Völkermord im „Land der tausend Hügel“
- Auf den Spuren des Genozids - Eine Woche in Ruanda von Gabriel Vockel
”(…) wars are part of us. We live in wars, and wars live in us. And the absence of wars will denote nothing other than the non-existence of the human mind or humankind itself. This is in fact an agonising truth and a tragic reality, all wishes to the contrary notwithstanding.“ Cajetan Banseka Lukong (in „Wars of the 21 st Century“)
Wir schleusen uns durch ein Gewirr von Hütten und Häusern, Fußgängern und kleinen Marktständen, die scheinbar ungeordnet durcheinander wimmeln. Dann taucht plötzlich das Gebäude des UN-Tribunals auf - hier in der ruandischen Hauptstadt Kigali ist ein Teil der Staatsanwaltschaft des Gerichts untergebracht. Der neben der blauen Flagge der Weltorganisation postierte Security-Officer begrüsst uns freudestrahlend und verkündet breit grinsend: „Welcome to Kigali, it’s not a bad place to stay“... Nach kurzem Geldwechsel auf dem Schwarzmarkt besteige ich im Innenhof des ICTR auch schon einen der zwei grossen starken weißen Jeeps, die mit den drei Übersetzern sowie zwei weiteren Praktikanten und den Staatsanwältinnen aus Nigeria und Sierra Leone voll besetzt sind. Ziel der Fahrt ist die im Süden des Landes gelegene Stadt Butare 1 , der zweitgrößten Stadt des Landes. Je weiter wir uns vom Zentrum der Hauptstadt entfernen, desto ländlicher wird die Gegend. Auf allen Seiten erheben sich kleine und grössere Hügel, die meist mit einfachen, roten, strohgedeckten Lehmhütten vollgestopft sind. Am Rande der Strasse sehen wir viele Leute mit schweren Gewichten auf dem Kopf unterwegs. Oft überholen wir auch Radfahrer, die einen Kleiderschrank oder sonstige Lasten herumschleppen. Die vielen Behausungen, Märkte und Menschengruppen, die hier und da gemeinsam des Weges ziehen, rufen in Erinnerung, dass Ruanda eine der höchsten Bevölkerungsdichten im Reigen der afrikanischen Länder aufweist... Ca. 12.000 km Strassen gibt es in diesem Land - davon sind ca. 1000 km asphaltiert, wovon wir heute vielleicht 200 befahren werden. Die Hänge stehen voll mit grossen Bananenstauden, ab und zu mischt sich auch eine niedrigere Kaffeeplantage dazwischen. Wir überqueren einen Fluß, an dem gerade einige Frauen Wasser in Kanister schöpfen, um sie dann vermutlich in ihr nahegelegenes Dorf hinter dem nächsten Berg zu schleppen. Unser Fahrer hupt mal wieder einen Fahrradfahrer von der Fahrbahn und weicht fast zu spät einem mit Bananen überbeladenen Toyota-Pickup aus. Wir gelangen nach Bishenyi und Musambira, wo das rostige Schild am Straßenrand auf eine UNHCR-Station aufmerksam macht. Eine Gruppe von Jugendlichen sitzt lachend in einem von großkalibrigen Schüssen durchlöcherten und ausgebrannten VW-Bulli. Etwa auf der Höhe von Karengera steigt Rauch aus dem Tal, der von einer Kochstelle stammt. Ich erspähe tief dort unten eine größere Anzahl von Lehmhütten, die jeweils um einen kleinen Brunnen stehen. Am Rande des Dorfes führt ein kleiner Bach vorbei... vielleicht wurden auch in diesen einige zerstückelte Tutsis geworfen... vom grossen „Lake Kivu“ im Westen des Landes wird erzählt, dass er drohte, biologisch umzukippen, da die etwa 40.000 Leichen, die in diesen geworfen oder durch Flüsse herangeschwemmt wurden, ein unerwartetes Nahrungsüberangebot für Tier- und Pflanzenwelt verursacht habe... Die unglaubliche Idylle, dieses saftige Grün, die hübsche Flora passen wohl in die Hochglanzkataloge von Reisebüros über Kenia und Tansania, aber nicht zu dem, was hier nur einige hundert Meilen westlich davon geschehen ist.
Kurz erinnere ich mich der historischen Daten und Fakten: Hutus und Tutsis sprechen dieselbe Sprache, Kinyrwanda. Sie hängen den gleichen Religionen an, heiraten des öfteren untereinander und leben gemischt in den Dorfgemeinschaften - seit langem - schon lange bevor die ersten deutschen und dann belgischen Kolonialherren nach Zentral-Ostafrika kamen. Hutus waren wie die meisten Bantus seit jeher Bauern gewesen, Tutsis demgegenüber Hirten, ein wenig vergleichbar mit den heute vor allem in Tansania und Kenia lebenden Massai. Dies war die alte Ungleichheit, da in der afrikanischen Tradition Tiere als ein wertvolleres Gut als die Früchte des Ackerbaus angesehen werden. Nach und nach wurde das Wort „Tutsi“ dann synonym mit der politischen und wirtschaftlichen Elite des Landes. Seit historischen Zeiten gab es bisweilen kriegerisch ausgetragenen Streit zwischen den beiden Gruppen, teils mit ethno-sozialem Hintergrund, teils mit politischem - dem des Ringens um die Macht. 1959, drei Jahre bevor am 1.Juli 1962 auf Drängen der UNO die Verwaltung
Ruandas durch die ehemalige Kolonialmacht Belgien als UN-Treuhandgebiet endete und das Land in die Unabhängigkeit entlassen wurde, gelangte die Mehrheit der Hutus an die Herrschaft, nachdem bislang die etwa 14 % ausmachende Tutsi-Minorität die herrschende „Kaste“ dargestellt hatte.
Unter anderem deshalb, weil sich die von den ehemaligen Kolonialherren unterstützen „reicheren“ Tutsis zuvor die Machtpositionen des Landes für längere Zeit mit oft brutalen Mitteln gesichert hatten, war nun der Wille der Hutus, ihre nun erlangte Position mit allen Mitteln zu konsolidieren, erbitterter denn je. Während der nächsten Jahre wurden im Zuge des sich nun in mehreren Gewaltwellen tragisch entladenden, aufgestauten Hasses zwischen den ethnischen Gruppen bereits etwa 200.000 Tutsis getötet and geschätzte weitere 150.000 ins Exil getrieben. Deren Kinder sollten später vor allem in Uganda und dem Osten des Kongos (ehemaliges Zaire) die berühmte sog. „Rwandan Patriotic Front“ (RPF), die weithin gefürchtete, extrem disziplinierte Exilarmee der Tutsis, gründen. Zur gleichen Zeit suchten riesige Trecks von Hutugruppen, die in unmittelbarer Nähe des benachbarten und eng mit Ruanda verknüpften Burundi wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit erbittert von Tutsis verfolgt und in bis in die ungezählten Tausende gehende Zahl getötet wurden, in Ruanda Zuflucht. Besonders gebeutelt und verfolgt wurden gerade die Angehörigen der Hutu-Schicht, die sich einen gewissen Bildungsstandard sowie eine relative Prosperität erarbeitetet hatten. In von Historikern bisweilen „Eliticide“ genannten „Säuberungsaktionen“ wurden in Burundi seit etwa 1960 die sog. „Schlipsträger“ sowie Absolventen des Abiturs unter den Hutus seitens der Tutsis auf sog. schwarzen Listen geführt und zahllos liquidiert. Die (ethnischen) Wirren, die das Land immer wieder verursacht durch beide ethnischen Protagonisten erschütterten, mündeten 1990 schließlich in einen spätestens jetzt stetig zu nennenden Bürgerkrieg, während dessen die Hutu-Regierung und andere Kräfte der Bevölkerungsmehrheit durch politische und soziale Propaganda eine immer Tutsi-feindlichere Haltung der Bevölkerungsmajorität forcierten. Zur „etwaigen Verteidigung gegen den gemeinsamen Feind“ wurden nach und nach u.a. Sportvereine sowie Jugendgruppen mit Macheten oder Knüppeln ausgestattet und mit einer Art Kampfausbildung versehen. Diese späteren Killertruppen, welche mit der euphemistischen Terminologie „Interahamwe“ belegt wurden, was auf Kinyarwanda „die, die zusammen arbeiten“ bedeutet, sollten dann 1994 mit besonders gewissenhafter Gründlichkeit den Genozid ausführen.
Eine heftige Bodenwelle aus Staub ruft mich zurück in die Gegenwart. Die nächste Kette von Serpentinen führt uns kurvenreich nach Gitarama, wo am Ortseingang das von Schüssen durchlöcherte Schild auf die ehemalige Existenz einer Station des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz erinnert. Am Straßenrand liegen einige Männer im Gras, die den Klängen eines Radios lauschen. Ich frage mich, wo diese wohl etwa 35jährigen vor ca. acht Jahren waren... Wo waren sie, nachdem am 6. April 1994 mit dem Absturz eines Flugzeuges mit den Präsidenten von Ruanda und Burundi (Juvénal Habyarimana und Cyprien Ntaryamira) an Bord in der Nähe des Flughafens von Kigali - angeblich ein nie bewiesenes Attentat - der Startschuss für die dreimonatige „Säuberung des Landes von den Feinden“ erfolgte? Gehörten auch sie zu einem Anteil der etwa 85 % ausmachenden Hutu-Bevölkerung, die der Propaganda des Radiosenders „Radio Télévision des Milles Collines“ (RTML) sowie Politikern, Militär und teilweise sogar Geistlichen lauschte, dann zu den Macheten griff und ihre Nachbarn, Klienten, Patienten oder teilweise sogar die eigenen Tutsi-Familienmitglieder und moderate Hutus ermordeten, bis die u.a. von westlichen Ländern mit modernen Waffen ausgerüstete Tutsi-Rebellenarmee RPF das Land schließlich nach drei Monaten unter ihre Kontrolle brachte? Damals wurden zuvor sorgfältig angefertigte Listen über die Anzahl der jeweiligen Tutsis im Dorf benutzt, nach der vorgegangen wurde. So konnte man einfacher und effizienter vorgehen. Morden war Tagesordnung. Die Devise lautete: „Pas de témoins“ - keine Zeugen dürfen überleben !
Ich versuche mir einzureden, dass ich die Dinge gerade überspitzt darstelle, in Wirklichkeit war es leider aber wohl eher noch schlimmer... In dem Buch des amerikanischen Journalisten
Philip Gourevitch mit dem bezeichnenden Titel: „We wish to inform you that tomorrow...