismen, die das Verhalten steuern.
Frage 1 – „Woher?“
Die erste Frage ist die nach dem stammesgeschichtlichen „Woher?“ In diesem Verfahren wird untersucht, wie sich das betreffende Merkmal, zum Beispiel eben ein Verhaltenskomplex, von den Vorfahren der betreffenden Art her weiterentwickelt hat und welche gemeinsamen Vorstufen dieses Verhalten im Laufe der stammesgeschichtlichen Entwicklung von unseren heute zu betrachtenden Tieren angenommen hat.
Diese Frage nach dem stammesgeschichtlichen „Woher?“ ist zugegebenermaßen für Verhaltensmerkmale schwerer zu beantworten als beispielsweise für Organe oder andere Merkmale des äußeren Aussehens. Schließlich lassen sich Verhaltensmerkmale nur in seltenen Fällen als Fossilien finden.
Die Homologiemethode
In der Biologie gibt es eine ebenso erprobte und akzeptierte Methode, wie man stammesgeschichtliche Vergleiche anstellen kann, nämlich die sogenannte Homologiemethode. Hierbei werden die Ausprägungen bestimmter Merkmale bei nahe verwandten Arten verglichen. Aus den Gemeinsamkeiten beziehungsweise Unterschieden dieses betreffenden Merkmals bei den verwandten Arten wird auf die wahrscheinlichen Vorstufen bei den Vorfahren und im Laufe der Stammesgeschichte zurückgeschlossen. Mit diesem Verfahren kann man zum Beispiel Lautgebungen oder komplexe Verhaltensmuster des Werbeverhaltens oder Drohverhaltens, aber auch Bewegungsmuster in anderen Zusammenhängen vergleichen. Wenn wir diese Methode auf das Verhalten der Hundeartigen anwenden, so stellen wir beispielsweise fest, dass innerhalb der Untergruppe der Wolfsartigen (Canini) das Hervorwürgen von Nahrung an die Jungtiere entstanden ist, während die Füchse (Vulpini) dieses Verhalten nicht zeigen. So kann auf eine Trennung der beiden großen Entwicklungslinien vor dem stammesgeschichtlichen Entstehen dieses Futterhochwürgeverhalten geschlossen werden (s. Gansloßer 2006).
Frage 2 – „Wozu?“
Die zweite Frage ist derzeit in der Verhaltensbiologie ganz besonders interessant, nämlich die Frage nach dem „Wozu?“ Hier wird letzten Endes nach der Bedeutung des betreffenden Merkmals für den Fortpflanzungserfolg gefragt, denn nur der Fortpflanzungserfolg zählt als Erfolgskontrolle der evolutionsbiologischen Prozesse. Die dabei stattfindenden Prozesse führen im Laufe vieler Generationen zu einer zunehmend besseren Anpassung einer Art an ihren jeweiligen Lebensraum.
Individualselektion
Diejenigen Mitglieder der Art, die besonders gut mit den vorhandenen Umweltbedingungen klarkommen, werden durchschnittlich mehr Nachkommen in die...