1. Kapitel
Der Getriebene – Josef Ackermann
Es gibt Tage, da verliert Josef Ackermann für einen kurzen Augenblick die Orientierung. Er steht morgens auf und weiß nicht mehr, wo er eigentlich ist. Im Halbschlaf sucht er dann vergeblich nach dem Lichtschalter. Ackermann braucht an diesen Tagen ein paar Sekunden, um sich zu sammeln. Um die Kontrolle zurückzugewinnen. Die Orientierung wiederzufinden und den Jetlag zu überwinden. New York, Frankfurt, London, Peking. Wenn die Welt zur Heimat wird, dann läuft man Gefahr, sich schnell zu verlieren. Aber die Welt ist für Josef Ackermann nicht bloß zur Heimat geworden. Sie ist auch die Referenzgröße seines unternehmerischen Denkens. Sie ist der Maßstab seines Handelns. Und auch wenn er für einen kurzen Moment die Orientierung verliert, die Kontrolle, die will er nicht abgeben. Niemals.
Am 02. August 2010 tut Josef Ackermann, damals noch Chef der Deutschen Bank, etwas, was er sonst eigentlich nicht tut. Er gewährt einer breiten Öffentlichkeit einen intimen Einblick in sein Leben. Er gibt sich transparent. Der Autor Hubert Seipel darf den Spitzenmanager mit einer Kamera begleiten. Die Dokumentation »Die Welt des Josef Ackermann« läuft zur besten Sendezeit in der ARD. Man sieht einen Mann, der über die Strapazen und die Konsequenzen seiner ewigen Reisen spricht. Man sieht einen Banker, der zu erklären und einzuordnen bemüht ist, was er in der Vergangenheit getan hat. Ein Mann, der versucht, die Deutungshoheit, die Kontrolle über das Bild, das von ihm in der Öffentlichkeit kursiert, zurückzugewinnen. Ein Mann, der keinesfalls als Versager dastehen will.
Es ist ein ungewöhnlicher Moment. Denn Ackermann gilt nicht als jemand, der die Medien zu nah an sich heranlässt. Und auch sein Institut, die Deutsche Bank, hatte über Jahre hinweg den Ruf, nur dann mit der Presse zu sprechen, wenn es sich wirklich nicht vermeiden lässt. Vielleicht möchte er, der mächtigste Banker Deutschlands, an diesem Ruf etwas ändern. Es sind die letzten Monate, die er an der Spitze der Deutschen Bank verbringen wird. Vielleicht möchte er an dem Narrativ, dass die Nachwelt von ihm erzählen wird, mitarbeiten. Denn was tatsächlich bleiben wird von der Ägide Ackermann, das ist im Hochsommer 2010 noch nicht einmal ansatzweise absehbar.
Das Bild, welches die Deutschen von Josef Ackermann zu diesem Zeitpunkt haben, ist in jedem Fall ambivalent. Die meisten Bürger gestehen dem Top-Manager durchaus seine Erfolge zu. Ackermann hat die Deutsche Bank modernisiert wie kaum jemand zuvor. Er hat für die Deutsche Bank Gewinne eingefahren wie kaum jemand zuvor. Aber Ackermann ist für viele Menschen zugleich zum Sinnbild des herzlosen Kapitalismus geworden. Der Mann, der vor Gericht musste, weil er den Pleite-Managern von Mannesmann noch horrende Millionenboni zugestand. Und das, obwohl ihr Konzern verkauft und zerschlagen wurde. Obwohl zahlreiche Menschen ihren Job verloren haben. Ackermann wurde deswegen angeklagt, aber vor Gericht alberte er siegessicher herum, lachte in die Kameras und formte die Finger zu einem Victory-Zeichen. Josef Ackermann ist für viele Deutsche der Mann, der stolz einen Rekordgewinn für sein Unternehmen verkündete und wenige Sekunden später massive Stellenstreichungen vortrug. Um noch mehr Gewinn zu machen. Viele Kommentatoren waren sich einig: Josef Ackermann war das kalte Gesicht des Raubtierkapitalismus, dem es mehr um Gewinne als um einzelne Schicksale ging.
Ackermann selbst sieht das natürlich anders. Er sieht sich als jemanden, der auch mal harte Einschnitte machen muss, um das Gesamtwohl des Unternehmens, das Gesamtwohl seiner Mitarbeiter zu schützen. Auch wenn das hin- und wieder wehtut. Nicht nur den anderen, auch ihm selbst. Und um dieses Bild von seiner Person kämpft er nun.
Vor der Kamera philosophiert er darüber, wie nah er doch dran sei, an den Menschen. Ein Beleg dafür sieht er in der Tatsache, dass er an keinem armen Menschen vorbeigehen könne, ohne etwas Geld zu spenden. Das bringe er einfach nicht übers Herz. In der nächsten Einstellung der Dokumentation sieht man, wie Ackermann mit einem Handy am Ohr in einer gepanzerten Mercedes-Limousine gut abgeschottet durch die Stadt gefahren wird. Zur Wall Street 60. Dem Sitz der Deutschen Bank in New York. Das Büro befindet sich in einem Hochhaus weit über den Dächern der Stadt.
Auch hier oben ist sich Josef Ackermann scheinbar sicher, dass er die Orientierung niemals so wirklich verlieren wird. Und wenn es doch einmal brenzlig wird, dann greift er einfach in sein Portemonnaie und zieht den kleinen Zettel mit dem Spruch heraus, den sein Vater ihm einmal gegeben hat. Damals, als Josef Ackermann noch der Seppl war. Ein kleiner Junge vom Land. Nicht der große Top-Manager von Welt.
Die Anfänge
Josef Ackermann, geboren am 7. Februar 1948, wuchs bodenständig auf. Das ist eben so, wenn man aus Mels kommt, einer kleinen Gemeinde in St. Gallen. Knapp 8.000 Menschen leben hier auf einer Fläche von 14.000 Quadratmetern. Die Region ist ländlich geprägt. Wie in vielen kleinen Ortschaften der Schweiz läuft das Leben auch in Mels etwas ruhiger, etwas langsamer und etwas gesitteter ab als in den anderen Teilen des Landes. Großstädte wie Zürich sind bei den Landbewohnern verpönt. Zu wild. Zu laut. Zu radikal. Die naturverbundenen Schweizer lieben ihre grünen unverbauten Wiesen und ihre urigen Dörfer. Alles hier ist übersichtlich. Katholisch. Konservativ. Alles hat seinen Platz. Und die Familie Ackermann, die hatte ihren Platz auf der Sonnenseite des Lebens gefunden.
Karl Ackermann, der Vater von Josef, war Landarzt. Seine Margrith war Hausfrau. Da Karl über eine eigene Praxis verfügte, hatten die Ackermanns in der Region einen herausgehobenen Stand. Die Familie war anerkannt und geachtet. Aber dem jungen Josef reichte das nicht. Er hatte das Gefühl, in der kleinen Ortschaft gefangen zu sein, er verspürte schon früh den Wunsch, die Enge seiner Heimat zu überwinden. Josef wollte seine Perspektive weiten. Wollte die große Welt sehen. Dass er das Zeug dazu hatte, war seinen Mitschülern schon früh klar. Josef bekam fantastische Noten und war zugleich pragmatisch veranlagt. Außerdem zeigte er schon zu Schulzeiten einen enormen Ehrgeiz. Sein Vater bekam das wohl mit. Er hätte seinen Sohn am liebsten nah bei der Familie gehalten. Schon seit Generationen lebten die Ackermanns hier, trotzdem kam es immer wieder zu Konflikten, und Ackermann Senior schien zu ahnen, dass er seinen Sohn nicht würde halten können. So versuchte er ihm zumindest einige Werte mitzugeben. Und den wichtigsten Wert notierte er in Spruchform auf einen kleinen Zettel und steckte diesen seinem Seppl zu.
»In anderer Glück sein eigenes finden,
Ist dieses Lebens Seligkeit –
Und anderen Menschen Wohlfahrt gründen,
Schafft göttlich Zufriedenheit.«
Ackermann betont noch heute, dass er den kleinen Zettel immer bei sich trägt. Zusammengefaltet in seinem Portemonnaie. Für den Fall, dass er einmal vergessen sollte, wo er herkommt und welche Werte er dort gelernt hat. Für den Fall, dass er einmal die Orientierung verliert.
Als junger Mann schien Ackermann kein Problem mit der Orientierung zu haben. Im Gegenteil. Er wusste genau, was er wollte. Und er hatte auch eine Idee, wie er es bekommen konnte. Nachdem er seine Matura, also das Schweizer Abitur, bestanden hatte, absolvierte er den Militärdienst. Die Armee ist berühmt dafür, dass sie wie ein riesiges Netzwerk funktioniert. Wer sich dort beweist, der wird nicht selten entdeckt und weitervermittelt. Die Kontakte, die man in der Armee knüpft, funktionieren sehr häufig als Einstieg in die folgende Berufslaufbahn.
Ackermann war sich der Aufmerksamkeit bewusst, die er auf sich zog. Während seiner Militärlaufbahn setzte er das fort, was er schon in der Schule versucht hatte: der Beste zu sein. Ackermann bekam bald Führungsverantwortung. Stieg zu einem Offizier auf. Und lernte, worauf es in einer Führungsposition ankommt: Durchhaltewillen, Mannschaftstreue und Entscheidungsstärke. Alles Eigenschaften, die ihm bei seiner späteren Laufbahn als Banker zugutekommen sollten.
Nach dem Militärdienst studierte Ackermann Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität St. Gallen. Eine Eliteuniversität, die bis heute als Kaderschmiede für die mächtigsten Wirtschaftsbosse der Welt gilt. Wie schon in der Schule und beim Militär konnte Ackermann auch hier – dieses Mal als Wissenschaftler – glänzen. Er promovierte zum Thema »Einfluss des Geldes auf das reale Wirtschaftsgeschehen« und arbeitete als Lehrbeauftragter für Geldpolitik und Geldtheorie. Eine wissenschaftliche Karriere stand ihm offen. Doch 1977 zog es Ackermann in die Praxis. Raus aus St. Gallen. Hinein in die Welt.
Der Banker
Ackermann ging zur Credit Suisse, einer der bedeutendsten Banken des Landes. Dort setzte er fort, was er in der Vergangenheit begonnen hatte: Er arbeitete sich konsequent die Karriereleiter hoch. Die Theorie des Geldhandels beherrschte er. Es war nun Zeit für die Praxis. Mit seinem grundlegenden Fachwissen und seinen beim Militär erworbenen Führungsqualitäten präsentierte er sich seinen Vorgesetzten als zuverlässiger, geistesgegenwärtiger Mitarbeiter, der in der Lage war, jede Situation schnell und durchdringend zu analysieren. Das fiel auf. Und wurde honoriert. Und Ackermann durfte das machen, was er schon immer machen wollte: die Welt bereisen. Als Student hatte er einmal einen...