1Vorhang auf!
»Video killed the radio star« haben The Buggles in den 1980ern gesungen. Was damals auf das Musikfernsehen bezogen war, ist heute aktueller denn je. »Broadcast yourself« ist dank YouTube angesagt: Kommen Sie mit Videos groß raus!
Wenn ich Ihnen von jemandem erzähle, der während der Fahrt die Räder seines Autos wechseln kann, würden Sie mir das glauben? Vermutlich nicht. Die Geschichte klingt einfach zu absurd, als dass man sie sich vorstellen kann. Aber wie wäre es, wenn ich Ihnen ein Video davon zeige? Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden Sie es jetzt sehen wollen, um sich zu überzeugen. Zugegebenermaßen habe ich noch nie jemanden in der Realität erlebt, der während der Fahrt seine Räder wechseln kann, aber das Video dazu existiert tatsächlich. Wenn Sie es anschauen, werden Sie davon überzeugt sein, dass es Menschen gibt, die die verrücktesten Dinge schaffen. Sie finden das Video unter youtu.be/MQm5BnhTBEQ.
Wir bevorzugen Videos gegenüber Fotografien und erst Recht gegenüber Erzählungen und Texten. Ein Augenzeuge kann viel erzählen, und jeder erlebt das Geschehen anders. Von Fotografien wissen wir, dass sie sich leicht manipulieren lassen und nur eine Momentaufnahme darstellen. Videos aber wirken auf uns immer noch am authentischsten. Sie bestehen aus Bildern und Tönen zugleich und ermöglichen uns so, die Eindrücke von zwei der für uns wichtigsten Sinnesorgane zur Beurteilung heranzuziehen. Wir nehmen Bewegungsabläufe wahr, und es fällt uns leichter, Emotionen zu erkennen. Eine glaubwürdige Manipulation erscheint uns als nicht so einfach, und wir gehen davon aus, dass wir sie zumindest leicht als eine solche identifizieren können.
Video ist also ein lohnenswertes Medium, um Botschaften zu vermitteln. Es ist eines der authentischsten Medien und genießt eine hohe Glaubwürdigkeit. Nicht umsonst ist der Videomarkt ein Wachstumsmarkt, und immer mehr Menschen wollen immer mehr Videos sehen. Die große Verfügbarkeit von Breitband-Internetverbindungen hat dabei den Umgang mit Videos grundlegend verändert und bedient das Bedürfnis nach individuellem und ortsunabhängigem Bewegtbildkonsum.
1.1YouTube – bewegte Bilder im 21. Jahrhundert
Kennen Sie noch Fernseher? Nein, ich spreche nicht von diesen flachen, riesigen Bildschirmen, die heute in den meisten Wohnzimmern stehen. Ich meine die klobigen Kisten, mit denen man im vorigen Jahrhundert Fernsehen empfangen konnte. Mit ihrer Hilfe bestimmten große Sendeanstalten über Jahrzehnte das Abendprogramm ganzer Familien und lieferten bewegte Bilder direkt in die heimischen Wohnzimmer. Für viele Menschen ist diese Zeit vorbei. Stattdessen ist das Internet das Medium des 21. Jahrhunderts und mit ihm die Plattform YouTube für Videos.
Musste man bisher zu festen Sendezeiten zu Hause vor dem Fernseher sitzen, ermöglicht YouTube heutzutage den gezielten Videoabruf – jederzeit und überall auf der Welt. Die Videos müssen nicht linear an einem Stück angesehen werden, und sollte sich mal eines als uninteressant herausstellen, stehen Millionen weitere Videos zum Abruf bereit. Computer, Tablets, Smartphones und Smart-TVs dienen als Anzeigegeräte – je nach Nutzungssituation kann sich der Zuschauer frei für eines der Endgeräte entscheiden. Und dank der großen Verfügbarkeit entsprechender Geräte fällt der Konsum individueller aus als je zuvor.
Doch nicht nur das: Jeder Mensch kann selbst zum Produzenten werden und seine eigenen Videos einem riesigen Publikum präsentieren. Er kann andere Menschen zum Lachen bringen, auf Probleme aufmerksam machen oder berühmt werden. Es bedarf nicht mehr zwangsläufig großer Presseagenturen, Verlage und Produktionsfirmen, um Informationen aufzubereiten und zur Verfügung zu stellen. Ein Smartphone mit einer Internetverbindung reicht aus, um eigene Videos auf YouTube hochzuladen. Aber wie hat das eigentlich alles angefangen?
1.1.1Wie alles begann
Es war ein Valentinstag: Am 14. Februar 2005 registrierten Chad Hurley, Steve Chen und Jawed Karim die Domain »YouTube.com«. Die drei Gründer der gleichnamigen Videoplattform hatten sich zuvor als frühe Mitarbeiter von PayPal kennengelernt und sich im Januar 2005 zusammengesetzt, um an einer neuen Videoplattform zu arbeiten. Wie viele andere Gründer wurden sie dabei inspiriert von der Plattform HotOrNot, einer Website zum Bewerten der Attraktivität anderer Nutzer. HotOrNot war eine der ersten Internetseiten, die zum Mitmachen einlud und damit zum Vorreiter in Sachen User-generated Content wurde. Auch YouTube sollte eine solche Mitmach-Plattform werden und die Veröffentlichung selbst gedrehter Videos ermöglichen.
Das erste auf YouTube veröffentlichte Video war genau solch ein selbst gedrehtes Video. Es trägt den Titel »Me at the zoo« und zeigt in 19 Sekunden einen der YouTube-Gründer, Jawed Karim, vor einem Elefantengehege im Zoo. Kurze Zeit später platzte YouTube aus allen Nähten, und ein großer Teil des Kapitals wurde in den Ausbau der Server und Speicherkapazitäten investiert, bis die Plattform am 9. Oktober 2006 von Google für über 1,5 Milliarden US$ gekauft wurde und von da an ein finanzstarker Konzern hinter dem aufstrebenden YouTube stand.
Mit dieser Übernahme war die Popularität nun kaum noch aufzuhalten, und die Nutzerzahlen stiegen rapide an. Bereits kurz vor der Übernahme wurden täglich ca. 65.000 Videos hochgeladen. Ab 2007 begann YouTube mit der jährlichen Nominierung der besten YouTube-Videos und startete um den Jahresanfang 2012 mit 100 sogenannten Original-Channels. Damit begann die finanzielle Beteiligung erfolgreicher Kanäle an den Werbeeinnahmen, und die geförderten Kanäle können sich seitdem voll und ganz auf die Produktion der Inhalte konzentrieren.
Auf seinem Weg zum größten Portal für Internetvideos konnte YouTube mit einigen gigantischen Zahlen beeindrucken: Im Oktober 2009 verzeichnete YouTube jeden Tag über 1 Milliarde Videoabrufe – im Mai 2010 waren es bereits 2 Milliarden. Im Dezember 2012 knackte das Musikvideo zu »Gangnam Style« die magische Grenze von 1 Milliarde Videoabrufe, um schließlich im Dezember 2014 als erstes Video mit über 2,1 Milliarden Views den YouTube-Zähler vorübergehend lahmzulegen. Im Jahr 2015 hat YouTube über 1 Milliarde Nutzer, es werden pro Minute 300 Stunden Videomaterial auf YouTube hochgeladen, und laut Variety.com sind bekannte YouTube-Stars in den USA beliebter als andere berühmte Persönlichkeiten.
YouTube ist damit die Nummer eins im Onlinevideomarkt. Aber Facebook, Twitter und Instagram ziehen mit eigenen Videofunktionen nach und wollen ein Stück vom großen Kuchen abhaben. Und dann gibt es noch Snapchat, das ohnehin fast nur aus kurzen Videos besteht. Ganz zu schweigen von den vielen Anbietern, die ihre Inhalte auf eigenen Plattformen veröffentlichen. Trotzdem hat YouTube einen entscheidenden Vorteil: Es bietet mit seinen Kanälen und der vollen Ausrichtung auf Videos einzigartige Möglichkeiten für jedermann, Zuschauer langfristig zu binden und sie für Inhalte zu gewinnen, die länger als einige Sekunden dauern. Dabei stellt YouTube nur die Plattform zur Verfügung, beteiligt die Kanäle an den Werbeeinnahmen und kümmert sich darum, dass die hochgeladenen Videos und interessierte Nutzer bestmöglich zueinanderfinden.
1.1.2Die Bewegtbildlandschaft im Wandel
Machen wir einen Ausflug in die Bewegtbildlandschaft Deutschlands. Wer im vergangenen Jahrhundert bewegte Bilder sehen wollte, hatte genau zwei Möglichkeiten: Kino oder Fernsehen. Während das Kino mit festen Programmplänen arbeitet, ist der Fernsehzuschauer an die Programmpläne der Sender gebunden. Das Abendprogramm frei entscheiden konnte nur, wer Sendungen zuvor aufgezeichnet oder Filme auf DVD erworben hatte. Die Rekorder ermöglichten dabei zwar die Aufzeichnung beliebiger Sendungen, doch erst mit dem Internet und der hohen Verfügbarkeit von Breitbandverbindungen ist der Zuschauer in seinem Bewegtbildkonsum völlig unabhängig von Zeit und Ort geworden.
Im Rahmen dieser Entwicklung hat sich die Bewegtbildlandschaft massiv verändert, und die Geschäftsmodelle haben sich an die veränderten Bedingungen angepasst. In Abbildung 1.1 sehen Sie in einer in Anlehnung an eine von Alexander Henschel auf den Audiovisual Media Days 2014 präsentierten Übersicht die Geschäftsmodelle mit Beispielen des deutschen Markts. Funktional lassen sich drei Empfangswege beschreiben: lineares Fernsehen, lineares Over-the-Top (OTT) und non-lineares OTT.
[+]Over-the-Top (OTT)
Over-the-Top bezeichnet die Übertragung der audiovisuellen Inhalte über das Internet, wobei der Internetprovider keinen Einfluss auf die Content-Provider und deren Inhalte ausübt, sondern dem Endnutzer lediglich eine generelle Internetverbindung zur Verfügung stellt. Für die Internetverbindung zahlt der Zuschauer einen fixen Betrag an den Internetprovider (beispielsweise an die Deutsche Telekom), um Zugang zu erhalten. Content-Provider wie YouTube, der TV-Streamingdienst Zattoo oder Netflix wiederum bieten als Plattform den Zugang zu den gewünschten Inhalten und bauen auf eigenständigen Finanzierungsmodellen auf.
Die Finanzierung im linearen TV ist mittlerweile ein alter Hut. Für lineares und non-lineares OTT wurden die Geschäftsmodelle allerdings...