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Verwaltung verstehen

Eine theoriegeschichtliche Einführung

AutorWolfgang Seibel
VerlagSuhrkamp
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl213 Seiten
ISBN9783518748749
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Die öffentliche Verwaltung gehört zu den wichtigsten und zugleich am wenigsten verstandenen Institutionen der Gegenwart. Warum handelt Verwaltung einerseits pedantisch und übergenau, eben bürokratisch, andererseits aber auch bemerkenswert flexibel und pragmatisch? Warum arbeitet sie meistens reibungslos und effektiv, bringt jedoch mitunter auch dramatische Fehlleistungen hervor? Wolfgang Seibel führt in Verwaltung verstehen in grundlegende Probleme öffentlicher Verwaltung ein und zeigt, wie sie in Theorie und Praxis bearbeitet werden. Sein flüssig geschriebenes und informatives Buch richtet sich nicht nur an Fachwissenschaftler, sondern an alle, die sich für das »Innenleben« dieser so wichtigen Institution interessieren.

<p>Wolfgang Seibel ist Professor f&uuml;r Politik und Verwaltungswissenschaft an der Universit&auml;t Konstanz.</p>

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Leseprobe

9Vorwort


Es fehlt in der Verwaltungswissenschaft an ethnographischen Studien nach dem Vorbild »dichter Beschreibungen«.[1] Gäbe es sie, würden sie vielleicht ähnlich wie die folgende Vignette beginnen.

In der Sprechstunde eines Amtsarztes im Gesundheitsamt einer kreisfreien Stadt erscheint eine krebskranke Zollinspektorin. Sie ist seit einem Dreivierteljahr krankgeschrieben, nun geht es nach Maßgabe der einschlägigen beamtenrechtlichen Regelungen um die Frage, ob sie ihren Beruf überhaupt noch ausüben kann, und das hängt von den Genesungsaussichten ab. Diese zu beurteilen, ist Aufgabe des Amtsarztes. Die Beamtin ist 36 Jahre alt, verheiratet und hat zwei grundschulpflichtige Kinder. Der Amtsarzt weiß, dass von Genesung keine Rede sein kann und die der Zollinspektorin verbleibende Lebenszeit nur noch wenige Monate beträgt. Die Attestierung der objektiv vorliegenden Berufsunfähigkeit allerdings wäre nicht nur eine weitere schwere psychische Belastung für die Frau, sie hätte auch zur Folge, dass die Dienstbezüge und nach ihrem Tod auch die Versorgungsleistungen für die Familienangehörigen gekürzt werden würden. Mehrfach bereits wurde der Amtsarzt von der Oberfinanzdirektion (OFD) als personalbewirtschaftender Stelle gemahnt, nun endlich sein Gutachten zu liefern. Nach der letzten Mahnung dieser Art greift der Arzt zum Telefon und schildert der zuständigen Referatsleiterin der OFD den tatsächlichen gesundheitlichen Zustand der Zollinspektorin, die sich daraus ergebende Konsequenz der Berufsunfähigkeit, vor allem aber seine Entscheidungsnot angesichts der Folgen einer amtlichen Berufsunfähigkeitserklärung. Die Referatsleiterin bittet sich Bedenkzeit aus und kündigt an, ihren Abteilungsleiter um Rat zu fragen. Dieser ruft noch am selben Tag zurück und macht folgenden Lösungsvorschlag: Der Amtsarzt möge der Oberfinanzdirektion schriftlich mitteilen, dass er zur Erstellung des Dienstfähigkeitsgutachtens über die erkrankte Zollinspektorin wegen Überlastung des Gesundheitsamts und speziell seines Sachgebiets derzeit nicht in der 10Lage und daher mit der Übersendung des Gutachtens erst in etwa vier Monaten zu rechnen sei. Sowohl dem Amtsarzt als auch dem Abteilungsleiter in der OFD ist klar, dass sich der Vorgang innerhalb dieser Zeit aus den erörterten medizinischen Gründen erledigen wird, und genau so kommt es auch.

Nicht nur jede Verwaltungspraktikerin und jeder Verwaltungspraktiker, sondern jede und jeder, der oder dem der gesunde Menschenverstand nicht abhandengekommen ist, versteht diese Geschichte. Nicht nur die Abläufe und das Entscheidungskalkül der Beteiligten, sondern auch den Pragmatismus und die Verwaltungsklugheit, die darin zum Ausdruck kommen. Man kann sich in die Gewissensnöte des Amtsarztes hineinversetzen, und man darf auch die souveräne Entscheidung des Abteilungsleiters bewundern, der aus humanitären Gründen veranlasst, dass die beiden beteiligten Behörden es mit den Buchstaben des Dienstrechts und mit den Verfahrensgrundsätzen einer effektiven Verwaltung nicht so genau nehmen.

Die Verwaltungswissenschaft aber hat viel größere Probleme mit der Interpretation eines solchen Vorgangs. Was soll man aus so einer einzelnen Fallgeschichte schon lernen können? Für empirisch arbeitende Verwaltungswissenschaftler, die an verallgemeinerungsfähigen Aussagen über die Verwaltung interessiert sind, hat ein Einzelfall bestenfalls illustrativen Charakter. Die mangelnde Verallgemeinerungsfähigkeit ist der Standardvorbehalt nicht nur gegenüber Einzelfallstudien, sondern auch gegenüber der ethnographischen Methode, die zudem auf exakte Beobachtung setzt und so keine beliebig große Zahl von Fällen in gleicher Genauigkeit untersuchen, daher aber auch nur bedingt, wenn überhaupt, verallgemeinerungsfähige Erkenntnisse zutage fördern kann. Entweder man entwickelt ein Tiefenverständnis von Strukturen und Situationen oder Handlungsabläufen, so die gängige Annahme, oder man strebt nach Erklärungen von möglichst hohem Abstraktionsgrad auf der Grundlage möglichst vieler Beobachtungen, die dann notwendigerweise nicht tiefschürfend sind.

Der Soziologe Hartmut Esser hat bereits vor einem Vierteljahrhundert verdeutlicht, wie unzureichend diese Standardannahmen sozialwissenschaftlicher Methodologie sind.[2] Verstehende und er11klärende Sozialwissenschaft schließen sich nicht nur nicht aus, sie können in eine komplementäre und somit fruchtbare Beziehung zueinander gesetzt werden. Voraussetzung ist, dass die verstehende Sozialwissenschaft nicht mit Theorieferne kokettiert und dass die Bemühungen um verallgemeinerungsfähige Erklärungen das Potenzial verstehender Beobachtung nicht ungenutzt lassen. In dieser eigentlich anzustrebenden, in der Forschungspraxis jedoch selten anzutreffenden Überlappung der jeweiligen Vorzüge von verstehender und erklärender Methode liegt die Herausforderung auch der Verwaltungswissenschaft.

Eine angemessene methodologische Problemlösungsstrategie ist auf einen angemessen kalibrierten Theoriezugriff angewiesen. Hierzu soll der vorliegende Band einen Beitrag leisten. Aus der oben wiedergegebenen »Geschichte« eines komplexen, aber alltäglichen Verwaltungsvorgangs lassen sich verallgemeinerungsfähige Schlüsse ziehen unter der Voraussetzung, dass man das spontane Verständnis, wie es die Verwaltungspraktikerin mitbringt, mit dem theoretischen Wissen des Verwaltungswissenschaftlers in Beziehung setzt. Davon haben dann im günstigen Fall beide etwas, Praxis und Wissenschaft.

So erkennt das theoretisch geschulte Auge im Verhalten des Amtsarztes und des Abteilungsleiters in der Oberfinanzdirektion ohne weiteres jene »brauchbare Illegalität«, von der bereits Niklas Luhmann in seiner unter den damaligen deutschen verwaltungswissenschaftlichen Verhältnissen bahnbrechenden Studie über Funktionen und Folgen formaler Organisation (1964) geschrieben hat.[3] Man sieht den latenten Schatten der Bürokratie, wie Max Weber sie in seinem posthum zusammengestellten Werk Wirtschaft und Gesellschaft (1922) idealtypisch charakterisiert hat.[4] Man sieht die Zone der Unsicherheit, die sich vor dem Abteilungsleiter auftut und deren Kontrolle Michel Crozier in seinem Klassiker Le phénomène bureaucratique (1963) als eigentliche Machtquelle in der Verwaltung beschrieben hat.[5] Man erkennt den Sinn für 12Verantwortung, der das Handeln und Unterlassen des Amtsarztes prägte, wenn man sich Carl J. Friedrichs Abhandlung »Public Policy and the Nature of Administrative Responsibility« von 1940 in Erinnerung ruft.[6] Beide, der Amtsarzt im Gesundheitsamt und der Abteilungsleiter in der Oberfinanzdirektion, lassen sich ferner in Anlehnung an Anthony Downs (Inside Bureaucracy, 1967) als hybride Rollenträger im Spannungsfeld aus Rechtsbindung, Amtsinteresse und Humanität interpretieren, die bereit waren, für Regelverletzungen geradezustehen,[7] weil sie sich, wie Philip Selznick es beschrieben hat (Leadership in Administration, 1957) nicht nur Zweckmäßigkeiten und Dienstvorschriften verpflichtet fühlten, sondern auch professionellen und institutionellen Grundwerten.[8]

Und schließlich hilft uns ein angemessenes theoretisches Verständnis dieses Vorgangs aus dem Alltag der Verwaltung auch, darüber nachzudenken, wo die Grenzen brauchbaren, aber nicht immer regelkonformen Entscheidens in der Verwaltung liegen, wo doch dessen Vorzüge von einer ganzen Denkschule der Verwaltungswissenschaft seit Jahrzehnten gepriesen werden. Gemeint ist das Theorem der begrenzten Rationalität (bounded rationality) auf der Grundlage und in der Nachfolge von Herbert A. Simon.[9] Nicht immer haben wir es in der Verwaltung mit erfahrenen, wohlwollenden und verantwortungsbewussten Menschen zu tun, sondern, wie auch sonst im Leben, mitunter mit bequemen, sich durchwurstelnden und im Regelfall opportunistischen Individuen.

Der vorliegende Band ist aus meiner langjährigen Lehre am Fachbereich Politik- und Verwaltungswissenschaft der Universität Konstanz entstanden, das ihm zugrundeliegende Konzept aber kam letztlich zustande durch umfangreiche Beobachtungen in und von öffentlichen Verwaltungen und zahllose Gespräche mit Verwaltungspraktikerinnen im Rahmen der von mir in unterschiedlichen 13Zusammenhängen durchgeführten Fallstudien. Ich danke daher an dieser Stelle meinen Studenten, insbesondere denjenigen meiner »Einführung in die Verwaltungswissenschaft«, auf deren Substanz der vorliegende Band zurückgeht, und meiner Fallstudienseminare. Ich danke meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die an der Entstehung des Bandes beteiligt waren, allen voran Angelika Dörr, die das gesamte Manuskript betreut hat, Simon Fechti, der das Literaturverzeichnis und das Register bearbeitete, sowie Annette Flowe, die immer wieder zur Stelle war, wenn es um Literaturbeschaffung und die Nachbearbeitung einzelner Manuskriptstellen ging. Ich danke sehr herzlich Jan-Erik Strasser, der das Buch durch ein ebenso fürsorgliches wie strenges Lektorat vor etlichen stilistischen und logischen Schwächen bewahrt hat.

Der Exzellenzcluster »Kulturelle Grundlagen von Integration« an der Universität Konstanz hat mir unschätzbare infrastrukturelle und intellektuelle Unterstützung zuteilwerden lassen. Das gilt insbesondere für die Förderung der verwaltungswissenschaftlichen Diskussionsrunde mit Arthur Benz, Christian Rosser und Fritz Sager und die Gewährung einer Heimstatt in der Kreuzlinger Seeburg. Ich danke diesen Freunden und Kollegen sehr herzlich für die vielen Anregungen und den kräftigen Motivationsschub. Danken möchte ich schließlich auch Markus Freitag, der...

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