Zur Beantwortung der ersten Forschungsfrage nach dem Einfluss einer elterlichen Suchterkrankung auf die Familie und besonders auf die betroffenen Kinder folgt nun die Lebensweltanalyse des suchtbelasteten Familiensystems in deduktiver Form. Zunächst wird das Familiensystem in seiner Gesamtheit betrachtet, dann liegt der Fokus auf der Eltern-Kind-Beziehung und schließlich auf der Lebenswelt der Kinder selbst.
Eine elterliche Suchterkrankung wirkt sich auf verschiedene Weisen und in mehreren Bereichen auf das Familiensystem aus. Zunächst herrscht in suchtbelasteten Familien eine oftmals ungesunde Familiendynamik. Zudem bestehen meist unausgesprochene Regeln, die die individuelle Persönlichkeitsentwicklung aller Familienmitglieder hemmen oder gar blockieren. Schlussendlich ist eines der am häufigsten vorkommenden Phänomene die Entwicklung von Co-Abhängigkeit der nicht-suchtkranken Familienmitglieder. Sie entwickeln hierbei Verhaltensmuster, die der Suchterkrankung des Betroffenen entgegensteuern sollen, im Endeffekt aber, ohne dass die co-abhängige Person es bemerkt, genau das Gegenteil bewirken und das Fortbestehen der Suchterkrankung sogar unterstützen.
In einer Familie mit einem oder mehreren suchterkrankten Mitgliedern ist die Familiendynamik oft schwer gestört.
Eine elterliche Suchterkrankung hat einen umfassenden Veränderungsprozess zur Folge, der das gesamte Familiensystem mitbetrifft. Die Familienentwicklung und die Prozesse der Abhängigkeit stehen dabei in Wechselwirkung zueinander (vgl. Arenz-Greiving, 2007, S. 9).
Die Sucht und die damit verbundene familiäre Belastung werden zum Mittelpunkt allen Geschehens in der Familie. Allen Familienmitgliedern fehlt die Möglichkeit, diesem zentralen Geschehen auszuweichen (vgl. Homeier & Schrappe, 2012, S. 124). Die Atmosphäre in einer Suchtfamilie ist meist geprägt von einer ängstlich-angespannten Erwartungshaltung, Instabilität, Willkür, Unruhe und einem Mangel an Geborgenheit (vgl. Arenz-Greiving, 2007, S. 15; Homeier & Schrappe, 2012, S. 124).
Darüber hinaus erleben viele suchtbelastete Familien nicht nur vermehrte innerfamiliäre Streitigkeiten, sondern auch schwerwiegende Krisen mit. Hierzu zählen beispielsweise die soziale Isolation, finanzielle Schwierigkeiten, Arbeitslosigkeit und eine immer schlechter werdende elterliche Partnerschaft, bis hin zur Trennung oder Scheidung. Die Schuld an diesen krisenhaften Ereignissen sucht der suchtkranke Elternteil oft nicht bei sich, sondern schiebt sie dem*der Ehepartner*in, den Kindern oder äußerlichen Faktoren zu (vgl. Bertenghi, 1997, S. 157f.; DHS, 2006a, S.6; Homeier & Schrappe, 2012, S. 124). Die übrigen Familienmitglieder hingegen suchen die Schuld eher bei sich und schämen sich gleichzeitig für ihre aggressiven Gefühle dem suchterkrankten Familienmitglied gegenüber (vgl. Arenz-Greiving, 2007, S. 10).
Während der abhängige Elternteil die Kontrolle über sein Leben im Laufe der Suchterkrankung zunehmend verliert, gewinnt er in gleichem Maße die Kontrolle über die Familie. Hier steht er im Mittelpunkt, bekommt Aufmerksamkeit und Zuwendung und darf Regeln verletzen, die andere Familienmitglieder rigide einhalten müssen (vgl. Bertenghi, 1997, S. 157f.).
Oft sind auch die innerfamiliären Grenzen und die Rollenaufteilung nicht klar getrennt und verlaufen ineinander. So nimmt der suchtkranke Elternteil oft eine kindliche Rollenposition ein, währen die Kinder selbst Verantwortung und Aufgaben übernehmen, die von den Eltern nur noch unzureichend oder gar nicht mehr erfüllt werden. Durch die Sucht gehen so vitale Erziehungsleistungen der Eltern verloren (vgl. Broich, 1994, S. 113f.; Homeier & Schrappe, 2012, S. 124).
Ein zentraler Faktor in der Dynamik eines suchtbelasteten Familiensystems ist die unbedingte Geheimhaltung der elterlichen Suchterkrankung. Durch die gesellschaftliche Stigmatisierung der Sucht und der eigenen Scham- und Schuldgefühle begibt sich die gesamte Familie in eine kontinuierliche soziale Isolation. Meist wird das Thema „Sucht“ auch innerfamiliär streng tabuisiert (vgl. Arenz-Greiving, 2007, S. 14; Bertenghi, 1997, S. 160; Homeier & Schrappe, 2012, S.124f.; Michaelis, 2006, S.33).
Ähnlich wie der Suchtkranke verschiedene Phasen der Abhängigkeit durchlebt, lassen sich auch für die suchtbelastete Familie Phasen herausarbeiten, in denen die Familie versucht, mit der Erkrankung des Familienmitgliedes und den damit verbundenen Schwierigkeiten umzugehen. Köppl und Reiners entwickelten 1987 ein Modell mit insgesamt sieben Phasen, deren Durchleben der Familie als Selbstschutz dient. Zunächst wird die Krankheit des abhängigen Familienmitglieds vor sich selbst und anderen verleugnet. In der zweiten Phase wird das Problem offensichtlich und es werden Anstrengungen zu dessen Bewältigung unternommen. Es kommt daraufhin zu einer Störung und Verwirrung innerhalb der Familie. Im Folgenden wird ein Versuch unternommen, die Familie zu reorganisieren. In Phase fünf versuchen die Familienmitglieder, das Problem auf den*die Abhängige*n einzugrenzen. In der sechsten Phase reorganisiert sich die Familie ohne den*die Abhängige*n. Die siebte und letzte Phase beschreibt die Genesung des suchterkrankten Mitglieds. Viele Familien kommen allerdings nicht über die Phasen drei, vier oder fünf, also Verwirrung, Organisationsversuche oder Begrenzung, hinaus (vgl. Köppl und Reiners, 1987 zitiert nach Arenz-Greiving, Erger, Körtel & Krasnitzky-Rohrbach, 2007, S. 7).
Doch selbst wenn einem Familienmitglied die physische Ablösung aus der Familie gelingt, so muss es oft feststellen, dass die schmerzlichen Gefühle, die Feindseligkeiten und der defensive Lebensstil ein fester Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden sind. So besteht die Gefahr, dass er*sie selbst abhängiges Verhalten entwickelt oder co-abhängige Beziehungen (siehe Kapitel 4.1.3) eingeht und so die verinnerlichten Familienstrukturen weiter fortführt (vgl. Rennert, 1990[4] zitiert nach Arenz-Greiving, 2007, S. 10).
Wie auch in Familien ohne suchtkrankes Mitglied gelten für die Kinder suchtkranker Eltern Regeln, die das Alltagsleben bestimmen und nach denen sich ihr Verhalten richten soll. In diesen Familien sind jene Regeln aber häufig nicht entwicklungsförderlich. Eher wird durch die bestehenden Familienregeln den Kindern vermittelt, sie seien mit ihren Wünschen, Bedürfnissen, Sorgen und Nöten auf sich allein gestellt. Denn die Äußerung und Versuche zur Durchsetzung eigener Bedürfnisse würde das Familiensystem in weiteres Chaos stürzen und das Zusammenleben noch komplizierter gestalten (vgl. Arenz-Greiving, Erger, Körtel & Krasnitzky-Rohrbach, 2007, S. 18).
Verschiedene Autor*innen arbeiteten insgesamt sechs Familienregeln heraus, die im Folgenden näher erläutern werden. Die Ausprägungen der einzelnen Regeln sind dabei von Familie zu Familie individuell unterschiedlich (vgl. Arenz-Greiving, Erger, Körtel & Krasnitzky-Rohrbach, 2007, S. 18).
Die erste Regel lautet: „Rede nicht!“. Sie beinhaltet, dass weder innerhalb noch außerhalb der Familie über Probleme gesprochen werden darf. Aufkommende Schwierigkeiten werden verleugnet, verdrängt oder ihre Ursache auf andere projiziert. Die Suchtkrankheit wird geheim gehalten und das Fehlverhalten des abhängigen Elternteils relativiert. Dass Probleme unaussprechbar bleiben, vermittelt den Kindern, dass es keine Hoffnung auf Hilfe oder Besserung gibt. Die Kinder nehmen die innerfamiliären Schwierigkeiten deutlich wahr, beginnen aber, an ihrer eigenen Wahrnehmung zu zweifeln, da die Probleme von den Eltern dauerhaft verleugnet werden (vgl. Arenz-Greiving, 2007, S. 23, Arenz-Greiving, Erger, Körtel & Krasnitzky-Rohrbach, 2007, S. 18; Bertenghi, 1997, S. 141).
„Fühle nicht!“ bildet die zweite Regel im suchtbelasteten Familiensystem. Gefühle zu unterdrücken dient der Vermeidung von Schmerzempfinden und verhindert eine zusätzliche Belastung der Eltern durch emotionale Schwierigkeiten ihrer Kinder. Dauerhaftes Leugnen der eigenen Gefühle führt dabei dazu, dass Kinder und Eltern den Zugang zum emotionalen Erleben verlernen. So werden den Familienmitgliedern auch positive Gefühle fremd (vgl. Arenz-Greiving, 2007, S.24; Arenz-Greiving, Erger, Körtel & Krasnitzky-Rohrbach, 2007, S. 18f.).
Als dritte Familienregel kann „Traue nicht!“ formuliert werden. Wie bereits erwähnt wird die Wahrnehmung der Kinder, dass etwas in der Familie nicht in Ordnung ist, durch die Eltern und oft auch durch die älteren Kinder kontinuierlich geleugnet. So lernen sie, weder sich selbst, noch anderen zu trauen. Der Alltag in einer suchtbelasteten Familie ist zudem geprägt durch eine Vielzahl an Lügen. So lügt der abhängige Elternteil, um seine Sucht zu verheimlichen, der nicht-abhängige Partner, um den Süchtigen vor negativen Folgen seiner Erkrankung zu bewahren und die Kinder, um sich selbst zu schützen. Außerdem wird es durch die Abhängigkeitserkrankung oder durch die eigene...