Die umfassende Analyse des irregulären Verlustes von Know-how in Unternehmen verlangt auch die Untersuchung und Bewertung des aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstandes zum Themenkomplex.
Dazu werden in diesem Kapitel die vorherrschenden und wichtigsten Studien analysiert und systematisch miteinander verglichen. Auf diese Weise können offene Punkte im Forschungs-gebiet erkannt und dargestellt werden.
Bestehende Studien befassen sich meist mit der Thematik, welche unter dem Oberbegriff „Wirtschaftskriminalität“ zusammengefasst wird. Darin nehmen jedoch die Deliktformen Wirtschaft- und Industriespionage sowie der Verrat von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen meist einen gesonderten Platz ein. Bei allen Studien handelt es sich entweder um nationale oder um internationale Untersuchungen.
Verfasser sind hauptsächlich Wirtschaftsunternehmen, vornehmlich aus dem Bereich der Unternehmensberatung und Wirtschaftsprüfung. Einen weiteren Autorenkreis bilden nicht-staatliche Organisationen wie die US-amerikanische „Association of Certified Fraud Examiners“ (ACFE) oder die „American Society for Industrial Security“ (ASIS). Zudem erstellt die US-amerikanische Behörde „Office of the National Counterintelligence Executive“ (ONCIX) eine jährliche Studie bzw. einen Bericht über Know-how-Verlust durch ausländische Wirtschafts- und Industriespionage. Als einzige Studie zum Thema, welche von einer wissenschaftlichen Einrichtung erstellt wurde, konnte die umfassende „Fall- und Schadensanalyse bezüglich Know-how-/Informationsverlusten in Baden-Württemberg ab 1995“ der Universität Lüneburg im Auftrag des Sicherheitsforums Baden-Württemberg ermittelt werden.
Der Suchvorgang zur Recherche der Studien verlief auf mehreren Ebenen:
(1) Stichwortsuche in der elektronischen Datenbank „proquest“ und bei Google unter Zuhilfe-nahme u.a. folgender Konstrukte:[136] „know-how loss“, „data loss“, „know-how theft“, „data theft“, „information theft“, „knowledge theft“, „information security“, „Know-how Verlust“
(2) Analyse der in der Literatur zum Thema verwendeten bzw. verwiesenen Primärstudien: Dabei wurden insbesondere Studien der Unternehmen KPMG, Ernst & Young (E&Y) sowie der Organisationen ACFE und ASIS recherchiert. Die jeweils aktuellsten Studien konnten anschließend in den Publikations-Archiven auf den Homepages dieser Unternehmen bzw. Organisationen ermittelt werden.
(3) Recherche der Schlüsselbegriffe „economic espionage“ und „industrial espionage“ bei www.en.wikipedia.org: Dort gab es Hinweise auf die jährlichen Studien bzw. Berichte des ONCIX, welche dann auf der Homepage der Behörde ermittelt werden konnten.
Zur genaueren Analyse werden nachfolgende Studien herangezogen. Es handelt sich dabei um Untersuchungen mit unterschiedlichen Studienschwerpunkten und differenziertem geografischem Bezug, um potentielle regionale Unterschiede aufdecken zu können:
Tab. 3: Übersicht der Studien
Um eine fundierte Analyse, Bewertung und einen systematischen Vergleich dieser Studien vornehmen zu können, dienen folgende Kernfragen zur Orientierung:
(1) Wer hat die Studie erstellt und über welchen Zeitraum?
(2) Wer wurde zur Studie befragt bzw. aus welchen Daten wurden die Ergebnisse erhoben?
(3) Welches sind die Studienschwerpunkte und zu welchen Kernergebnissen kommen sie?
(4) Worin bestehen ungeklärte, offene Punkte, welche für die Thematik von Interesse sind?
Ziel der Studie, welche im Zeitraum von 2002 bis 2004 durch Professoren der Universität Lüneburg im Auftrag des Sicherheitsforums Baden-Württemberg durchgeführt wurde, ist die Erörterung folgender Sachverhalte:[137]
(1) Ermittlung der quantitativen, realen Schadenshöhe und –relevanz sowie des quantitativen Gefährdungspotentials durch irregulären Verlust von Know-how in Unternehmen.
(2) Ermittlung und Beschreibung der Hauptwege der Informationsverluste.
(3) Darstellung vorhandener, genutzter Sicherungsmaßnahmen und Aufzeigen von Wegen zur Prävention und Informationssicherung.
(1) Methodik der Studie
Auf Basis neun bekannter und registrierter Fälle von irregulärem Verlust von Know-how in Unternehmen wurde ein Fragebogen zur Thematik erstellt.[138] Dieser wurde an 2.400 technologieorientierte und gewerbliche IHK-Firmen[139] geschickt, die per Zufallsgenerator ausgewählt wurden und welche durch ihre Unternehmung der potentiellen Gefahr des irregulären Verlustes von Know-how ausgesetzt sind. Dabei liefen 400 verwertbare Fragebögen zurück.[140]
(2) Aussagen zum Gefährdungspotential/Schadensausmaß sowie zu Tätern und deren Motive
Als Gefährdungspotential durch irregulären Verlust von Know-how konnte für Baden-Württemberg ein Wert von rund 7 Milliarden € pro Jahr und für die gesamte BRD insgesamt von ca. 50 Milliarden € pro Jahr ermittelt werden. Der Wert der tatsächlich eingetretenen Schäden wird, empirisch abgesichert, mit etwa 1 Milliarde € für Baden-Württemberg und zwischen 7 und 8 Milliarden € für die Bundesrepublik errechnet.[141] Rund 70% der Unternehmen bestätigen (~60%) bzw. vermuten (~8%), bereits einmal durch irregulären Verlust von Know-how geschädigt worden zu sein. Größte Gefahr geht dabei in fast jedem vierten Fall von ehemaligen Mitarbeitern, also internen Akteuren, sowie in jedem dritten Fall von Konkurrenten oder Geschäftspartnern, also externen Akteuren, aus.[142] In fast der Hälfte aller durch interne Akteure verursachten Fälle konnte bei den Tätern eine auffallend „abnehmende Identifizierung mit dem Unternehmen“ bzw. eine „deutlich geäußerte Unzufriedenheit“ wahrgenommen werden.[143] Staatliche, nachrichtendienstliche Organe spielen hingegen so gut wie keine Rolle.[144] In über 40% der eingetretenen Schadensfälle erfolgte keine weitere Bearbeitung/Strafverfolgung.[145] Dieser Umstand untermauert die Vermutung vieler Experten, dass sowohl die Anzahl registrierter Fälle als auch die ermittelte Schadenshöhe mit einer hohen Dunkelziffer belastet ist.
(3) Aussagen zu Präventions- und Abwehrmaßnahmen
Als Sicherungsmaßnahmen nach Eintritt des Schadens wurden sowohl personelle, technische und organisatorische als auch juristische Schutzmaßnahmen ergriffen.[146] Auffällig ist die Tatsache, dass die eingeführten Maßnahmen umso umfassender und konzeptioneller sind, je größer das Unternehmen ist.[147] Jedoch stehen die Aufwendungen zum Schutz des Know-hows in extremem Verhältnis zum Gefährdungspotential und den eingetretenen Schadenssummen. Sie entsprechen weniger als 5% der Gefährdungssumme und weniger als 30% der Schadenssumme.[148] Somit lässt sich angesichts der massiven Bedrohung feststellen, dass Unternehmen zu wenig in die Prävention und Abwehr des irregulären Verlustes von Know-how investieren.
(4) Bewertung/Offene Punkte/Forschungsbedarf
Ein offener Punkt ist die Klärung, warum bis zum Zeitpunkt der eingetretenen Fälle keine bzw. nur äußerst geringe Schutzmaßnahmen bestanden. Des Weiteren ungeklärt ist die Frage, wieso die Unternehmen ob des massiven Gefährdungspotentials nicht stärkere Schutzmaßnahmen, insbesondere vor internen Akteuren, institutionalisieren (Missverhältnis Aufwand zum Schutz in Bezug auf das Gefahren-potential). Liegt dies am mangelnden Gefahrenbewusstsein, an organisatorischen Hindernissen oder gar an Kostengründen? Zudem wäre es zur Verbesserung der Strafverfolgung von Interesse genauer zu klären, warum die Verfolgung von rund der Hälfte aller Fälle nicht erfolgt.[149]
Abschließend kann diese Studie jedoch als Meilenstein angesehen werden, da sie erstmalig empirisch gesicherte Erkenntnisse über das Gefahrenpotential und Schadensausmaß des irregulären Verlustes von Know-how in Unternehmen liefert. Um jedoch eine noch fundiertere empirisch belegte Basis zur Thematik zu erhalten, wäre eine analog aufgebaute Studie auf bundesdeutscher Ebene wünschenswert.
Ziel dieser jährlich, von der US-amerikanischen Behörde „Office of the National Counter-intelligence Executive“ (ONCIX) durchgeführten Studie ist in erster Linie die Erörterung folgender...