Einleitung
Pflege hat sich in den vergangenen Jahrzehnten einen sicheren Platz in den Reihen der wissenschaftlichen Disziplinen erobert. Die Bedeutung der wissenschaftlichen Absicherung pflegerischen Handelns steht im Zusammenhang mit der demografischen und epidemiologischen Entwicklung und wird in dieser Hinsicht weiter steigen, denn nur mit Erkenntnissen zur Wirksamkeit der Pflege kann dem zukünftigen Pflegebedarf, den steigenden Qualitätsansprüchen und den knappen Ressourcen begegnet werden. Hinzu kommt, dass kranken und der Pflege bedürftigen Menschen immer mehr Selbstverantwortung abverlangt wird. Um die Verantwortung für die eigene Gesundheit übernehmen zu können, ist Gesundheitskompetenz nötig. Die Förderung der Gesundheitskompetenz, d. h. des Verstehens, Beurteilens und Anwendens von Informationen zur Krankheitsprävention und -bewältigung, ist eine Kernaufgabe der Pflege, die sie nur erfüllen kann, wenn die individuellen Bedürfnisse und situativen Erfordernisse vor dem Hintergrund allgemeiner Erkenntnisse verstanden werden.
Die wissenschaftliche Fundierung der Pflege ist jedoch nicht alleine ein von außen gesteuerter Prozess, sondern beruht auf den ureigensten Interessen der Pflege, die nur so dem Anspruch einer Profession gerecht werden kann. Der Zuwachs an pflegewissenschaftlichen Erkenntnissen führt dazu, dass pflegerisches Handeln nicht alleine mit persönlichen und institutionellen Erfahrungen, sondern gleichermaßen durch theoretische und empirische Erkenntnisse aus der Forschung zu begründen ist. Für die Praxis der Pflege bedeutet dies die Zusammenführung von zwei sehr unterschiedlichen Formen des Wissens. Wissenschaft umfasst empirische Erkenntnisse gleichermaßen wie Begriffe, Konzepte und Theorien, in die Erstere gefasst werden. Sie ist kein Abbild der Realität, sondern eine nach festgelegten und nachvollziehbaren Regeln konstruierte Wirklichkeit. Wissenschaft stellt eine Außenperspektive dar und leistet einen Beitrag zum Verstehen der Realität. Das kennzeichnende Merkmal ist Gemeinsamkeit, d. h. die Abstraktion vom Einzelfall, um allgemein gültige Aussagen tätigen zu können. Der Bezugspunkt sind Populationen. Dieser Außenperspektive Wissenschaft steht die Innenperspektive der Pflegepraxis gegenüber. Ihr Ziel ist es, wirksam in die Realität einzugreifen, sei es um Gesundheit zu erhalten, sei es um begleitend und unterstützend bei Krankheit bzw. bei gesundheitlichen Beeinträchtigungen zur Seite zu stehen. Dazu sind die Erkenntnisse der Wissenschaft notwendig, aber nicht ausreichend, weil sie keine Aussagen zum konkreten Erleben, zur Bedeutung, zu Erfahrungen und zum Leiden von Individuen machen. Dazu bedarf es der Erkenntnisse der erlebenden und erfahrenden Person, der Bezugspunkt ist das Individuum und das kennzeichnende Merkmal der Unterschied. Zur umfassenden Beschreibung eines Phänomens bzw. zur Lösung eines Problems sind beide Erkenntnisebenen notwendig, denn gleich viel oder wenig wie mit den Erkenntnissen der Wissenschaft etwas über das konkrete Individuum in Erfahrung gebracht werden kann, gleich viel oder wenig können die Erkenntnisse des Individuums alleine Auskunft über mögliche Ursachen und effektive Lösungen geben.
In der Praxis erfolgt die Implementierung von wissenschaftlichen Erkenntnissen mittels des sogenannten Evidence-based-Konzepts. Evidenz im engeren Sinne meint in Anlehnung an das medizinische Konzept wissenschaftliche Erkenntnisse. In diesem Zusammenhang wird auch von externer Evidenz gesprochen, wodurch die Außenperspektive noch einmal deutlich wird. Zur externen Evidenz zählen neben Erkenntnissen aus systematischen Reviews, randomisiert kontrollierten Studien und Metaanalyen, die auf dem phänomenologischen Ansatz basierenden und mit qualitativen Untersuchungsmethoden gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse zum subjektiven Erleben und zur Bedeutung von Krankheit, auch wenn diese auf der Suche nach dem „Gold-Standard“ in den Hintergrund gedrängt werden. Die Qualität einer professionellen Pflege erschöpft sich nicht in den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Evidence-based Practice (EBP) umfasst die Kombination von der bestmöglichen wissenschaftlichen Evidenz mit klinischem Wissen und klinischen Erfahrungen sowie mit den Präferenzen von KlientInnen und den vorhandenen Ressourcen bzw. lokalen Daten. Innerhalb dieser Vierheit liegen die Möglichkeiten angemessenen Pflegehandelns. Die wissenschaftliche Evidenz gilt es im Rahmen des Pflegeprozesses mit diesen anderen Wissensquellen abzustimmen.
Für die Pflegepraxis lässt sich feststellen, dass es an Konzepten zur Erfassung der individuellen Bedeutung, an der Fundierung standardisierter Instrumente mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Bedeutung und an Praxiskonzepten zur Zusammenführung der beiden Erkenntnisebenen mangelt. Dieser Mangel führt zu einer Fokussierung der Professionalisierung auf das Wissen der empirisch-quantitativen Wissenschaft, wodurch die Verschiedenheit der im Pflegeprozess wirksam werdenden Erkenntnisformen zu einer Hierarchie des mehr oder weniger gültigen Wissens wird. Die Konsequenz ist, dass mit der Implementierung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in die Pflegepraxis ein Nebeneinander oder Gegenüber von Erkenntnissen entstanden ist und der praktische Nutzen des wissenschaftlichen Wissens in der Erkenntnis per se gesucht wird. Dies entspricht jedoch nicht der Funktion der Wissenschaft für die Praxis und noch viel weniger dem EBP-Konzept. Wissenschaft liefert nicht die Antwort auf eine praktische Frage, sondern die Fundierung einer Antwort, die in der konkreten Situation an konkrete Personen gebunden und entsprechend auszulegen ist. Mit der Zusammenführung der unterschiedlichen Wissensquellen zu einer neuen Erkenntnis wird auch der Gefahr eines Evidenzpaternalismus (Allmark 2015) begegnet. Gleichzeitig erhöhen sich damit die Möglichkeiten des Handelns. Es muss eine Wahl, die der passenden Problembeschreibung in Form einer Pflegediagnose und einer angemessenen Handlung in Form einer Pflegeintervention, getroffen werden.
Evidence-based Practice wird häufig auf die Wirksamkeit von Pflegeintervention reduziert. Die Entwicklung einer eigenen Fachsprache – ein zentrales Merkmal einer Profession – zur Bezeichnung eines Pflegeproblems bedarf jedoch ebenso der wissenschaftlichen Fundierung, die sich in der Ordnung und Klassifizierung des Wissensbestandes widerspiegeln muss. Die Pflegeklassifikationen verallgemeinernden Begriffe dienen der professionellen Kommunikation, die die individuelle Erlebens- und Erfahrungswelt jedoch nur bedingt abbilden können. Dies bedeutet eine Entfremdung von der Alltagssprache, die von kontext-, regions- und schichtspezifischen Unterschieden gekennzeichnet ist. Die verallgemeinerte Fachsprache ist eingleisig und asymmetrisch, sie weist von ExpertInnen zu KlientInnen. Ein Rückzug auf die Fachsprache würde Verstehen ausschließen und der Kommunikation und Förderung der Gesundheitskompetenz abträglich sein. Die Verstehende Pflegediagnostik setzt konzeptionell an der Zusammenführung der verschiedenen Erkenntnis- und Sprachebenen an. Es geht dabei nicht um einen Wettstreit des besseren oder richtigen Wissens oder gar um Wahrheit, sondern um die Vermittlung der Erkenntnisse als gleichberechtigte Erkenntnisquellen. Die Verstehende Pflegediagnostik stellt sozusagen das fehlende Glied oder den „Missing Link“ zwischen Wissenschaft und Pflegepraxis dar. Die Aufgabe der Pflegepraxis besteht darin, die individuellen oder subjektiven Erkenntnisse der erlebenden Person in der konkreten Pflegesituation zu erfassen und vor dem Hintergrund der abstrakten Begriffe oder objektivierten Erkenntnisse der Wissenschaft zu beurteilen – kurz, ein Problem zu verstehen. Verstehen als die Vermittlung von objektivierten und subjektiven Wissensbeständen stellt somit eine weitere Erkenntnisebene und die Grundlage jeglichen Pflegehandelns dar.
Ziel und Aufbau des Buches
Ziel des Buches ist es, das theoretische Fundament der Verstehenden Pflegediagnostik darzustellen und in ein Modell zu fassen. Das Modell der Verstehenden Pflegediagnostik ist ein Strukturmodell, das es je nach Bereich oder Thema entsprechend mit Inhalten zu füllen gilt. Beispiele dazu finden sich in den einzelnen Abschnitten. Die theoretischen Grundlagen stammen aus den Kognitionswissenschaften, der Philosophie, im Speziellen der Phänomenologie und der Hermeneutik, sowie der Pflegewissenschaft und bauen auf den Grundkenntnissen der Pflegediagnostik auf. Die Auswahl der Grundlagen und der Umfang der Darstellung orientieren sich an den Anforderungen des Modells, in dem es verschiedene Perspektiven zu vereinen gilt.
Das Buch besteht aus fünf Abschnitten. Jeder Abschnitt beginnt mit der Darstellung der Relevanz des Themas für die Verstehende Pflegediagnostik und umfasst Ausführungen zu den theoretischen Grundlagen sowie die Übertragung derselben in einen pflegespezifischen Kontext. Der Zusammenhang der einzelnen Teile oder Abschnitte wird im ersten Teil, in der Darstellung des Modells der Verstehenden Pflegediagnostik, und im letzten Teil, in den Ausführungen zum Thema Angemessenheit, ersichtlich.
Teil I: Verstehende Pflegediagnostik
Im ersten Teil des Buches werden die zentralen Begriffe des Modells – Verstehen, Pflegediagnostik und Erkenntnis – in ihrer Verwendung geklärt und verschiedene Erkenntnisformen und -quellen sowie deren Rolle in der Verstehenden Pflegediagnostik dargestellt. Darauf aufbauend folgt die Vorstellung des Modells der Verstehenden Pflegediagnostik. Das Modell ruht auf drei zentralen Erkenntnisebenen, die analog dem Grad der Entfernung vom unmittelbar Erlebenden als Beschreibungen der ersten, der zweiten und der dritten Person bezeichnet werden. Die Einführung in das Modell wird abgerundet mit der Darstellung der Konzepte Angemessenheit und...