Der ausgebrannte Stern
Der Mythos
vom richtigen Partner
Anfang 2010 heiratete ich den Mann, den ich eigentlich verlassen wollte.
»Es ist amtlich«, sagte Kevin, als er von der Arbeit nach Hause kam und eine Mappe auf das Kaffeetischchen neben mir warf. »In den Augen der kanadischen Regierung sind wir jetzt Mann und Frau.«
In der Mappe befand sich ein Dokument zum Eintrag unserer Lebensgemeinschaft, eines von vielen Papieren, das wir für den Antrag auf einen festen Wohnsitz in Kanada benötigten.
»Okay«, antwortete ich ohne aufzublicken. »Vielleicht sollten wir das feiern.«
Aber mir war nicht nach Feiern zumute.
Wortlos ging Kevin in die Küche.
Es war Mitte Februar, ich unterrichtete vier Kurse an der Uni, das heißt ich musste vier Unterrichtseinheiten vorbereiten – und vier Stapel Aufsätze korrigieren. Ich las die Aufsätze schon morgens am Kaffeetisch und abends schlief ich über ihnen ein.
Ich war so dankbar gewesen, dass Kevin den Papierkram für unsere dauerhafte Aufenthaltserlaubnis übernommen und all die Formulare mit ihren winzigen Kästchen ausgefüllt hatte. Eigentlich hätte ich ihm auch jetzt dankbar sein sollen, und eigentlich wollte ich das auch – aber ich starrte nur mit leerem Blick auf unsere beiden Unterschriften auf dem Schriftstück neben mir. Mit dem Finger strich ich über den Prägestempel. Nun konnten wir eine gemeinsame Steuererklärung abgeben, und wenn einer von uns beiden im Koma lag, konnte der andere das Beatmungsgerät abschalten lassen. Nach neun gemeinsamen Jahren war es doch fast logisch, das zu dürfen. Aber die Ironie des Zeitpunkts entging uns beiden nicht: Wir überlegten seit Wochen, ob wir uns trennen sollten.
Mein Vater hatte Recht gehabt: Es sind die kleinen Dinge, die ein Paar zusammenhalten. Wir waren weiterhin zusammen, um nicht noch mehr Anträge ausfüllen zu müssen und nicht zwei weitere Jahre auf unsere Einbürgerung zu warten.
Wenn mich jemand gefragt hätte, dann hätte ich gar nicht so genau sagen können, was mit unserer Beziehung nicht in Ordnung war. Wir hatten uns schon immer mal gestritten. Doch diesmal war es anders. Es herrschte eine anhaltende Sprachlosigkeit zwischen uns, so als ob unsere Beziehung krank geworden wäre. Und diese Krankheit schien ansteckend zu sein.
Als ich mitten in der Nacht hustend aufwachte, musste ich an meine Ärztin denken. Sie hatte mir mal gesagt, dass die Lunge und die Atemwege immer die ersten Organe seien, die vom Dauerstress in Mitleidenschaft gezogen wurden. Ich hatte ihr das nicht geglaubt, aber vielleicht hatte sie ja Recht.
Kevin rollte sich zu mir herüber, während das Bett unter meinen Hustenanfällen bebte. Er schob sich an mich heran, legte ein Bein über meine Oberschenkel und einen Arm über meinen Brustkorb. »Besser?«, murmelte er. Im Halbschlaf wollte er offenbar mit seinem Körpergewicht den Husten in meinem Körper zurückhalten. Meine Atmung wurde ruhiger und mein Zwerchfell entspannte sich. Ja, besser!
Selbst nach einem Tag nervigen Anschweigens war Kevin in der Lage, die Symptome meiner Erkältung zu lindern. Eine Woche zuvor hatte ich auf dem Boden eines Buchladens gesessen und in Die sieben Geheimnisse einer glücklichen Ehe des Psychologen John Gottman geblättert; dort hatte ich gelesen, dass sich die Partner in Langzeitbeziehungen wechselseitig körperlich beeinflussen und sogar das Immunsystem und die Pulsfrequenz des anderen in positiver Weise regulieren können. Aber ich hatte auch gelesen, dass Menschen in Beziehungen, in denen ihre Bedürfnisse nicht befriedigt werden, unter körperlichem und emotionalem Dauerstress litten, der das Immunsystem schwächt.1 War es das, was uns gerade passierte?
Ich überlegte, wie lange es her war, dass ich zum letzten Mal seinen Körper neben meinem gespürt hatte. Mindestens vier oder fünf Tage. Vor Jahren hatte ich auch schon Husten gehabt – den schlimmsten meines Lebens. Eine Woche lang war ich durch die Hustenanfälle mitten in der Nacht aufgewacht, ein unerträgliches Brennen tief in den Lungen. Anfangs war Kevin auch hellwach, besorgt wegen der krampfartigen Zuckungen meines Körpers. Nachdem er sich daran gewöhnt hatte, drehte er sich einfach zu mir um und rieb mir im Halbschlaf den Rücken. »Du musst zum Arzt«, murmelte er zwischen meinen Hustenanfällen.
Damals hatten wir getrennte Wohnungen, aber wir verbrachten jede Nacht zusammen. Auch wenn ich krank war, und auch wenn wir einfach nur nebeneinander schliefen. Ich kam nachts gegen halb zwölf Uhr von meinem Abendkurs nach Hause, warf meine Tasche auf mein Bett und radelte den Hügel hinunter zu ihm. Leise schloss ich die Tür auf, schlich auf Zehenspitzen in sein Schlafzimmer und schlüpfte neben ihm unter die Decke. Morgens wachte ich meistens vor Sonnenaufgang auf, zog mich an und radelte zu dem kleinen Café am Capitol Hill, in dem ich arbeitete. Dafür, dass ich ein paar Stunden im Dunkeln seinen Körper neben meinem spüren konnte, nahm ich diese kleinen Umwege gern auf mich.
Schon damals habe ich mich oft gefragt, ob es noch etwas anderes gab, das ich so sehr liebte wie ich seine Haut liebte, die Art und Weise, wie sie seine Muskeln und Knochen umschloss, die weiche Stelle zwischen seinen Schulterblättern, auf die ich jede Nacht beim Einschlafen meine Lippen drückte. So hatte ich mich in der Universität in ihn verliebt, als wir Bauch an Rücken schliefen, mein Gesicht an seinen Nacken geschmiegt, als der Tag nur eine Leerstelle war zwischen zwei Nächten.
Doch inzwischen war ich 29 und dachte daran, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Und ich wusste nicht, ob ich all das mit diesem Mann wollte, in den ich mich in der Universität verliebt hatte.
Ich hatte keine Ahnung, woher ich die Antwort auf diese Frage nehmen sollte.
Natürlich kann man sich mit zwanzig in einen Menschen verlieben, ohne gleich ein ganzes Leben mit ihm verbringen zu wollen. Anders als Kevin und ich hatten die meisten unserer Freunde ihre Beziehungen aus Studientagen längst hinter sich gelassen. Mit zwanzig war ich davon ausgegangen, dass auch wir nicht zusammenbleiben würden. Und nachdem sich ein paar Jahre zuvor meine Eltern getrennt hatten, wusste ich inzwischen, dass man durchaus ein halbes Leben mit einem Menschen verbringen kann – und einem die Liebe trotzdem einfach abhanden kommt.
Allerdings hatte ich nie gedacht, jemanden auf eine so seltsame Art lieben zu können, wie ich Kevin liebte – jeden Abend neben ihm einschlafen und jeden Morgen neben ihm aufwachen zu wollen, und trotzdem nicht zu wissen, ob ich den Rest des Lebens mit ihm verbringen möchte oder nicht.
Kevin wollte keine Kinder. Er hatte auch keine Lust zu heiraten, obwohl er nichts gegen eine feste Beziehung hatte. Wenn der Konflikt so einfach gewesen wäre – ich will Trauschein und Familie, er nicht –, dann hätten wir vielleicht eine Lösung gefunden. Vielleicht war mir das mit den Kindern ja sowieso nicht so wichtig, dachte ich manchmal. Vielleicht wollte ich lediglich die Möglichkeit haben. In jedem Fall wollte ich mit ihm eine Unterhaltung darüber führen können, die nicht sicher im Streit endete. Ich hatte das Gefühl, dass wir nur unsere anderen Probleme in den Griff bekommen mussten, um dann auch vernünftig über Heirat und Kinder sprechen zu können. Aber was waren unsere anderen Probleme genau?
Weil ich eine Knieverletzung hatte, blieb ich in diesem Winter oft zu Hause, während Kevin mit Freunden zum Skitourengehen in die Berge fuhr. Ich verbrachte die Wochenenden damit, den offenen Kamin unserer zugigen Wohnung in Vancouver mit Eierkartons zu füttern, den Hund Gassi zu führen und Aufsätze zu korrigieren.
Während meine Welt immer kleiner wurde, wurde seine Welt in den Bergen von British Columbia immer weiter. Am Abend vor einem Skiausflug in den Pulverschnee war er aufgedreht und konnte kaum schlafen. Noch nie hat mich die Begeisterung eines anderen Menschen so einsam gemacht. Es kam mir zu egoistisch vor, darauf zu hoffen, dass er meinetwegen zuhause bleiben würde, also sagte ich erst gar nichts. Stattdessen buchte ich mit Freunden eine Woche Urlaub in Costa Rica. Während ich weg war, rief ich ihn kein einziges Mal an, und ich schrieb auch keine Mails. Er sollte sich so fühlen, wie ich mich gefühlt hatte: Er sollte wissen, dass ich Spaß hatte, ohne eine klare Vorstellung davon zu haben, wie ich meine Tage verbrachte.
Unsere Liebe hatte als Fernbeziehung begonnen, und damals hatte ich keinen sehnlicheren Wunsch, als meine Tage mit ihm zu verbringen. Jetzt führten wir dieses Leben – und mir kam es vor, als ob ich einen Vertrag mit der Liebe unterschrieben hatte, aus dem ich nicht mehr herauskam. Trotz aller Entfremdung fühlte ich mich noch immer durch diese Sehnsucht an Kevin gebunden – die Liebe. Noch immer wünschte ich mir seine Gesellschaft, seine Aufmerksamkeit, seine Haut. Es wäre einfacher gewesen, wenn einer von uns beiden einfach aufgehört hätte, den anderen zu lieben.
»Wenn du ältere Paare siehst, denkst du dann an dich und Kevin?«, fragte meine Freundin Liz eines Tages. Es war ein Sonntagnachmittag, wir waren auf der Suche nach ihrem Brautkleid, und gerade war ein älteres Ehepaar Hand in Hand an uns vorübergegangen.
»Nein«, erwiderte ich aufrichtig. »Ich denke nicht an uns, wenn ich händchenhaltende Achtzigjährige sehe.« Ganz abgesehen davon glaubte ich, dass diese Paare mindestens in zweiter oder dritter Ehe verheiratet waren. Doch dann ruderte ich zurück. »Ich denke nicht, dass Kevin für mich der einzige Mann auf der Welt ist. Aber ich habe das Gefühl, dass er zu mir...