Wahn ist totale Eigenbeziehung – Kommunikative Hypothese (S. 53-55)
Wenngleich man mit Schizophrenen, wenn sie keine schwere Denkstörung haben und neuroleptisch gut eingestellt sind, durchaus sinnvolle Alltagsgespräche führen kann, so ändert sich diese Situation radikal, wenn man über ihre Wahnwelt spricht. Auch hier geht es um eine Störung der Selbst-Grenzen, jedoch unter der Perspektive der zwischenmenschlichen Kommunikation. In anderen Worten: Wodurch kommt es zur „Scheinbegegnung" mit wahnhaften Patienten? Conrad (1958) hat eine Typologie der Wahnphänomene vorgeschlagen, welche durch die graduelle Bewusstheit der Eigenbeziehung gekennzeichnet ist. Aus kommunikativer Perspektive ist Wahn eine Störung der menschlichen Begegnung (Matussek 1963), welche auf eine totale Eigenbeziehung zurückzuführen sein könnte.
Betrachten wir zunächst die ungestörte Kommunikationsfähigkeit eines menschlichen Gehirns oder unseres „psychischen Apparates" (Freud 1969). Nach Freud hat der psychische Apparat eine tripartite Zusammensetzung, nämlich das Es, das Überich und das Ich. Eine derartige Dreiteilung wurde bereits vom deutschen Idealismus (Fichte, Hegel) vorgenommen, wobei Fichte vom Es, Du und Ich spricht. Günther (1971) hat den dreifachen Reflexionsbegriff von Hegel in systemtheoretische Sprache gefasst und spricht von Autoreferenz, Heteroreferenz und Selbstreferenz, wobei wir der Selbstreferenz das Ich, der Heteroreferenz das Du und der Autoreferenz das Es zugeordnet haben (Pritz und Mitterauer 1977, Mitterauer 1980, Mitterauer und Pritz 1980).
Ganz einfach ausgedrückt, muss es eine rein körperliche Funktion geben, die alle unsere Organe in sich und untereinander zusammenhält, Autoreferenz oder Eigenbeziehung genannt. Diese Eigenbeziehung muss aber apparativ derart ausgestattet sein, dass sie die Beziehungen zu den Subjekten und Objekten der Umwelt ermöglicht, Heteroreferenz genannt. Auf der höchsten Ebene des Selbst muss es ebenfalls eine Funktion geben, welche sowohl die Autoreferenz als auch die Heteroreferenz so integriert, dass ein Ichbzw. Selbst-Bewußtsein entstehen kann, Selbstreferenz genannt. Hier handelt es sich um eine „mysteriöse", naturwissenschaftlich schwer zugängliche Funktion, welche vor allem die Kybernetik zu „entmythologisieren" versucht (von Foerster 1960).
Das bahnbrechende eines dreigeteilten Strukturmodelles liegt in seiner mehrwertigen (mehrörtlichen) Konzeption. Das heißt, dass wir nicht einfach den Bereich der Selbstreferenz schlechthin und einer Heteroreferenz schlechthin und damit Zweiwertigkeit haben, sondern dass diese Beziehungen ontologisch differenziert sind. Ein derartiges Strukturmodell ist in seiner Grundkonzeption ontologisch dreiwertig. Es stellt sich nämlich in drei autonomen Beziehungsbereichen dar: Das Es bedeutet reine Eigenbeziehung (Autoreferenz), das Du (Freud’sches Überich) drückt reine Beziehung zur Umwelt (Heteroreferenz) aus, das Ich aber ist Selbstbeziehung in dem Sinne, dass es zwischen Autoreferenz (Es) und Heteroreferenz (Du) vermittelt.
Aus biologischer Sicht steht jedoch die Autoreferenz (Eigenbeziehung) im Brennpunkt des Interesses, da sich die Störungen dieser körperlichen Funktion auf die zwischenmenschliche Begegnung auswirken können, was wir beim Wahn annehmen. Zum besseren Verständnis worin die totale Eigenbeziehung beim Wahn eigentlich besteht, sind einige ontologische Erklärungen unumgänglich. Autoreferenz (Eigenbeziehung) ist die Beziehung zwischen verschiedenen Elementen, die zu ein- und demselben ontologischen Ort gehören. Autoreferenz kennt also entweder nur einen ontologischen Ort schlechthin (Sein) oder keinen ontologischen Ort (Nichts), eine dritte Möglichkeit im Sinne mehrerer nebeneinander bestehender ontologischer Orte (Seinsbereiche) ist ausgeschlossen. Im Bereiche der Autoreferenz gilt also ausschließlich die zweiwertige „Entweder-Oder-Logik". Die Regulation dieser Eigenbeziehung kann mit den logischen Operatoren der Position (ja) und Negation (nein) beschrieben werden.