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E-Book

Verloren im Paradies

Ein Verlegerleben

AutorElmar Faber
VerlagAufbau Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl398 Seiten
ISBN9783841207418
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Deutsche Literatur- und Verlagsgeschichte Vom Nachklang der Weimarer Republik bis in die Jetztzeit -- Der Lebensbericht eines herausragenden deutschen Verlegers erfasst mit immer auch politischem Blick einen dramatischen Abschnitt deutscher Geschichte. Elmar Faber zieht Bilanz: Ein verwechselbarer Blick auf fast ein dreiviertel Jahrhundert deutscher Geistesgeschichte. Ein Leben zwischen den Untergängen könnte man die Erinnerungen des deutsch-deutschen Verlegers Elmar Faber nennen: von den Trümmern Weimars über den Zusammenbruch 1945 bis zum Ende der DDR 1990. Doch hier wird nichts betrauert, sondern mit luzider Heiterkeit über ein immer auch politisches Leben berichtet, das sich nie irgendeiner allgemein verbreiteten Meinung andiente. Sein Engagement galt den Autoren der DDR - die meisten kannte er persönlich, viele verlegte er selbst bis vor wenigen Jahren, darunter Christoph Hein, Christa Wolf, Erwin Strittmatter, Wolfgang Hilbig, Heiner Müller. Seine Autobiographie fügt sich in die Reihe der Memoiren von Hans Mayer bis Marcel Reich-Ranicki - sie vervollständigt den Blick auf deutsches Kulturleben der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Elmar Faber, geboren 1934 in Thüringen, studierte in Leipzig Germanistik, war von 1959-1968 Redakteur, später Chefredakteur einer wissenschaftlichen Zeitschrift, seit 1968 Verlagslektor, seit 1970 Programmchef, seit 1975 Verleger von EDITION LEIPZIG, Verlag für Kunst und Wissenschaft. Von 1983 bis 1992 war er Verleger des Aufbau-Verlags und gründete 1991 seinen eigenen Verlag Faber & Faber.

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Leseprobe

1


»Dorf am Abgrund. Ein Dokument deutscher Not aus dem Jahre 1932«, so betitelte der Weltspiegel der New York Times am 9. Oktober 1932 in einem Thüringer Sonderbericht ein Panorama des Elends in dem kleinen Glasbläser- und Waldarbeiterdorf Deesbach im Thüringer Wald. Bilder zeigten einen »Marsch des Elends«, Ährenleserinnen mit ihren kärglichen Tageserträgen, den Gemeindevorsteher bei der Ausgabe von Bettelscheinen, eine Mutter von 23 Jahren, die wie fünfzig aussah, tief zerfurcht im Gesicht und voller Angst vor dem kommenden Winter.

In dieses Dorf wurde ich hineingeboren, am Ostersonntag 1934, als die Nazis die Not umgestülpt hatten in eine Verheißung, die Bettler jetzt Straßen bauten, die Mütter nun »deutsche Mütter« hießen und in einem Gefängnis am Nordrand des Thüringer Schiefergebirges meine Großmutter für ein paar Wochen einsaß. Es hieß, sie hätte ein loses Maul gehabt und sie hätte an ein Fabriktor eine fatale Losung gepinselt.

Vieles habe ich seitdem von der Welt gesehen. Ich bestaunte die Große Chinesische Mauer und den Eiffelturm in Paris, spazierte über die Golden Gate Bridge in San Francisco, der Kreml in Moskau erinnerte mich an die Macht der russischen Großfürsten und Zaren, ich durchstreifte die ukrainischen Birkenwälder, die Heidel- und Preiselbeerhänge Mittelschwedens, badete im Schwarzen Meer, überflog das kanadische Felsengebirge, ich hörte die Glocken des Petersdoms schlagen und die Rufe der Muezzins verhallen, ich bin über die Katalaunischen Felder gelaufen und über die dürren Grassteppen der ungarischen Puszta. Ich habe in den traumhaften Fjorden Norwegens gekreuzt. Mein Gott, die Welt war schön, aber was konnte sie aufwiegen gegen diesen winzigen Punkt der Erde, in dem mein ganzes Leben steckte, dieses kleine Dorf im Thüringer Wald, das in den letzten Hungerjahren der Weimarer Republik am Abgrund gestanden hatte.

In großen Kolonnen zogen Wolken über das Land, türmten Berge auf, schnöselige Hügel zuerst, dann ganze Felsenketten. Ein schlechtgelaunter Wind zerzauste die kunstvollen Bauwerke, zerfetzte Fassaden, Erker und Mansarden, schlug Krater in die porösen Schlösser aus Wasser und Eis. Der Regen zertrümmerte die Schwüle, zerstampfte sie zu kühlen Temperaturen. Wie Kristalle schlugen die Tropfen auf Dächer und Pflaster. Von den Berghängen rauschten die Wasser ins Tal. In den Mulden gurgelte und brodelte es wie in Hexenkesseln. Am Glasbläsertisch donnerte Großvater eine wetterharte Ballade in die Flamme, daß einem Hören und Sehen verging, als Gleichnis für Wasser, Wellen, Geister und Gespenster und bekundete damit seine Teilhabe an der verrückten Welt.

So war es immer. Für jedes Wetter, jede Jahreszeit, jedes sich wandelnde Bild der Natur hatten die Alten, Großvater und Großmutter, die Strophe eines Gedichtes in den Schubladen ihres Gedächtnisses, das sich fortpflanzte auf die folgende Generation und wieder Samen legte ins jüngste, ins kommende Geschlecht. Vom »Frühling läßt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte« über »Es wallt das Korn weit in die Runde und wie ein Meer dehnt es sich aus« oder »Es war, als hätt’ der Himmel die Erde still geküßt« sprangen die meist romantischen Verse bis in den Herbst und den Winter, bis zum »Herbsttag, wie ich keinen sah«, bis zu Knecht Ruprecht und dem Lied, hinterm Ofen zu singen: »Der Winter ist ein rechter Mann, kernfest und auf die Dauer«. Eingebettet alles in einen Strom von poetischen Bildern, die abgerufen wurden, wenn es an der Zeit oder wenn Not am Manne war, und die den heranwachsenden Knaben erstaunten, ins Grübeln brachten oder Angst einflößten, so daß er sich lange an der Schürze der Großmutter festhielt, wenn ein Gewitter heranzog oder aus dem Talkessel nicht herauskam, weil er an das schauerliche Geschehen denken mußte von »Urahne, Großmutter, Mutter und Kind in dumpfer Stube beisammen sind«, die dort alle vom Blitz niedergestreckt werden.

Es war die Großmutter, die den Kindern, den Enkeln, die Lichter aufsteckte. In den Wintermonaten, wenn die Dämmerung hereinbrach, schichtete sie einen Stapel Bücher, Kalender und Familienblätter hin und her und las Geschichten vor. Aus Grimms Märchen, den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht, Reisenotizen von Sven Hedin und Karl May, Wirkliches und Erfundenes dieser und anderer Globetrotter, Protziges aus der Thüringer Sagenwelt, Schauergeschichten von Goethes Schwager Vulpius, dem Erfinder des Räuberhauptmanns Rinaldo Rinaldini. Wir lauschten den Kalendergeschichten von Johann Peter Hebel mit dem leicht erhobenen christlichen Zeigefinger. Die Fabeln von Lafontaine dagegen hatten eine eiserne Moral. Verzückt beugten wir uns über Friedrich Justin Bertuchs Bilderbuch für Kinder, von dem einige Bände auf nicht aufklärbare Weise in den Glasbläserhaushalt gelangt waren. Auf elysischen Streifzügen wanderten wir damit durch die Kontinente. Die Kinderenzyklopädie der Goethezeit, wahrscheinlich ein Unikum der Bücherwelt jener Tage, sammelte alles Wissenswerte über Mensch, Getier und Pflanzenwelt und beflügelte unsere Phantasie.

Die Bücher- und Blättersammlung der Großmutter war keine erlesene Bibliothek. Die gebundenen Bücher hielt ein einziges Regal zusammen, unsortiert, in einem Raum des langgestreckten Schieferhauses, der »die Vorratskammer« hieß. Eigentümlich war es, daß man die bedruckten Papiere streng auseinanderhielt. Im Regal die Festeinbände. Das war »die Dichtung«, sagte Großmutter. Das andere, die Hefte, Kalender, die alten Zeitungen und Zeitschriften, hieß »der Papierkram«. Der wurde zusammengerollt und mit Stoffbändern zusammengeschnürt. Diese Bündel kamen in ein Holzfaß, wie zu Gutenbergs Zeiten, als die ungebundenen Bücherlagen in Holzfässern auf die Jahrmärkte und Warenmessen transportiert wurden. Es hat Jahre gegeben, wo neben dem Papierfaß ein Faß mit Geselchtem stand, ein Faß mit Gurken oder Sauerkraut. Vorratskammer eben, Lebensnotwendiges. Vornehm war das nicht, aber fürsorglich. Nobel behandelt im Haus wurden nur die Bibel, von Luther übersetzt, der Katechismus, das kirchliche Gesangbuch, vor allem aber die Kräuterbücher und Rezeptsammlungen aus alter Zeit. Die standen in der guten Stube in einer kleinen Vitrine oder auf dem Spiegeltisch neben dem Kanapee. Diese Bücher waren ein Vermächtnis, und so wurden sie auch behandelt, als Solitäre. Als Kind durfte man sie nur unter Aufsicht anfassen. Sie waren Erbstücke des Urgroßvaters, eines Zimmermanns, der in den langen arbeitslosen Wintermonaten sein Handwerk vertauschte und sich als dilettierender, aber beschlagener Heilkundler einen Namen machte. Er konnte Erstickte wieder zum Leben erwecken, Erfrorene mit ausgeklügelten Abreibungen vor Amputationen bewahren. Er kannte die Geheimnisse der Pflanzen, den Zauber der Kräuter, die Wunderwirkung der Tees und die Giftküchen in der Natur. Er konnte Liköre und Arrake und andere Getränke aus ätherischen Ölen und Essenzen herstellen. Ein wundersamer Mann, dem freilich einmal ein Malheur passierte, als ihm ein paar Tollkirschen in einen Schlehenwein hineingerieten und die stillen Zecher fast daran krepiert wären. Jedenfalls warf dieser Urgroßvater lange Schatten in mein Elternhaus, so daß nicht nur sein Büchervermächtnis auf feinen Borden stand, sondern auch die Pflanzen- und Kräuterliebe sich in Generationen fortpflanzte wie ein heiliges Feuer. Die Apotheke der Natur überträfe alle Weisheit der Menschen, zitierte man den alten Paracelsus, wenn Zweifel an der Naturheilkunst aus dem Felde zu schlagen waren. Kräuter-Else sagte man zu meiner Mutter in ihren letzten Lebensjahren, und sie fühlte sich durch den Spitznamen geehrt. So wäre es meinem Großvater auch nie in den Sinn gekommen, in der schlimmen Zeit nach 1945 die Kräuter- und Essenzenbücher zu verscherbeln. Da hätte er sich eher die Finger abhacken lassen. Von dem Bücherregal in der Vorratskammer nahm er allerdings die besten Stücke weg, verstaute sie in einer Spankiepe, schleppte sie im harten Winter 1946/47 über die Thüringer Berge hinweg in ein Großbauerndorf nahe Großkochberg und machte daraus Mehl und Butter. Frau von Stein, die einst in dem kleinen Wasserschloß in Großkochberg residierte, hätte sich im Grabe umgedreht, wenn sie von dem Geschäft erfahren hätte, zumal sich auch die Bände von Bertuchs Bilderbuch für Kinder unter der Tauschware versteckt hatten. Bertuch war ja der Beaumarchais der Goethezeit, ein Tausendsassa, der, allen Freuden aufgeschlossen, als Unternehmer ein wohltätiger Mann war und Goethes spätere richtige Frau, Christiane Vulpius, ein »Mädchen der mittleren Klassen«, durch die Herstellung künstlicher Blumen ernährte. Mit dem Verlust ging für mich ein Stück Kindheit zu Ende. Es war, als hätte mir jemand das Schaukelpferd geraubt.

Großvater konnte ich nicht böse sein. Er hatte an Vaters statt die ersten bewußten Jahre meines jungen Lebens begleitet, hatte mich durch die Thüringer Wälder geschleppt, Blüten und Blätter erklärt, Schnecken, Schlangen und Käfer bezeichnet, den Gesang der Vögel ihren Verursachern zugeordnet, die Wolkenbahnen beschrieben, Sternbilder entschlüsselt. Er hatte meine ersten Schneeschuhe gebaut, meine lecken Schuhe mit Holzstiften besohlt, Bucheckern für die weihnachtlichen Pfefferkuchen gesammelt, die Osterlämmchen ans Licht geholt, die Pfingststräuße gebunden und die Haustür damit geschmückt. Großvater konnte nicht böse sein, auch wenn er den Bertuch verscherbelt hatte. Mit seinen lachenden Augen, dem gezwirbelten Schnurrbart, dem Kautabak in der Kinnbacke, den bunten Hosenträgern im Gewand. Er hatte Wespennester mit mir gestürmt, der Kreuzotter den Kopf abgeschlagen, wenn sie mir zu nahe kam, beim...

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