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Versorgungsmodelle in Psychiatrie und Psychotherapie

AutorBernd Puschner, Holger Hoffmann, Stefan Weinmann, Thomas Becker
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl200 Seiten
ISBN9783170266025
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Das System der psychiatrischen Versorgung besteht aus einer Vielzahl von Einrichtungen und Diensten und ist schwer durchschaubar. In vielen Ländern wurde über einschneidende oder stufenweise Reformen versucht, dem zunehmenden Bedarf an psychiatrischer Versorgung bei größtmöglicher Gemeindenähe gerecht zu werden. Dieses zugleich praxisorientierte und konzeptionelle Werk führt in wesentliche Problemstellungen und Versorgungsprinzipien ein, beschreibt Kernkomponenten psychiatrischer Versorgung und weist auf Entwicklungsperspektiven hin.

Thomas Becker ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm am Bezirkskrankenhaus Günzburg. Bernd Puschner und Silvia Krumm sind wissenschaftliche Mitarbeiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie II der Universität Ulm. Holger Hoffmann leitet die Einheit Versorgungsforschung der Universitären Psychiatrischen Dienste Bern. Stefan Weinmann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialmedizin der Charité Berlin. Florian Steeger ist Privatdozent für Geschichte und Ethik der Medizin an der Universität Erlangen-Nürnberg und Fellow am Alfred Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald.

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Leseprobe

1 Einleitung und Kontext


1.1 Einführung


Das vorliegende Buch beschäftigt sich mit Modellen psychiatrischer Versorgung. Bei diesem Unterfangen war es wichtig, die Grenzen der Themenstellung im Blick zu haben. Die Art und der Ort der Erbringung psychiatrisch-psychotherapeutischer Hilfeleistungen sind nicht die Hilfe selbst, sondern stellen den Rahmen dar, in dem Hilfeleistungen wirksam werden. Die Person oder (in der Regel) die Personen, welche die Hilfen erbringen, sind eng mit Erfolg oder Misserfolg der Behandlung verbunden. Die Güte ihrer Ausbildung, ihre klinische Erfahrung, Fertigkeiten in der Beziehungsaufnahme, die psychotherapeutische Kompetenz und Teamfähigkeit sind für den Behandlungserfolg wesentlich. Die in der Psychiatrie tätigen Berufsgruppen blicken jeweils auf eine lange Tradition ihrer klinischen Arbeit zurück. Diese hat zum einen berufsgebundene Aspekte. So ist die ärztlich-therapeutische Tradition mit der Geschichte des medizinischen Faches Psychiatrie, für die Pflegeberufe mit der Entwicklung der psychiatrischen Krankenpflege als Subdisziplin verbunden. Zum anderen ist die therapeutische Grundorientierung (das therapeutische Paradigma) in der Psychiatrie immer auch ein fachübergreifendes Phänomen, das Berufsgruppen-Grenzen überschreitet und die gemeinsamen Grundvorstellungen einer therapeutischen Kultur reflektiert. Die klinische Psychiatrie, klinische Psychologie und psychiatrische Pflege sowie die Ergotherapie und Sozialpädagogik bzw. psychiatrische Sozialarbeit haben eigene Methoden und Ansätze in der therapeutischen Arbeit mit Menschen mit psychischen Erkrankungen entwickelt. Das therapeutische Milieu, das Setting, in dem Hilfeleistungen erbracht werden, ist aber auch berufsgruppenübergreifend für die psychiatrische Behandlung wichtig. Das Setting besteht aus den in der Psychiatrie Tätigen, den Räumen, in denen sie arbeiten, der Organisationsform, die sie ihrer Arbeit geben, den Orten und der Frequenz, an denen bzw. mit der sie Termine vereinbaren, Diagnosen stellen, psychosoziale Problemstellungen erkennen und Hilfsangebote machen. Die Eigenschaften des therapeutischen Settings umfassen die Formen des Dialogs sowie die klinischen, pharmakologischen, psychotherapeutischen und psychosozialen Konzepte, die den Gesprächen, der Beziehungsgestaltung und den Interventionen im psychiatrischen Alltag zugrunde liegen.

Die Beschäftigung mit diesen wichtigen Wirkkomponenten des Psychiatrie-Alltags deckt sich jedoch nur in Teilen mit der Beschreibung von „Versorgungsmodellen“ in Psychiatrie und Psychotherapie. Mit den Versorgungsmodellen ist die Form angesprochen, in der ambulante, stationäre oder gemeindepsychiatrische Leistungen erbracht werden. Diese kann sich in vieler Hinsicht unterscheiden, z. B. nach dem Ort des Geschehens, der Patienten-Mitarbeiter-Relation, der Häufigkeit der Kontakte, der Indikations- und Aufgabenstellung des therapeutischen Teams sowie nach der Gestaltung der Schnittstellen zu anderen Angeboten oder Komponenten im Hilfesystem. Die Begrenztheit solcher „Modelle“ hat Thornicroft (2000) deutlich gemacht, indem er ausführt, dass gemeindepsychiatrische Behandlung („community care“) ...

„... is a service delivery vehicle. It can allow treatment to be offered to a patient, but is not the treatment itself. This distinction is important, as the actual ingredients of treatment have been insufficiently emphasized.“

1.2 Aufbau des Buches


Schwerpunkt des vorliegenden Buchs ist die Darstellung konzeptueller Grundlagen des psychiatrischen Versorgungssystems. Hierbei kann keine lückenlose Beschreibung psychiatrischer Versorgung geleistet werden. So wurde auf eine Darstellung essentieller Bereiche wie z. B. die Versorgung von Menschen mit Suchterkrankungen verzichtet.

Auf das Thema hinleitend werden im dritten Teil dieses Kapitels Hintergrund-Variablen geschildert, die für die Gestaltung psychiatrischer Versorgungssysteme bedeutsam sind. Dies sind Befunde zur Epidemiologie psychischer Erkrankungen, internationale Empfehlungen zur Behandlung psychischer Erkrankungen, sowie Gesundheitsziele. Die verfügbare Versorgung geht nicht bruchlos aus Konzepten, Büchern, Artikeln oder Leitlinien hervor. Vielmehr sind die Institutionen der Psychiatrie in der Geschichte entstanden, gewachsen, in Krisen geraten – und Teilsysteme können durchaus auch verschwinden. Sie haben sich historisch aus Vorbestehendem entwickelt oder sind an dessen Stelle getreten – und nur in dieser Perspektive können sie verstanden werden. So widmet sich Kapitel 2 des Buches der Darstellung der historischen Entwicklung der psychiatrischen Versorgung in europäischen Ländern mit dem Schwerpunkt Deutschland.

Das Gespräch über Versorgungsmodelle ist immer auch mit der Frage nach „Indices“, z. B. „Bettenmessziffern“ oder anderen Anhaltszahlen für eine angemessene psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung verknüpft. Daher werden in Kapitel 3 aktuelle Befunde zur Planung von Behandlungssystemen und Planungs-Indikatoren zusammengefasst und diskutiert. Kapitel 4 wirft einen „systemischen“ Blick auf das psychiatrische Versorgungssystem in Deutschland sowie auf seine Steuerung. Es versucht, Steuerungsmechanismen zu identifizieren, die berücksichtigt werden müssen, wenn die internationalen Befunde und Evidenzen zu Versorgungsmodellen in Diskussionen über die Psychiatrie-Versorgung in Deutschland herangezogen werden. Kapitel 5 beschreibt und diskutiert Formen und Bedeutung der Nutzerbeteiligung in der psychiatrischen Versorgung und in der Gestaltung psychiatrischer Versorgungsangebote. Eine Reihe methodischer Grenzen internationaler Forschung wird schließlich in Kapitel 6 bei der Zusammenfassung der Studienergebnisse zu viel diskutierten Versorgungsbestandteilen wie „Assertive Community Treatment“ oder „Home Treatment“ deutlich. Die Thematik ist wichtig für das Verständnis der Diskrepanz zwischen Wissenserwerb (Studien) und Anwendung (Praxis) (Girolamo und Neri 2007). In Kapitel 7 werden internationale Trends der psychiatrischen Versorgung mit Schwerpunkt Europa berichtet. Dieses Thema wird in Kapitel 8 weiter vertieft, indem die Entwicklung der psychiatrischen Versorgung in Italien und England ausführlicher geschildert wird. Abschließend werden in Kapitel 9 wichtige Themen und Probleme in der Weiterentwicklung psychiatrischer Versorgungsmodelle diskutiert.

1.3 Kontext für Versorgungsmodelle in Psychiatrie und Psychotherapie


1.3.1 Häufigkeit psychischer Erkrankungen in Europa


Es wird geschätzt, dass über 80 Millionen Menschen in der Europäischen Union (EU) im Verlauf eines Jahres an Erkrankungen aus der breiten Kategorie von „Hirnerkrankungen“ oder neuropsychiatrischen Erkrankungen leiden (Wittchen und Jacobi 2005). Bei den Prävalenzraten führen Angststörungen, depressive Erkrankungen, somatoforme Störungen und Substanzabhängigkeiten. Die Inanspruchnahmerate professioneller Hilfesysteme liegt bei ca. 26 %, was auf einen erheblichen ungedeckten Behandlungsbedarf hinweist. Wird das Lebenszeitrisiko für mindestens eine psychische Störung zugrunde gelegt, so gibt es Hinweise, dass ca. 50 % der EU-Bevölkerung betroffen sind. Von der Gesamtlast der mit Behinderung gelebten Lebensjahre (sog. „disability adjusted life years“ – DALYs), die mit allen medizinischen Erkrankungen assoziiert sind, sind mehr als 25 % durch eine kleine Anzahl von psychischen Störungen begründet. Wegen hoher Komorbiditätsraten, erheblicher soziodemographischer und sozioökonomischer Unterschiede und aufgrund begrenzter Rückschlussmöglichkeit von DALYs auf konkrete Behandlungskosten sind die Generalisierbarkeit und der praktische Planungsnutzen solcher Daten begrenzt. Ein Großteil der geschätzten jährlichen Ausgaben von 290 Milliarden Euro Jahres-Kosten für psychische Störungen ist nicht auf Gesundheits(leistungs-)kosten, sondern auf indirekte Kosten (wie z. B. Produktivitätsverluste) zurückzuführen. Die größten ungedeckten Hilfebedarfe sind in den neuen EU-Mitgliedsstaaten, bei Heranwachsenden und bei älteren Menschen zu finden (Wittchen und Jacobi 2005).

Es gibt Hinweise darauf, dass psychische Erkrankungen zunehmen. Inzwischen sind sie der häufigste Grund für Berufs- oder Erwerbsunfähigkeitsrenten und eine im Anstieg begriffene Ursache für Arbeitsunfähigkeitstage (Bührig 2005). Der Anteil psychischer Erkrankungen an den Frühberentungen hat sich seit 1995 auf 29,2 % nahezu verdreifacht (Verband deutscher Rentenversicherungsträger 2002). Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage wegen psychischer Krankheiten hat zwischen 1997 und 2001 um über 50 % zugenommen (Deutsche Angestelltenkrankenkasse 2002). Nach mehreren Jahrzehnten der Psychiatriereform ist die soziale Situation von arbeitsfähigen Menschen mit psychischen Erkrankungen von Arbeitslosigkeit, finanzieller Überschuldung und sozialer Isolation gekennzeichnet (Eikelmann und Harter 2006).

1.3.2 Politisches Gewicht und europäische Perspektive: Grünbuch, europäische Erklärung und Aktionsplan


Unter der Überschrift „Die psychische Gesundheit der Bevölkerung verbessern – Entwicklung einer Strategie für die Förderung der psychischen Gesundheit in der Europäischen Union“ (Europäische Kommission. Generaldirektion Gesundheit und Verbraucherschutz 2005) hat die Europäische Kommission im Oktober 2005 ein „Grünbuch“ veröffentlicht.

Darin wird die psychische Gesundheit als wichtiger Faktor bei der Realisierung strategischer EU-Ziele betrachtet, z. B. um Europa auf den Weg zu langfristigem Wohlstand zu bringen, das europäische Engagement für Solidarität und soziale Gerechtigkeit zu...

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