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E-Book

Victoria

AutorJürgen Lotz
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl160 Seiten
ISBN9783644533110
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Rowohlt E-Book Monographie Queen Victoria wurde einst als «Großmutter Europas» bezeichnet, und sie war das Symbol britischer Weltmachtgeltung wie eine Repräsentantin bürgerlicher Ordnung und Wohlfahrt. Doch zeigt die Analyse der fast 64 Jahre ihrer Regierung einen Menschen von höchst zwiespältiger Natur, dem es nie gelang, die stürmischen Entwicklungen seiner Zeit mit den eigenen Vorstellungen in Übereinstimmung zu bringen. Gleichwohl hat Victoria der englischen Monarchie nicht nur ihre Würde zurückgegeben, sondern deren Substanz unter veränderten Bedingungen neu befestigt. Diese kurze Biographie porträtiert Königin Victoria und würdigt ihre Lebensleistung vor dem Hintergrund der viktorianischen Epoche. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Jürgen Lotz, geboren 1944 bei Frankfurt a. M., arbeitete als Historiker und Politologe neunzehn Jahre für ein historisches Magazin, davon dreizehn als Chefredakteur, danach als freier Publizist. Er starb 2009. Er veröffentlichte in überregionalen Zeitungen und im Rundfunk musik- und kulturhistorische Beiträge, u. a. eine elfteilige Funkbiographie über Giacomo Puccini. Buchveröffentlichungen u. a.: «Obrigkeit und Untertan - Anmerkungen zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts» (1985), «Naturwunder und Kulturschätze» (12 Bde., 1997 f.), «Das große biographische Lexikon der Deutschen» (1999), «Faszination Weltgeschichte» (Bände «Menschen und Ideen» sowie «Literatur und Musik», 2004), «Meilensteine» (3 Bde., 2006); für rowohlts monographien die Bände «Frédéric Chopin» (1995) und «Victoria» (2000).

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Leseprobe

Jugend im Abseits


Wer hätte daran zweifeln wollen, dass die sieben überlebenden Söhne König Georges III. das Haus Hannover, das seit 1714 das britische Königreich und das Kurfürstentum Hannover (seit 1814 Königreich) in Personalunion regierte, großzügig mit legitimem Nachwuchs versorgen würden? Als aber im November 1817 die einzige Thronanwärterin in der Enkelgeneration, Prinzessin Charlotte, nach einer Totgeburt im Wochenbett starb, war die Dynastie für die weitere Erbfolge nicht mehr gerüstet. Von Charlottes Eltern, dem Thronfolgerpaar George und Karoline, neuerlich Nachwuchs erwarten zu wollen, war schon wegen des fortgeschrittenen Alters der Princess of Wales aussichtslos, abgesehen davon, dass diese Ehe seit Jahr und Tag einem hasserfüllt umkämpften Kriegsschauplatz glich. Die Ehen der Herzöge Frederick von York und Ernest von Cumberland waren kinderlos, und August von Sussex hatte zweimal unstandesgemäß geheiratet. Die Herzöge William von Clarence, Edward von Kent und Adolph von Cambridge indessen dachten an keine legitime Bindung – was nicht hieß, dass man sich die Annehmlichkeiten einer eheähnlichen Gemeinschaft versagt hätte. Im Parlament von Westminster war man freilich nicht mehr bereit, die ungeordneten Verhältnisse der Herren Junggesellen hinzunehmen. Es war an der Zeit, dass sie endlich für ihre Apanagen eine Gegenleistung erbrachten, standesgemäß heirateten und ihren dynastischen Zeugungspflichten nachkamen. Während sich August von Sussex in seinem gewohnten Lebensrhythmus nicht stören ließ, entwickelten William, Edward und Adolph, nicht zuletzt von der Aussicht auf eine Erhöhung der staatlichen Dotationen inspiriert, plötzlich allen Ehrgeiz, der parlamentarischen Aufforderung zu genügen. Alle drei standen im selben Jahr, 1818, vorm Traualtar, alle drei wurden im Jahr darauf Vater eines legitimen Kindes, sodass man hätte glauben können, die schon etwas ältlichen Ehemänner hätten sich auf einen Zeugungswettbewerb eingelassen. Am 26. März 1819 kam die Herzogin Augusta von Cambridge in Hannover mit einem Knaben namens Georg nieder, am folgenden Tage, ebenfalls in Hannover, die Herzogin Adelaide von Clarence mit einer Tochter, die nach wenigen Stunden jedoch starb, und am 24. Mai 1819 in London die Herzogin Viktoria von Kent mit einer Tochter, die auf den Namen Alexandrina Victoria getauft wurde. Dass drei Tage später dem bislang kinderlosen Herzogspaar Cumberland in Berlin ein Sohn, der spätere König Georg V. von Hannover, geboren wurde, vervollständigte die Liste der Zeugungserfolge im Hause Hannover. So rangierte nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge in der Enkel-Thronfolge die Kent-Tochter Alexandrina Victoria vor dem Cumberland- und dem Cambridge-Sohn. Doch nichts war entschieden. Sollte William von Clarence, Edwards älterer Bruder, noch einmal Vater werden, dann würde Alexandrina Victoria auf den zweiten Platz verwiesen werden; und nicht anders wäre die Konstellation für das Mädchen, wenn Clarence ohne Erben bliebe, die Kents aber noch einen Sohn bekämen.

 

Liebe als Sinnerfüllung einer Ehe ist ein zutiefst romantischer Gedanke, der mit den traditionellen Fürstenverbindungen nichts gemein hat. Dort ging es um dynastische, politische und materielle Interessen, die die Ehe als reine Zweckgemeinschaft auswiesen. Entsprechend gefühlsneutral begegneten sich auch die verwitwete Prinzessin Viktoria Marie Louise zu Leiningen, Tochter des Herzogs Franz von Sachsen-Coburg-Saalfeld, und ihr englischer Bräutigam Herzog Edward von Kent, der vierte Sohn König Georges III. Dessen Geisteskrankheit war mittlerweile derart manifest geworden, dass der Prince of Wales ihn ab 1811 als Prinzregent auf dem Thron vertreten musste.

Was die materiellen Erwartungen der Kent-Heirat betraf, ließ sich kein größeres Missverständnis denken. Falls die junge, verarmte Witwe des Fürsten Emich Karl zu Leiningen, dessen lächerlich winziges Ländchen in den napoleonischen Kriegen verwüstet worden war, geglaubt haben sollte, die englische Neuvermählung garantiere ihr und ihren beiden Kindern Karl und Feodora eine gut situierte Existenz, so sah sie sich gründlich getäuscht. Edward von Kent brachte als Morgengabe einen gewaltigen Schuldenberg von 200000 £ in die Ehe ein. Viktoria sah sich zwar standesgemäß verheiratet, doch finanziell kam sie vom Regen in die Traufe. Und so blieben vom Glanz des Standes nur matte Flecken, was Kent dadurch zu kaschieren versuchte, dass er Ehe und Vaterschaft als patriotische Pflichterfüllung feierte, die die dankbare Nation gefälligst in Pfund und Shilling zu honorieren habe. Doch selbst die Erhöhung der Apanage auf 30000 £ jährlich reichte bei weitem nicht aus, um in das finanzielle Chaos Ordnung zu bringen. (Erst Königin Victoria vermochte die Schulden des Vaters zu begleichen.) Dass sich der Herzog überhaupt über Wasser halten konnte, hatte er nur einem einflussreichen Freundeskreis von Whigs zu verdanken, deren politischen Liberalismus er teilte – was in jenen Jahren für ein Mitglied des Königshauses durchaus ungewöhnlich war.

Würde man Edward von Kent mit bürgerlichen Maßstäben messen, müsste man ihn eine verkrachte Existenz nennen. Bereits im Alter von 35 Jahren hatte seine Militärkarriere ein unrühmliches Ende gefunden. Das Strafgericht, das er über eine meuternde Garnison auf Gibraltar verhängt hatte, muss derart brutal und unmenschlich gewesen sein, dass selbst der eigene Bruder, der Herzog von York, als Oberkommandierender der Streitkräfte die Verabschiedung nicht hatte verhindern können. Der korpulente, glatzköpfige, zum Jähzorn neigende Fürst war eine schizophrene Persönlichkeit von exzessiver Sturheit. Als Soldat ließ er Gehorsam durch Grausamkeit einprügeln und schreckte auch vor sadistischen «Späßen» nicht zurück, wenn er beispielsweise Todeskandidaten erst unter dem Galgen begnadigte; als Privatmann pflegte er musische und literarische Interessen und präsentierte sich als Jünger der Aufklärung. Derselbe Mann, der seine Untergebenen exzessiv schindete, setzte sich für die Abschaffung der Sklaverei und die Emanzipation der Katholiken ein und unterhielt intensive Kontakte zu dem Frühsozialisten Robert Owen.

Kent war lebhaft davon überzeugt, dass seine große Stunde erst kommen werde. Standen die Zeichen nicht günstig? Sein greiser Vater vegetierte schattenhaft dahin; den Prinzregenten verachtete der Whig-Anhänger als dekadenten Lebemann, der seine Gesundheit ruinierte und den er genauso zu überleben hoffte wie Bruder William, den Herzog von Clarence, den er als vorzeitig gealtertes geistiges Leichtgewicht einschätzte. Edward, Herzog von Kent, sah sich also als künftigen Herrscher im Vereinigten Königreich – und wenn nicht er selbst den Thron besteigen würde, dann, daran war nicht zu zweifeln, seine Tochter Drina. Die Erinnerung an die Taufzeremonie aber trieb immer noch die Zornesröte ins Gesicht. Unvergesslich blieb das Verhalten des verhassten Prinzregenten, der als Oberhaupt der Dynastie vor dem Altar den von den Eltern gewünschten Vornamen Elisabeth verweigert und eine Alexandrina dekretiert hatte, nur weil der russische Zar Alexander I. formell die Patenschaft übernommen hatte; und mit welch gnädiger Herablassung er den zweiten Vornamen Victoria, den Namen der Mutter, zugestanden hatte, kam einer Beleidigung gleich. «Nehmt sie in Acht, denn sie wird Königin von England»[5] wurde zur stehenden Redewendung des stolzen Vaters.

Die Rücksichtnahme, die Kent für die künftige Herrscherin forderte, war ihrer Mutter acht Wochen vor der Niederkunft versagt geblieben. Nach der Hochzeit hatte das Herzogspaar aus Sparsamkeitsgründen das hauptstädtische London mit dem provinzdüsteren Amorbach vertauschen müssen. Als Viktoria jedoch schwanger wurde, bestand Edward, koste es, was es wolle, auf der Rückkehr nach London, da das erwartete Kind natürlich als Engländer geboren werden sollte. Die Göttinger Gynäkologin Dr. Charlotte Siebold half der Hochschwangeren, die Strapazen der vierwöchigen Kutschfahrt zu bewältigen.

Bald nach der Geburt, die Mutter und Tochter am 24. Mai 1819 in Kensington Palace gut überstanden hatten, kehrte die Ärztin nach Deutschland zurück, um auch die Gattin des Herzogs von Sachsen-Coburg-Saalfeld bei der Niederkunft zu betreuen. Am 26. August 1819 brachte Prinzessin Luise auf Schloß Rosenau ihren zweiten Sohn zur Welt, der auf die Namen Albert Franz August Karl Emanuel getauft wurde. Dereinst sollten die Lebenswege der beiden Kinder planmäßig zusammengeführt werden. Als sich die jungen Leute schließlich begegneten, hatten sie, jeder auf seine Weise, eine für ihre seelische Entwicklung wichtige Erfahrung gemacht: Victoria den Verlust des Vaters, der, trotz seiner angeblich robusten Gesundheit, acht Monate nach ihrer Geburt an den Folgen einer Lungenentzündung mit 52 Jahren verstorben war; Albert den Verlust der Mutter, die nach einer unglücklichen Ehe und demütigender Scheidung den Fünfjährigen und seinen älteren Bruder am Coburger Hof hatte zurücklassen müssen und im Alter von 31 Jahren in Paris einem Krebsleiden erlegen war.

Als Kent starb, lehnte es der Prinzregent, der gerade als George IV. den Thron bestiegen hatte, kategorisch ab, die kleine Familie seines Bruders mit mehr als 300 £ finanziell zu unterstützen. Sollte die ungeliebte Schwägerin mit ihrer Brut doch ins odenwäldische Amorbach zurückkehren, wo sie hingehörte. Doch die kleine, dralle, lebenstüchtig-kämpferische Person dachte keine Sekunde daran, dem Druck des Schwagers nachzugeben. Ihre Entscheidung war unmissverständlich: Drina sollte in dem Land...

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