Kapitel 1
Mein wahres und mein falsches Selbst
Als Babys und kleine Kinder waren wir noch im Einklang mit uns selbst. Wir waren einfach. Wenn wir Hunger hatten, schrien wir. Wenn uns jemand anlächelte, lächelte unser ganzes Sein zurück. Wenn sich die Mama entfernte und uns Angst überfiel, weinten wir. Alles – Leib, Seele, Denken (wie auch immer das bei Babys aussehen mag, wenn man noch nicht in Wörtern denkt) –, alles war eins. Wir waren ganz da, waren präsent.
Unsere Aufmerksamkeit war nicht gespalten; wir haben nicht die Mama angelächelt, während wir in Gedanken schon beim nächsten Programmpunkt waren, und gleichzeitig einen Turm mit Klötzchen gebaut. Nein, das gab es damals nicht. Entweder waren wir ganz beim Lächeln, mit den Augen bei der Mama oder dem Papa, oder wir waren in die Aktion Turmbauen vertieft. Wir waren eins mit uns selbst und lebten im Hier und Jetzt.
Im Laufe unserer Kindheit erfuhren wir dann mehr oder weniger stark, dass wir unser Verhalten an einen bestimmten Verhaltenskodex anpassen mussten. Wir erhielten den anerkennenden Blick der Mutter, wenn wir brav unseren Brei aßen, ohne groß zu matschen. Der Vater lobte uns, wenn wir es schafften, die Bauklötzchen aufeinanderzusetzen. Die Oma jubelte, als wir das erste Mal das Wort »Danke« sagten. Wir verstanden: Wenn ich amüsant oder lieb oder angepasst oder unauffällig oder besonders lustig bin (je nachdem, was in dem Familiensystem als »gut« galt), werde ich gelobt.
Das haben wir uns gemerkt. Und da wir ein angeborenes Bedürfnis nach Anerkennung und Geborgenheit haben, hat dieses Feedback unser Verhalten verstärkt: Wir haben es wiederholt. Es festigte sich und wurde in uns zu einer Haltung, die bis heute aktiv ist.
Oder aber unsere Strategie war eine ganz andere. Vielleicht war die Rolle des oder der Braven durch ein älteres Geschwisterteil schon besetzt. Deshalb rebellierten wir gegen das gewünschte Verhalten der Eltern: waren laut, statt leise. Wild, statt ruhig. Doch auch das bescherte uns das, was wir haben wollten: Aufmerksamkeit. Man schimpfte mit uns und versuchte, uns von unserem Verhalten abzubringen.
So läuft Erziehung ab, und das darf auch so sein. Dennoch bringt sie mit sich, dass wir aufhören, unverstellt im Hier und Jetzt zu reagieren, und zwar aufgrund dessen, wer wir wirklich sind und was zu uns passt. So verlassen wir nach und nach unser wahres Selbst. Wir alle sind im Verlauf unserer Kindheit aus unserem eigenen »Garten Eden« vertrieben worden. Das ist auf Erden einfach so. Wir leben nicht im Paradies, auch wenn die Kindheit noch so glücklich ist.
Wie intensiv wir diese »Vertreibung« erlebt haben, ist von verschiedenen Faktoren abhängig, unter anderem vom Verhalten der Eltern. War es ihnen möglich, uns in unserem »So-Sein« zu lieben bzw. ihre Liebe zu zeigen? Erlebten wir Wohlwollen, Annahme unserer Person, durften wir so sein, wie wir sind? Oder war Zuwendung häufig an »Liebsein« oder Anpassung oder gute Leistungen gebunden?
Für uns entscheidend war allerdings nicht nur das tatsächliche Verhalten der Eltern, sondern vor allem auch die Botschaft, die in unserem Herzen ankam. Wie haben wir das Verhalten unserer Eltern für uns »übersetzt«? »Ich bin wertvoll, wenn …«, »Ich gehöre dazu, wenn …«. Das wiederum hängt auch von unserer genetisch mitgegebenen eigenen Disposition ab, von unserer psychischen Robustheit bzw. Verletzlichkeit.
Und so haben wir uns alle im Verlauf unseres Lebens, insbesondere der Kindheit, Lebensmuster, Haltungen, Mottos und Antreiber angeeignet, die einen starken Einfluss darauf haben, wie wir unser Leben leben.
Wer ich eigentlich bin
Für mich wurde dieses Thema vor zehn Jahren in einer verhaltenstherapeutischen Fortbildung auf einmal sehr präsent. Wie vom Donner gerührt saß ich während einer Videovorführung da. Dabei wurde ein neunjähriger Junge, der an einer Angststörung litt, in einer Interaktion mit seinen Eltern gezeigt. Die Eltern sprachen ihn darauf an, am kommenden Tag zur Schule zu gehen. Die nächste Sekunde sahen wir in Zeitlupe. Der Junge schaute kurz auf den sorgenvollen Blick seiner Mutter, verzog sein Gesicht für den Bruchteil einer Sekunde zu einem Grinsen und setzte dann ein angstverzerrtes Gesicht auf. In der normalen Bandgeschwindigkeit bzw. während des Gesprächs war das nur für sehr geübte Therapeuten5 zu sehen.
Die Ausbilderin erklärte uns, dass dies eine »gewinngesteuerte« Angst sei, keine echte Angst. Der Junge habe im Laufe der letzten Jahre bemerkt, dass er die stärkste Zuwendung von seinen Eltern erhielt, wenn er Angst zeigte. Deshalb gab er vor, Angst zu haben, obwohl das gar nicht der Fall war.
Das, was von den Eltern massiv »belohnt« wurde, wurde also gefestigt. In der sich anschließenden Therapie wurden die Eltern angeleitet, diese Zuwendung zu entziehen und sie an anderer (gewollter) Stelle zu geben. Die Angststörung löste sich in Luft auf. Zwei Drittel aller Ängste seien gewinngesteuerte, also keine echten Ängste, erklärte uns die Therapeutin.
Diese Videosequenz löste Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend aus. Mir fielen Situationen ein, in denen ich gewusst hatte, dass ich etwas vorspielte, was nicht wirklich der Fall war. Während einer Kinderfreizeit hatte ich beispielsweise jede Nacht Angstträume und sprach im Schlaf, bis meine Lieblings-Mitarbeiterin zu mir kam, um mich zu trösten. Irgendwie wusste ich, dass ich log und etwas vortäuschte, dennoch änderte ich mein Verhalten nicht. Dafür schämte ich mich und ich fühlte mich schlecht. Immer wieder, auch noch als junge Ehefrau, zeigte ich ein Verhalten, das irgendwie nicht wirklich meiner gefühlten Realität entsprach, sondern absichtsbezogen war. Es sollte bei meinem Gegenüber ein gewünschtes Verhalten auslösen: Trost, Zuwendung, Mitleid.
Heute weiß ich, dass ich als Kind mit einem Mangel an Zuwendung und Aufmerksamkeit aufgewachsen bin und deshalb das tat, was jedes gesunde Kind tut: Es sucht nach Strategien, wie es doch noch an Liebe und Anerkennung kommen kann. Im Elternhaus sucht man nach einer Rolle, in der man vielleicht doch gelobt wird. Meine Strategie war mal die Leistung, mal die Anpassung, mal die Rebellion. Das Tragische daran war, dass ich aufhörte, aus mir heraus zu handeln. Aus meinem authentischen, wahren Selbst. Ich hörte auf, ich selbst zu sein. Dadurch wurde ich in meinem Sein verwirrt und verließ mein eigentliches Ich. Das führte dazu, dass ich als junge Frau oft gar nicht mehr wusste: Wer bin ich denn eigentlich? Was gehört zu mir und was nicht? Warum tue ich, was ich tue? Was mag ich überhaupt? Welche Stärken gehören wirklich zu mir? Ich kann mich auf unterschiedliche Situationen und Menschen einstellen und mich anpassen, aber was will ich wirklich, wer bin ich? Keine Ahnung.
Diese Muster beeinflussten alle meine Beziehungen, auch mein Verhältnis zu Gott. Immer, wenn ich meinte, Gott habe zu mir gesprochen, meldete sich eine Stimme in mir: »Ach, das bildest du dir ja bloß ein. Das stimmt doch gar nicht. Du lügst. Du trickst gerade mal wieder herum!« Ich konnte mir und meinen Glaubenserfahrungen nicht trauen.
Um an Gott zu glauben und uns auf unsere Erfahrungen mit ihm verlassen zu können, müssen wir Gott kennenlernen. Paulus schreibt: »Mein Wunsch ist es, Christus zu erkennen« (Philipper 3,10a; NLB). Ja, es geht um Christus, um Gott. Er ist der eine Pol unserer Beziehung. Gleichzeitig können wir nur dann eine starke Beziehung zu ihm aufbauen, wenn wir unserer selbst wieder teilhaftig werden. Wenn wir uns in der Tiefe wahrnehmen und spüren, was wirklich auf unserem Herzen ist. Wir müssen auch uns selber wieder glauben und vertrauen lernen. Wenn das nicht der Fall ist, kann unsere Gottesbeziehung nicht stark sein. Dann werden wir unsere Gotteserfahrungen immer wieder anzweifeln. Wir müssen spüren und wissen: Das gehört zu mir und das nicht. Solange das nicht der Fall ist, zeigen wir ein Verhalten, das nicht von unserem wirklichen Sein abgedeckt ist, das nicht mit unserem wahren Selbst übereinstimmt.
Wie sieht das konkret aus? Wir haben Seiten an uns entwickelt, die bei anderen gut ankommen. Wir sind extrem gastfreundlich, perfekt, unterhaltsam, spaßig, der Clown, kompetent, professionell, angepasst – oder wie auch immer die unbewusste Strategie unseres falschen Selbst aussieht. Mit zunehmendem Alter werden wir jedoch immer müder. Es kostet uns sehr viel Kraft, diese Anteile zu leben. Und das ist verständlich, weil sie nicht unserem wahren Selbst entsprechen, das mit dem Heiligen Geist als Kraftquelle in Verbindung steht. Weil sie nicht Teil des Menschen sind, den Gott sich gedacht hat, als er uns schuf.
Als ich begriff, dass es für meine geistliche und psychische Gesundheit elementar wichtig war, ehrlich und authentisch zu sein, begann ich, innezuhalten und mich zu fragen: Birgit, was willst du? Was bist tatsächlich du? Was spürst du gerade? Wenn es nach dir ginge, welche Meinung hättest du zu der Sache – bevor du weißt, was populär ist oder was Leute, die du bewunderst, für richtig erachten?
Dieses Innehalten fiel mir schwer. Ich spürte in mir starke »Menschenfurcht«, wie die Bibel es ausdrückt. Doch solange wir verleugnen, wer wir wirklich sind, werden wir keinen inneren Frieden, kein Wohlsein in Gott und keine Zufriedenheit mit uns selbst finden. Wir alle leben unser Leben mit einer Mischung aus dem, was ursprünglich tatsächlich und authentisch zu uns gehörte, und dem, was wir durch erlernte Lebensmuster und Mottos mit in unser Leben integriert haben,...